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In der Tat waren sie vorschnell, da sie die Bedeutung eines Details in der Geschichte der Neurochirurgin übersehen oder unterschätzt haben, das kein Gegenstück in der wissenschaftlichen Fundierung ihrer Überzeugung hat: Auf schockierende Weise schädlich an ihrer Aussage war weniger der Teil darüber, dass das Gefühl des Patienten, sein Wille sei frei, eine Illusion sei, sondern ihre spezifischere Behauptung, dass sie selbst seine Entscheidungen kontrolliere. Aus diesem Grund wäre er – wenn sie die Wahrheit gesagt hätte – tatsächlich kein moralisch verantwortlicher Akteur mehr gewesen: Seine Agentenschaft wäre von der Agentenschaft einer anderen Person usurpiert worden.
Wir kümmern uns alle zu Recht darum, unsere Integrität als Entscheider aufrechtzuerhalten, damit wir für die Handlungen, die unser Körper ausführt, verantwortlich sein können – mit anderen Worten, damit wir keine Marionetten sind, deren Handlungen unter der Kontrolle eines anderen stehen. Viele philosophische Gedankenexperimente zur Willensfreiheit setzen genau einen solchen Puppenspieler (oder eine ruchlose Neurochirurgin) voraus, der (oder die) heimlich jemanden so verdrahtet hat, dass er seine (oder ihre) Befehle ausführt. Womöglich ist die Moral all dieser Schauergeschichten folgende: Selbst dann, wenn es keinen eigentlichen Puppenspieler gibt, zeigt die Tatsache, dass unser Verhalten von verschiedenen Merkmalen unserer Umgebung verursacht wird, die von unserem Wahrnehmungsapparat und im Gehirn verarbeitet werden, dass es genauso gut einen Puppenspieler geben könnte. (Die Umschlaggestaltung von Sam Harris’ kleinem Buch Free Will18 zeigt eine Menge Marionettenfäden.) Aber dieses Fazit ist ein klarer Fehlschluss. Wenn die „Kontrolle“ durch Ihre Umgebung Ihr gut funktionierendes Wahrnehmungssystem und ihr gesundes Gehirn durchläuft, gibt es nichts zu befürchten; es ist doch nichts wünschenswerter, als durch die Dinge und Ereignisse um uns herum veranlasst zu werden, wahre Überzeugungen über sie zu generieren, deren wir uns dann bei der Modulierung unseres Verhaltens zu unserem Vorteil bedienen können! Photonen, die in meinen Augen ein Abbild der Luftbläschen im Watt erzeugen, bringen mich wahrscheinlich dazu, nach meinem Muschelrechen und einem Korb zu greifen und anzufangen zu graben. Wenn dies ein Fall ist, in dem ich von meiner Umgebung kontrolliert werde, dann bin ich sehr dafür. Und wie die meisten Menschen fühle ich mich nicht bedroht oder manipuliert, wenn meine Freunde mir kostspielige Mahlzeiten anbieten in der vollen Gewissheit, dass ich außerstande sein werde, der Versuchung zu widerstehen, sie zu essen.
Wir können den Unterschied zwischen der alltäglichen Welt und einer Welt voller lauernder geheimer Akteure (oder Puppenspieler) klarer sehen, wenn wir ihn schrittweise aufbauen.
Fall 1
Mein Arzt, den ich sehr gut kenne und dem ich vertraue, rät mir, zum Frühstück Kleieflocken zu essen, weil dies der beste Weg sei, meinen Cholesterinwert zu senken. Diese audiovisuelle Erfahrung bewirkt, dass ich zum Supermarkt laufe und mir Kleieflocken kaufe.
Fall 2
Im Supermarkt entscheide ich mich, neue Frühstücksflocken auszuprobieren. Obwohl ich noch nie von Kleieflocken gehört habe, nehme ich eine Packung aus dem Regal und lese mir sorgfältig alle Informationen darauf über ihren Nährwert und pikanten Geschmack durch (in Gelb hervorgehoben). Da ich sehe, dass sie – dem Namen nach – von einer angesehenen Firma hergestellt werden, die für ihre Ehrlichkeit bekannt ist, entscheide ich mich, der Information zu vertrauen. Ich kaufe eine Packung Kleieflocken.
