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„Das Gerät, das ich Ihnen gerade implantiert habe, kontrolliert nicht nur Ihre Zwangsstörung; es kontrolliert alle Ihre Entscheidungen, dank unseres Hauptkontrollsystems, das per Funkkontakt mit Ihrem Mikrochip 24 Stunden am Tag kommuniziert. Mit anderen Worten, ich habe Ihren bewussten Willen ausgeschaltet; Ihr Gefühl, einen freien Willen zu haben, wird fortan eine Illusion sein.“
Tatsächlich hatte sie nichts dergleichen getan; es war lediglich eine Lüge, die sie ihm erzählte, um zu sehen, was passieren würde. Es funktionierte; der arme Geselle ging hinaus in die Welt, davon überzeugt, kein verantwortlicher Akteur, sondern bloß eine Marionette zu sein, und sein Verhalten begann dies zu belegen: Er wurde verantwortungslos, aggressiv, nachlässig, ließ seinen schlimmsten Launen freien Lauf, bis er gefasst und vor Gericht gestellt wurde. In seiner eigenen Verteidigung beteuerte er leidenschaftlich seine fehlende Verantwortlichkeit aufgrund des Implantats in seinem Gehirn: „Meine Neurochirurgin hat mich darüber informiert, dass sie von nun an all meine Gedanken kontrolliert.“ Die Neurochirurgin gab im Zeugenstand zu, diese Dinge gesagt zu haben: „Aber ich habe ihn nur ein bisschen durcheinanderbringen wollen – ein Schabernack, das ist alles. Ich habe nie gedacht, dass er mir glauben würde!“
An diesem Punkt könnte unsere Geschichte verschiedene Richtungen einschlagen. Der Richter könnte die Vorwürfe gegen den Angeklagten fallenlassen, die Aussage der Neurochirurgin anzweifeln und sie wegen Meineids anklagen oder erklären, dass sich die Frage der Verantwortung in diesem Falle nach dem Gesetz nicht aufklären lasse. Aber wie auch immer das Gericht Milderung oder Entlastung bemessen wird – wir können uns wohl darauf einigen, dass die Neurochirurgin das Leben ihres Patienten durch ihre unüberlegte Äußerung ruiniert, ihn seiner Integrität beraubt und seine Kraft, Entscheidungen zu fällen, gelähmt hat. In Wirklichkeit hat die falsche Nachbesprechung mit ihrem Patienten nichtchirurgisch genau das erreicht, was sie mit Hilfe des Eingriffs erreichen wollte: Sie hat ihn als moralischen Akteur unfähig gemacht. Aber wenn sie für diese schlimme Konsequenz verantwortlich wäre, besteht dann nicht die Gefahr, dass die Neurowissenschaftler, die derzeit mit Behauptungen die Medien füllen, ihre Forschungen belegten, dass der freie Wille eine Illusion sei, denselben Schaden massenhaft anrichten bei all jenen, die ihren Worten Glauben schenken? Wenn schon von Umweltbelastung die Rede ist: Neurowissenschaftler, Psychologen und Philosophen müssen ihre moralische Verpflichtung ernst nehmen und die Voraussetzungen und Implikationen ihrer öffentlichen Kommentare zu diesen unheilvollen Themen mit derselben Sorgfalt zu Ende denken, die wir von denjenigen verlangen, die sich zur globalen Erwärmung oder zu bevorstehenden Asteroideneinschlägen äußern. Ganz unabhängig davon, wie solide oder unsicher die Schlussfolgerungen sind, die die Wissenschaftler gezogen haben – da wir voraussehen können, dass zur Öffentlichkeit viele Menschen zählen, die ihre Aussagen missverstehen können, sollten die möglichen Effekte solchen Missverstehens einkalkuliert und bewertet werden. Der Schriftsteller und Sozialkritiker Tom Wolfe, um nur ein Beispiel zu nennen, hat auf ihre Ankündigungen – und die Wirkung, die diese auf die allgemeine Öffentlichkeit ausüben – in einem Essay mit dem Titel „Sorry, aber Ihre Seele ist soeben verstorben“ geantwortet.4 Hier ist seine Meinung:
„Die Schlussfolgerung, die die Menschen draußen, außerhalb der Laborwände, ziehen, lautet: Das ist doch eine abgekartete Sache! Wir sind alle verkabelt! Das – und: Beschuldigen Sie nicht mich! Ich bin falsch verkabelt!“
Falsch verkabelt? Wie wäre es dann, richtig verkabelt zu sein – oder haben die Wissenschaftler „herausgefunden“, dass in Sachen moralische Verantwortung keiner richtig verkabelt ist oder sein könnte?
Ich glaube, Erasmus hätte dieses Gedankenexperiment gefallen, da es auf so dramatische Weise sein eigenes Hauptanliegen illustriert: „Es gibt gewisse Dinge derart, daß es, auch wenn sie wahr wären und gewußt werden könnten, dennoch nicht förderlich wäre, sie gemeinen Ohren preiszugeben.“ Er erläutert:
„Ein wie großes Fenster würde diese Behauptung, wenn man sie im Volke bekanntmachte, unzähligen Sterblichen zur Gottlosigkeit öffnen, besonders bei der Sterblichen großen Trägheit, Gedankenlosigkeit, Bosheit und unverbesserlichen Geneigtheit zu jeder Art von Frevel? Welcher Schwache wird den ewigen und mühevollen Kampf gegen sein Fleisch weiterführen? Welcher Böse wird danach streben, sein Leben zu bessern?“5
Erasmus schreckt nicht vor der offenkundigen Schlussfolgerung zurück:
„Einiges ist aus sich heraus schädlich, weil es nicht geeignet ist, wie z.B. Wein für einen Fiebernden. Daher wäre es vielleicht erlaubt gewesen, solche Gegenstände in Unterredungen mit Gebildeten oder auch in den Theologieschulen zu behandeln, obwohl ich meinen möchte, daß es nicht einmal hier nütze, wenn es nicht maßvoll geschieht; im übrigen scheint mir, diese Art Theaterstücke vor einer gemeinen Menge aufzuführen, nicht nur unnütz, sondern geradezu verderblich.“6
Diese bemerkenswerte Passage verlangt zwei Bemerkungen: Erstens, verstrickt sich Erasmus hier nicht in einen pragmatischen Widerspruch, indem er einen Essay veröffentlicht, eine Unterredung gar, die die Empfehlung, über dieses Thema nur mit gedämpfter Stimme hinter verschlossenen Türen zu disputieren, jedermann preisgibt? (Eltern wissen, ein vor den Kindern ausgesprochenes „Psst! Nicht vor den Kindern!“ weckt mit Sicherheit deren Neugier auf das, wovor sie beschützt werden sollen.) Auf den ersten Blick scheint die Antwort Nein zu lauten, da die Streitschrift in lateinischer Sprache publiziert wurde, und des Lateinischen waren nur „die Studierten“ mächtig, ebendie Elite, der man zutraute, dass diese Themen innerhalb der theologischen Seminare verblieben. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sowohl Erasmus als auch Luther berühmt waren und dass die allgemeine Öffentlichkeit, sogar die Analphabeten, ein großes Interesse an ihren Worten, wenn auch nicht wörtlich, so doch wenigstens der Sache nach, zeigte. Daher verschwindet der pragmatische Widerspruch nicht zur Gänze, und tatsächlich sah sich Erasmus einem unangenehmen Dilemma ausgesetzt: Sollte er Luther einfach ignorieren und hoffen, dass seine schädlichen Ideen irgendwann verblassen, oder sollte er ihn attackieren, auch wenn dies der Meinung seines Gegners zu noch größerer Bekanntheit verhelfen und ihr eine gehörige Portion Prestige zuerkennen würde? Im ersten Absatz bringt er seine Ambivalenz zum Ausdruck: Luthers Assertio von 1520 habe die strittige Frage nach dem freien Willen „in eher erhitzter Weise aufgegriffen“, und daher „werde auch ich, durch meine Freunde ermutigt, versuchen, durch die folgende kurze Diskussion, die Wahrheit ans Licht zu bringen“. In unseren Tagen befinden sich jene von uns, die wiederholt von den Ideologen des intelligenten Designs herausgefordert werden, in derselben Verlegenheit, wenn sie die Theorie der Evolution durch natürliche Auslese in der Öffentlichkeit verteidigen müssen. Wir weigern uns meistens und ermutigen auch andere dazu, da die kapitalkräftige PR-Maschine der Kreationisten jede so gelagerte Debatte – wie gründlich auch immer ihre Wortführer verdroschen werden – ausnahmslos als weiteren Beleg dafür verkauft, dass ihre Position es verdient, von Wissenschaftlern ernst genommen zu werden. Soweit ich es überblicken kann, ist unser Problem schwieriger als das von Erasmus, da Analphabetismus kein großes Problem mehr darstellt und die Propagandatechniken, dank der modernen Medien, garantiert jede schlechtgewählte, aus dem Kontext gerissene Phrase verstärken werden. Wissenschaftliche und philosophische Debatten hinter verschlossenen Türen sind heute fast unmöglich, so dass wir besser auf unsere Wortwahl aufpassen sollten.