Fall 3
Im Supermarkt entdecke ich im Regal eine Packung Kleieflocken mit einem reizenden Foto von Cameron Diaz darauf. Ich kaufe die Packung.
Fall 4
Im Supermarkt nähere ich mich einer Packung Kleieflocken, die einen versteckten Mikrochip-Sender enthält, der den Nucleus accumbens in meinem Gehirn optimiert. Ich kaufe eine Packung Kleieflocken.
In jedem dieser Fälle verursachen einige Merkmale der Umgebung und ihre Reizung meines Nervensystems, dass ich eine Packung Kleieflocken kaufe. Darüber hinaus gibt es in jedem Fall den Versuch, meine Wahl durch andere Akteure zu beeinflussen. Aber während die ersten beiden Fälle offen meine Rationalität ausnutzen und mir Gründe dafür liefern, warum ich den Kauf tätigen sollte, umgehen die nächsten beiden erfolgreich meine Rationalität. Fall 3 mag ernsthaft manipulativ sein bei einer sehr naiven und behüteten Person, aber ich bin kein Hinterwäldler; ich weiß alles darüber, wie die Firmen Sexappeal benutzen, um ihre Sachen zu verkaufen, und so entscheide ich mich in Fall 3 dazu, dem nachzugeben, sozusagen als Belohnung für den guten Geschmack, den die Firma bewiesen hat! Der Hauptunterschied zwischen den Fällen 3 und 4 besteht darin, dass ich in Fall 4 nicht die leiseste Ahnung habe, dass überhaupt ein Manipulationsversuch stattfindet. Bedenken Sie: Sollten solche Mikrochip-Verführer die Welt verseuchen, werden wir uns alle nach Gegenmaßnahmen umsehen, nach Geräten, die die geheimen Verführer entdecken und entwaffnen, damit wir unsere Integrität als rational Handelnde aufrechterhalten können. Es gibt – und das war schon immer so – ein Wettrüsten zwischen Verführern und ihrer Zielgruppe oder den Opfern, die sie im Visier haben, und die volkstümlichen Überlieferungen sind voll von Geschichten über Unschuldige, die auf die Schmeicheleien von Überredungskünstlern hereingefallen sind. Diese Überlieferungen sind Teil der Verteidigungsstrategie, die wir an unsere Kinder weitergeben, so dass sie sich davor wappnen können. Wir wollen nicht, dass unsere Kinder zu Marionetten werden! Wenn die Hirnforscher uns erzählen, dass das nichts bringe – weil wir bereits Marionetten seien, die von der Umgebung kontrolliert werden –, dann machen sie einen großen Fehler und richten möglicherweise Schaden an.
Zauberkünstler wissen, wie sie Sie mit „psychischer Kraft“ dazu bringen, („aus freiem Entschluss“) genau die Karte vom Stapel zu nehmen, die Sie nehmen sollen. Es gibt viele Methoden, alle subtil und schwer zu erkennen, und ein wirklich guter Zauberkünstler schafft es meistens. Dies ist eine echte Beschneidung Ihrer Agentenschaft, eine Manipulation, die Sie zu einem Werkzeug macht, einem Pfand, einer Verlängerung des Willens des Magiers, nicht zu einem freien Akteur. Ist die Welt demnach bloß ein allumfassender Zauberkünstler, der auf psychischem Wege alle unsere Entscheidungen erwirkt? Das scheinen die „illusionistischen“ Wissenschaftler zu sagen, aber es ist Nonsens. Es braucht echtes Können, um psychische Kräfte auszuüben, und tollpatschige Versuche sind leicht zu entdecken und zu entwaffnen. Wenn Sie eine Karte aus dem Stapel eines Zauberkünstlers nehmen, sollten Sie über die Aussicht informiert sein, dass Ihre Wahl erzwungen wurde, aber wenn Sie eine Muschelschale am Strand aufheben, müssen Sie sich nicht sorgen (außer in bizarren, aber vorstellbaren Szenarien), dass irgendein Akteur Sie manipuliert. Natürlich muss an der Muschel etwas dran sein, das Sie dazu bringt, diese statt einer anderen aufzulesen, na und? Entweder gibt es einen speziellen Grund (Sie suchen nach bläulichen Muscheln, die genau so aussehen, oder diese ist ganz besonders schön, oder sie eignet sich gut als Aschenbecher für Ihre Zigarre), oder es gibt keinen besonderen Grund, und Sie haben es dem Zufall überlassen, für Sie die Wahl zu treffen, was völlig rational ist, wenn Sie bloß eine Muschel haben wollen, aber keine bestimmte. In keinem dieser Fälle ist Ihr Gefühl, dass Sie sich frei entscheiden – in dem Sinne, auf den es ankommt – gefährdet.
Was wir alle wollen, und wollen sollten, ist, dass unsere Handlungen immer auf der Basis guter Information über die besten uns zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten erfolgen. Wenn die Umgebung doch nur herbeiführen würde, dass wir eine ganze Menge zeitgemäßer und relevanter Überzeugungen darüber haben, was um uns herum los ist, und wenn sie doch nur verursachen würde, dass wir immer auf der Basis der vernünftigsten uns möglichen Bewertung der Evidenz handeln! Das würde uns fast alles geben, was wir als Akteure wollen – bis auf Folgendes: Wir würden nicht wollen, dass die Umgebung unsere besten Züge für die anderen Akteure allzu offensichtlich erkennbar macht. Denn dann können sie uns ausnutzen, da sie zu viel darüber wissen, was wir wollen und wie sehr wir es wollen. Also fügen wir der Wunschliste die Fähigkeit hinzu, unsere Gedanken und Entscheidungsprozesse für uns behalten zu können, auch wenn das bedeutet, dass wir hin und wieder nur die zweitbeste Wahl treffen, nur um die anderen fernzuhalten.19 Es gibt eine Menge Belege dafür, dass die Evolution uns mit genau diesen wunderbaren Fähigkeiten ausgestattet hat, nicht perfektioniert natürlich, aber immerhin so gut, dass man sich im Allgemeinen darauf verlassen kann, dass wir verantwortungsvoll handeln und daher billigerweise auch für unsere Handlungen verantwortlich gemacht werden können.
Nichts von dem, was wir von den Neurowissenschaften lernen, gefährdet diese Art Willensfreiheit. Ja, wir haben erfahren, dass Hirnforscher unter sehr anspruchsvollen Bedingungen manchmal „vorhersagen“ können, welche „zufällige“ Wahl wir ein paar Sekunden später treffen werden. Das hat praktische Folgen, die wir uns zu Herzen nehmen sollten: Spielen Sie mit niemandem Schere, Stein, Papier um Geld, wenn Sie in einem Kernspintomographen liegen!20 Die Tatsache, dass unsere Entscheidungen Ereignisse in unserem Gehirn darstellen, die von vorhergehenden Ereignissen in unserem Gehirn verursacht werden, die wiederum von ihnen vorhergehenden Ereignissen im Gehirn hervorgebracht werden, und selbst die Tatsache, dass diese Ereignisse „prinzipiell“ vorhersagbar sind, auch wenn dies praktisch noch nicht möglich ist – beides hat einfach nicht zur Konsequenz, dass unser freier Wille eine Illusion ist, es sei denn, Sie definieren Willensfreiheit so, dass dies trivialerweise daraus folgt. Aber dann liegt die Beweislast bei Ihnen, zu zeigen, warum Willensfreiheit, so definiert, irgendjemanden interessieren sollte außer Theologen und Philosophen, die zu viel Zeit haben.