Meine zweite Bemerkung lautet, dass diese Offenheit heutzutage eigentlich ein Segen ist, kein Fluch, wie unbequem sie auch manchmal sein mag. Denn Erasmus’ Empfehlung – und es war natürlich nicht bloß seine –, dass theologische Schulen eine Freistatt für Diskussionen sein sollten, die nicht für die Ohren der Massen „geeignet“ seien, wurde über die Jahrhunderte nur allzu gut befolgt, mit dem Ergebnis, dass es nun eine Tradition systematischer Scheinheiligkeit in allen christlichen Kirchen gibt, die das Verhältnis zwischen Geistlichen und Gemeindemitgliedern infiziert und dazu führt, dass viele Geistliche sich in einem Netz aus Unaufrichtigkeit und unverblümtem Lügen verfangen, das ihr Leben verschandelt.
In den Vereinigten Staaten beschließen nicht wenige junge Menschen mit guten Absichten, die in Gemeinden mit einer starken Tradition zum Kirchgang aufgewachsen sind – nicht nur im sogenannten Bibelgürtel –, dass der beste Weg, Gutes zu tun in dieser Welt, darin bestehe, dem Stand der Geistlichen beizutreten. Wenn sie dann in die Seminare kommen, sind sie oft schockiert, wenn sie eine anspruchsvolle Welt der Bibelexegese und theologischen Nuancen entdecken, von der man ihnen in der Sonntagsschule oder in den Predigten ihrer Pfarrer nie berichtet hat. Diejenigen, die ihren Lebensplan nicht abrupt über den Haufen werfen und den Klauen der Kirche entkommen wollen, finden sich recht bald wieder als Mitschuldige in einer Verschwörung der Doppelzüngigkeit – mit einer Reihe vorherrschender stillschweigender Annahmen im Inneren der Seminarräume und einer zweiten Art und Weise, sich zum Wohle der Kirchgänger auszudrücken. Sie bewältigen den Drahtseilakt zwischen Taktgefühl am äußersten unschuldigen und dreister Lüge am äußersten unredlichen Ende mit variierenden Graden von Anstand und innerer Bequemlichkeit, wobei sie sich manchmal selbst quälen mit dem Bewusstsein ihrer tiefen Arglist und gelegentlich auch erfolgreich Kokons aus Metaphern entwerfen (oft verbunden mit einem Schuss Selbsttäuschung), in denen sie den Widersprüchen ihrer Lebensarbeit entfliehen können.
Linda LaScola und ich haben systematisch und streng vertraulich über mehrere Jahre hinweg vom Glauben abgekommene Geistliche interviewt, und wir erfahren eine Menge darüber, wie unterschiedliche Pastoren, von den liberalsten bis zu den am strengsten am Buchstaben hängenden Konfessionen, mit der Unstimmigkeit zwischen dem, was ihre Kongregationen von ihnen hören wollen, und dem, was sie selbst glauben, umgehen.7 Das Fehlen einer klaren Trennlinie zwischen Diplomatie am einen Ende des Spektrums und krasser Verlogenheit und Heuchelei am anderen Ende stürzt die Pfarrer fast unweigerlich in beunruhigende Gewissensbisse. Wir, die wir keine Pastoren sind, können uns glücklich schätzen, dass wir nicht allzu häufig im Leben schwierige Entscheidungen zwischen Höflichkeit und Ehrlichkeit treffen müssen, und jeder, der einen ungläubigen Prediger, der dennoch auf der Kanzel bleibt, kurzerhand zu verurteilen bereit ist, sollte wie wir einen genauen Blick darauf werfen, wie sie in dieses entsetzliche Dilemma geraten sind. Es sind gute Menschen, die durch ihre eigene Güte gefangen sind.
Obwohl wir noch keine genaue Schätzung abgeben können, wie verbreitet dieses Phänomen ist – vermuten doch einige Geistliche, die wir befragt haben, dass die Mehrheit ihrer Kollegen ihre Situation teile, obwohl sie dies nicht sicher wissen können –, hat keiner der Religionsführer, die unsere erste Studie kommentiert haben, seine Überraschung über unsere Entdeckungen oder gar Skepsis ihnen gegenüber zum Ausdruck gebracht. Ein Ableger unserer Studie, The Clergy Project (clergyproject.org), wurde 2011 ins Leben gerufen, um eine vertrauliche Online-Gemeinschaft für amtierende und ehemalige Geistliche anzubieten, die nicht an das glauben, was sie auf Geheiß ihrer Kirchen aus der Liturgie lesen oder von der Kanzel herab bekennen sollen. Es gibt bereits Hunderte von Mitgliedern und eine Reihe von Kandidaten, die darauf warten, überprüft zu werden. Es verlangt Mut, sich dort einzureihen, und Vertrauen in die Sicherheit dieser Webseite, so dass neue Bewerber um die Mitgliedschaft einer sehr sorgfältigen Überprüfung unterworfen werden, um sicherzustellen, dass keine Betrüger Zugang erlangen.8
Je mehr ich über das Wesen dieser heimlichen Absonderung des klerikalen Verständnisses vom laienhaften Verständnis gelernt habe, umso dankbarer bin ich dafür, dass sich die Wissenschaft noch keiner vergleichbaren Vorgehensweise verschrieben hat, trotz einiger Ermunterungen eminenter Denker. Im Chor der Wissenschaftler und Philosophen, die heutzutage erklären, der freie Wille sei eine Illusion, folgen einige unabsichtlich Erasmus’ Vorbild, indem sie öffentlich erklären, dass Schritte unternommen werden sollten, um diese Tatsache von der öffentlichen Aufmerksamkeit fernzuhalten, scheinbar ohne die schon fast skurrile Diskrepanz zwischen ihrem Ziel und ihren Mitteln zu bemerken. James B. Miles9 hat, was sehr nützlich ist, einen beeindruckenden Kader dieser „Illusionisten“ zusammengestellt, und unter ihnen finden sich meine guten Freunde, die Psychologen Steven Pinker und Daniel Wegner aus Harvard sowie Marvin Minsky vom MIT.
Interessanterweise kommt die am besten durchdachte Version dieser Empfehlung von dem Philosophen Saul Smilansky,10 aber er war nicht sehr erfolgreich darin, andere Philosophen für seine Sache zu gewinnen:
„Die Menschheit täuscht sich zum Glück über den freien Willen, und dies scheint eine Voraussetzung zivilisierter Moralität und persönlicher Werte zu sein […] Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass es grundlegende Überzeugungen gibt, die aus moralischen Gründen nicht aufgegeben werden sollten, obwohl sie einander zerstören könnten oder sogar teilweise auf inkohärenten Konzeptionen beruhen. Zumindest bei der Mehrzahl der Menschen bedürfen diese Überzeugungen potenziell der motivierten Mediation und einer Abschottung durch Illusion, die von Wunschdenken bis hin zur Selbsttäuschung reicht.“
Der diesen Vorschlägen innewohnende Paternalismus ist auf atemberaubende Weise herablassend: Wir Erkennende können mit der Wahrheit umgehen, aber „die Mehrzahl der Menschen“ muss mit einer noblen Lüge eingelullt werden. Miles zitiert John Horgan, ehemals Redakteur beim Scientific American, aus einem Aufsatz auf der sehr einflussreichen Webseite Edge.org: „Die Wissenschaft hat zunehmend klargemacht (mir zumindest), dass der freie Wille eine Illusion ist. Aber er ist – noch mehr als Gott – eine prächtige und absolut notwendige Illusion.“ Doch anscheinend nicht absolut notwendig für Horgan.