Nun noch eine weitere Reise über die fünfhundert Jahre alte Brücke: Die Theologen zu Erasmus’ Zeit machten sich Sorgen über Gottes Vorherwissen und Seine Macht (wenn Er sie nutzte), die Entscheidungsfindungen Seiner Kreaturen zu manipulieren. Wie das praktisch vonstatten gehen sollte, blieb natürlich ein Rätsel, ein bequemes Geheimnis, weil es den Theologen erlaubte, alle möglichen subtilen Unterscheidungen zu erfinden, die – wie sie mit einem gehörigen Grad an Überzeugungskraft behaupten konnten – die Rolle des selbstverantwortlich Entscheidungen treffenden Menschen nicht völlig aufsogen. Diesen theologischen Luxus haben wir nicht mehr; wir gehen den neuronalen Mechanismen auf den Grund, auf denen menschliche Entscheidungsprozesse beruhen, und die Standards für die wissenschaftliche Argumentation sind erheblich anspruchsvoller als in der Theologie, wo man die Regeln mehr oder weniger selbst erfinden kann, während man fortschreitet. Als Luther behauptete, dass Gott unseren Willen kontrolliere, gab es prinzipiell keine Möglichkeit, dies empirisch zu testen, eine Tatsache, die Luthers Behauptung vor der Falsifikation schützte, es aber auch seinen Nachfolgern leichtmachte, ihm seine Schlussfolgerung zuzugestehen und gleichwohl davon überzeugt zu sein, dass sie in Wirklichkeit ihren Willen selbst kontrollierten. Wer vermochte das schon zu entscheiden? Ganz im Gegensatz dazu können Sie, wenn unsere Neurochirurgin Ihnen sagt, sie kontrolliere Ihren Willen, sie einfach entschlossen widerlegen – wenn Sie nicht zu sehr von ihrem weißen Arztkittel und ihren extravaganten Apparaturen beeindruckt sind –, und sollte sie Recht behalten, tun Sie natürlich gut daran, zu hoffen, dass ein paar gute Freunde Sie ihren Klauen entreißen. Aber bis dieser vorstellbare, logisch mögliche, doch außerordentlich unwahrscheinliche Zustand der Neurotechnologie eingetreten ist, können Sie ziemlich sicher sein, dass Ihr freier Wille ganz und gar keine Illusion ist.
2012 Erasmus Prize Lecture, reprinted with the kind permission from the Praemium Erasmianum Foundation
Literaturangaben
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Ehrman, B. (2005). Misquoting Jesus. The Story Behind Who Changed the Bible and Why, San Francisco, New York.
Erasmus von Rotterdam (1967-1975). Ausgewählte Schriften. Ausgabe in 8 Bänden. Lateinisch und Deutsch, hrsg. von W. Welzig, Darmstadt.
Good, J. J. (2003). The Dishonest Church, Scotts Valley, CA.
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Morris, E. A. (2001). „Calvinism and Free Will“, online unter: http://www.noble-minded.org/calvinism.html.
Smilansky, S. (2000). Free Will and Illusion, Oxford.
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Waller, B. (2001). Against Moral Responsibility, Cambridge, MA.
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* Dieser Aufsatz wurde unter dem Titel „Erasmus: Sometimes a Spin Doctor is Right“ für die Stiftung Praemium Erasmianum anlässlich der Verleihung des Erasmus-Preises 2012 an Daniel Dennett verfasst.
1 Greenblatt 2011.
2 Die Zeit meinte es nicht gut mit Erasmus’ zwei Gedankenexperimenten (Erasmus von Rotterdam 1967-1975, Bd. 4, S. 165 ff.). Das eine handelt von einem König, der einen Mann unbewaffnet in den Krieg schickt und dann „seine Hinrichtung befiehlt wegen des unglücklichen Endes des Krieges“. Erasmus stellt sich vor, dass Letzterer sich beschwert: „Warum strafst du an mir, was durch deine Schuld geschehen ist? Wenn du mich in gleicher Weise ausgestattet hättest, hätte ich in gleicher Weise gesiegt.“ Im anderen Gedankenexperiment „läßt ein Herr einen unwürdigen Sklaven frei“.
3 Denys et al. 2010.
4 Dieser Aufsatz wurde 1996 ursprünglich online veröffentlicht in „Forbes ASAP“ und dann wieder abgedruckt in Wolfe 2000.
5 Beide Zitate in: Erasmus von Rotterdam 1967-1975, Bd. 4, S. 19.
6 Ebd., S. 21.
7 Dennett und LaScola 2010. Zum ersten Mal vorgestellt bei „On Faith“: http://newsweek.washingtonpost.com/onfaith/2010/03/disbelief_in_the_pulpit/all.html. Schilderungen ehemaliger Priester finden Sie auch bei Ehrman 2005 und Good 2003.
8 Linda LaScola und ich haben dabei geholfen, das Clergy Project zu ermöglichen (das durch die Richard-Dawkins-Stiftung gefördert wird), aber da wir weder amtierende noch ehemalige Geistliche sind, haben wir keinen Zugriff auf die internen Aktivitäten. Wir werden hin und wieder von den Gründungsmitgliedern (einschließlich Dan Barker von der Freedom from Religion Foundation) darüber informiert, wie die Gemeinschaft funktioniert und wächst. Ich würde die Stimmung, die von diesen Nachrichten ausgeht, mit einem Wort so zusammenfassen: Befreiung.