Erasmus ist dieser Falle entkommen. Er stellt sich nie explizit der Frage, ob er Heuchelei befürworten würde, um die lebenserhaltende Illusion der Willensfreiheit aufrechtzuerhalten, da er argumentiert, dass der freie Wille keine Illusion sei. Die Willensfreiheit sei etwas Reales, und Erasmus kann das anhand seiner geschickten Interpretationen der Heiligen Schrift demonstrieren. Immerhin ist das das angekündigte Ziel seines Essays.
Aber trotz all seiner Cleverness – oder vielleicht gerade wegen all seiner Cleverness – erscheint mir das Ergebnis für unseren modernen Blick (zumindest für meinen) wie ein Paradebeispiel für einen „Spindoktor“ bei der Arbeit. (Der Verkehr auf dieser fünfhundert Jahre alten Brücke verläuft in beide Richtungen; als mich die anachronistische Überzeugung einmal überkommen hatte, dass Erasmus einer der Gründerväter der Spindoktor- Gilde war, konnte ich diesen Eindruck beim Lesen seines Textes nicht mehr ablegen.) Man bedenke, dass Luther und Erasmus darin übereinstimmen, dass die Bibel die einzige zugängliche Autorität darstellt; was kann Erasmus also sonst tun, außer diese Autorität, so gut er kann, nach brauchbaren Leckerbissen zu durchforsten, die seine These, die zu verteidigen er genötigt ist, stützen? Die Details sind interessant, aber bei den meisten handelt es sich um ausgeklügelte theologische Schachzüge, die für die heutige Diskussion kaum relevant sind. Meine Favoriten sind Erasmus’ rhetorische Fragen, wie zum Beispiel „Was aber haben die zahlreichen Prüfungen der Gebote für einen Sinn, wenn es niemandem in irgendeiner Hinsicht möglich ist, in seiner Hand zu bewahren, was geboten wurde?“,11 und Analogien:
„Hier hört man wieder das Wort ‚vorlegen‘, man hört das Wort ‚wählen‘, man hört das Wort ‚sich abwenden‘, die alle unpassend gesagt würden, wenn der Wille des Menschen nicht frei zum Guten wäre, sondern nur zum Bösen. Sonst wäre es genau so, wie wenn jemand einem Menschen, der so gefesselt ist, daß er seinen Arm nur nach links ausstrecken kann, sagte: Siehe, du hast zur Rechten besten Wein, du hast zur Linken Gift, strecke die Hand aus, nach welcher Seite du willst.“12
Luthers (Fehl-)Interpretationen der Bibelstellen erklärt er mit demselben Schwung weg, wobei er an den gesunden Menschenverstand des Lesers appelliert, aber am Ende auch ein wenig zu viel von seinem Ziel preisgibt:
„Warum, wird man sagen, wird dem freien Willen etwas zugestanden? Damit es etwas gibt, was den Gottlosen mit Recht angerechnet wird, die sich freiwillig der Gnade Gottes versagt haben, damit der Vorwurf der Grausamkeit und Ungerechtigkeit von Gott abgewendet werde, damit von uns die Verzweiflung abgewendet werde, und die Sorglosigkeit abgewendet werde, damit wir zum Bemühen angespornt werden. Aus diesen Gründen wird von fast allen der freie Wille behauptet.“13
Man beachte, dass dies alles Gründe dafür sind, zu behaupten, der Wille sei frei, aber nicht dafür, zu glauben, er sei es tatsächlich! Indem er die Hintergedanken seiner Kampagne so ehrlich offenlegt, untergräbt er sie, weist aber zugleich auf ein Problem hin, das uns auch heute umtreibt: Wie kann jemand ernsthaft – und glaubhaft – eine Kampagne anzetteln, um zu zeigen, dass die Willensfreiheit real ist, wenn doch „jeder weiß“, dass wir große Probleme bekommen, wenn sie es nicht ist?
Wenn mir Erasmus wie ein Spindoktor vorkommt, dann muss ich all jenen als Spindoktor erscheinen, die bisher von meinen sorgfältig durchgeführten Analysen der erstrebenswerten Arten von Willensfreiheit unbeeindruckt geblieben sind. Ich habe versucht zu zeigen, dass nichts, was wir in der Wissenschaft (der Autorität, die ich gemeinsam mit den Wissenschaftlern teile, die den freien Willen als Illusion ansehen) finden, irgendeinen Zweifel an der wichtigen Art von Willensfreiheit nährt, der Art, die der moralischen Verantwortung zugrunde liegt. Das platziert mich solide im Lager der Kompatibilisten, also derjenigen, die darauf beharren, dass die Willensfreiheit mit dem Determinismus vollkommen vereinbar sei – wie auch mit dem Indeterminismus! (Ich behaupte, dass die Willensfreiheit sich mit der modernen Physik, der Biologie und Psychologie in Übereinstimmung bringen lässt und dass sie keine wundersame Flucht aus der physikalischen Kausalität erfordert, so dass der Indeterminismus der Quantenphysik irrelevant ist.) Der Kompatibilismus hat eine lange Geschichte, die sich mindestens bis zu David Hume ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, und ist wahrscheinlich die vorherrschende Position seit Alfred J. Ayers (wenn auch zu simpler) positivistischer Variante14 Mitte des letzten Jahrhunderts.
Der Kompatibilismus hat trotz seiner Popularität unter Philosophen stets Argwohn hervorgerufen. Kant nannte ihn bekanntermaßen eine „elende Täuschung“, und heutige Autoren äußern oft ihre Zweifel an der Aufrichtigkeit derjenigen, die ihn vertreten. Und so sollte es eigentlich auch sein. Die Wissenschaft lehrt uns, gerade bezüglich des Wunschdenkens besonders wachsam zu sein, und viele der Regeln wissenschaftlicher Forschung wurden speziell zu dem Zweck entworfen, uns davor zu schützen, auf unsere Hoffnungen hereinzufallen, wenn wir glauben, von der Evidenz überzeugt zu sein. Stellen Sie sich vor, einige Astronomen würden verkünden, dass ein gigantischer Asteroid in zehn Jahren auf unserem Planeten einschlagen werde, alles Leben auslöschend, woraufhin eine andere Gruppe von Astronomen erklärte, ihre erneute Analyse der Daten zeige, dass wir alle aufatmen könnten; der Asteroid werde die Erde knapp verfehlen. Gute Neuigkeiten, aber woher wissen wir, dass sie sich nicht selbst betrügen – oder uns nur mit einer liebevollen Lüge täuschen? Prüfen Sie genau ihre Berechnungen; versuchen Sie, unabhängig davon die Daten zu reproduzieren; akzeptieren Sie nicht einfach ihre Schlussfolgerung, nur weil sie keine offensichtlichen Fehler enthält und Ihnen entgegenkommt! Aber vergessen Sie ebenfalls niemals, dass sie recht haben könnten. Machen Sie nicht den Fehler und diskreditieren – auf der Basis „allgemeiner Prinzipien“ – etwas, das scheinbar „zu gut ist, um wahr zu sein“! Ist der Kompatibilismus zu gut, um wahr zu sein? Ich denke nicht; ich glaube, er ist wahr, und wir können gründlich und entschieden die Panikmacher zurückweisen und zugleich unser Verständnis dessen, was unsere moralische Verantwortung rechtfertigt, reformieren und überdenken.
Jedenfalls kann man feststellen, dass, trotz all ihrer Plausibilität zu jener Zeit, Erasmus’ Sorge, Luthers Zurückweisung der Willensfreiheit würde eine soziale Katastrophe nach sich ziehen, scheinbar mit der Zeit gewaltig abgemildert worden ist. Lutheraner und andere Protestanten, die – weil es ein religiöses Dogma ist – verkünden, dass der freie Wille eine Illusion sei, waren offenbar deshalb nicht nutzlos oder weniger unternehmungslustig, nicht wahr? Max Weber argumentiert in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus bekanntermaßen, dass der Fleiß, der dem Erfolg des Kapitalismus zugrunde liege, selbst eine direkte Wirkung der Theologie von Luther und Calvin sei. Er führt gute Argumente an. Wie kann das sein? Wie haben die Theologen die Schwierigkeiten vermieden, die von Erasmus so anschaulich beschrieben wurden? Die Antwort ist kompliziert, und ihre Evaluation übersteigt meine Kompetenz als historisch gebildeter Wissenschaftler, beinhaltet sie doch eine Reihe feiner Unterscheidungen zwischen Arten von Vorbestimmung, Gnade, „Auserwählung“ und natürlich Erbsünde, aber es gibt eine kurze Antwort, die, so glaube ich, alle geistreiche Theologie abdeckt: Sie haben Wege gefunden, Luther darin zuzustimmen, dass der freie Wille eine Illusion sei – und dennoch an die Willensfreiheit unter anderen Beschreibungen geglaubt! Die Calvinisten zum Beispiel – zumindest viele von ihnen – widersprachen den Lutheranern gerade bezüglich der These, Willensfreiheit sei in all ihren Bedeutungen eine Illusion; sie waren Kompatibilisten.15 Gott konnte nicht nur alle unsere Entscheidungen vorhersehen, sondern sie gingen auch alle von ihm aus; nichtsdestotrotz hatte man immer noch eine Art Wahlfreiheit, eine wünschenswerte Art, die unserem Streben einen Sinn gibt.
Dies legt nahe, dass auch viele derjenigen, die heute auf der Basis der Autorität der Wissenschaft den freien Willen zur Illusion erklären, ebenfalls ihren Wetteinsatz absichern, ohne gleich ihre Position so … theologisch zu formulieren. Vielleicht glauben auch John Horgan, Steven Pinker, Daniel Wegner, Marvin Minsky (und Paul Davies, Jerry Coyne, Paul Bloom, Chris Frith und, ja, Stephen Hawking und sogar Albert Einstein), ohne es zu merken, an eine Art von Willensfreiheit, die ihnen durch den Tag hilft, ohne zu verzweifeln.16
Vielleicht sind sie ja doch unabsichtlich Kompatibilisten und akzeptieren einfach nicht, dass das, woran sie glauben, es ebenso verdient, Willensfreiheit genannt zu werden, wie die Variante, die sie als Illusion verwerfen. Manch andere gehören nicht zu diesem Lager, da sie, wie Luther, meinen, bewiesen zu haben, dass niemand Lob oder Tadel für seine Taten verdiene: Wolf Singer, Sam Harris, Joshua Greene und Jonathan Cohen zum Beispiel, aber auf den zweiten Blick vertreten auch sie nuancierte Ansichten.17
Lassen Sie uns zu meinem Gedankenexperiment mit der ruchlosen Neurochirurgin und ihrem unglückseligen Patienten zurückkehren. Es sollte die „illusionistischen“ Wissenschaftler schockieren und dazu bringen, über die Gefahr nachzudenken, dass sie der Gesellschaft ernsthaften Schaden zufügen. Vielleicht war es nicht fair; vielleicht sind die Ähnlichkeiten zwischen ihren Behauptungen und den skrupellosen Äußerungen der Neurochirurgin zu oberflächlich. Lassen Sie uns genauer hinschauen. Zunächst einmal hat die Neurochirurgin absichtlich gelogen, hat sich einen groben Scherz erlaubt, während die Illusionisten die Wahrheit sagen wollen. Das macht einen riesigen, aber keinen hinreichenden Unterschied. Wenn mein Gedankenexperiment von einer irregeführten Neurochirurgin gehandelt hätte, die ernsthaft davon überzeugt ist, die Entscheidungen ihres Patienten kontrollieren zu können, indem sie in ihrem Labor Hebel hin und her bewegt, wären ihre Aussagen immer noch bedauerlich und rechtlich gesehen sogar fahrlässig, sofern sie für ihre Überzeugungen keine gute Evidenz vorweisen kann. Unsere Illusionisten sollten sich also dennoch über die Aussicht Gedanken machen, dass sie mit ihren Ankündigungen vorschnell gehandelt und voreilige Schlüsse gezogen haben aus dem, was ihre Wissenschaft tatsächlich zeigt, und zwar speziell angesichts der möglichen düsteren Folgen für diejenigen, die ihnen glauben.