9 Miles 2011.
10 Smilansky 2000 und 2002.
11 Erasmus von Rotterdam 1967-1975, Bd. 4, S. 69.
12 Ebd., S. 63.
13 Ebd., S. 191.
14 Ayer 1954.
15 Einen guten Überblick liefert Morris 2001.
16 James Miles (2011) gibt Zitate und Textbelege an für Steven Pinker, Daniel Wegner und Marvin Minsky. Hier sind einige Zitate der anderen: Jerry Coyne: „Die Willensfreiheit ist eine derart überzeugende Illusion, dass die Menschen sich einfach weigern zu glauben, wie hätten sie nicht. In Free Will greift Sam Harris auf Neurowissenschaften und Psychologie zurück, um diese Illusion ein für alle Mal zur letzten Ruhe zu betten.“ Paul Bloom (ebenfalls Harris’ Buch lobend): „Wenn Sie an den freien Willen glauben oder jemanden kennen, der es tut, dann ist hier das perfekte Gegengift.“ Chris Frith: „Ist es möglich, die Handlungen der Menschen auf der Basis der neuronalen Aktivität, die ihren bewussten Entscheidungen vorhergeht, vorauszusagen? Wenn ja, dann ist der freie Wille eine Illusion.“ Stephen Hawking (2010, zusammen mit Leonard Mlodinow): „Jüngere Experimente in den Neurowissenschaften stützen die Ansicht, dass es unser physisches Gehirn ist, das, indem es den bekannten wissenschaftlichen Gesetzen folgt, unsere Handlungen bestimmt, und nicht irgendeine Agentenschaft, die außerhalb dieser Gesetze existiert […] Es ist schwer vorstellbar, wie der freie Wille operieren kann, wenn unser Verhalten durch physikalische Gesetze bestimmt ist, so dass es scheint, als seien wir nicht mehr als biologische Maschinen und der freie Wille bloß eine Illusion.“ Albert Einstein: „Würde ein Wesen mit höherer Einsicht und einer perfekteren Intelligenz den Menschen und sein Treiben beobachten, wäre es amüsiert über die Illusion des Menschen, sein Handeln entspringe seinem eigenen freien Willen.“
17 Wolf Singer: „Niemand ist für seine Taten verantwortlich, da alles durch das Gehirn vorherbestimmt ist.“ Aber er sagt außerdem: „Ich gehe abends nach Hause und mache meine Kinder verantwortlich, wenn sie irgendetwas angestellt haben, da ich natürlich davon ausgehe, dass sie auch anders gekonnt hätten.“ Sam Harris’ Buch wird von mir hier detailliert kommentiert: http://www.samharris.org/blog/item/reflections-on-freewill. Vgl. auch Greene und Cohen 2004. Während der Drucklegung dieses Aufsatzes, las ich Wallers Buch Against Moral Responsibility (2001), in dem er unerschrocken die These verteidigt, dass Willensfreiheit mit der Wissenschaft vereinbar sei, moralische Verantwortung jedoch nicht. Diese originelle und gar überraschende Sicht verdient eine gründliche Untersuchung und Erwiderung, die sich hier findet: http://www.naturalism.org/DCDWallerreview.htm.
18 Harris 2012.
19 Siehe Clegg 2012 für eine wegweisende Untersuchung dieses Themas.
20 Auf den bahnbrechenden Arbeiten von Libet aufbauend, zeigen Soon et al. 2008, dass man Information über eine „zufällige“ binäre Wahl (drücke den linken Knopf oder drücke den rechten Knopf ), bis zu acht Sekunden bevor sich die Person bewusst zu einer „zufälligen“ Wahl entschließt, aus dem Gehirn von Versuchspersonen ableiten kann. Da die Daten von einem Kernspintomographen aufgezeichnet und einige Zeit berechnet werden, handelt es sich nicht um Vorhersagen in Echtzeit – die Ableitung dauert einfach zu lange –, aber um gründliche wissenschaftliche Vorhersagen; zu einem späteren Zeitpunkt sagen sie voraus, was die Forscher als die Wahl der Versuchsperson bei diesem Versuch aufgezeichnet haben. Spielen Sie also ruhig Schere, Stein, Papier um Geld, wenn Sie in einem Kernspintomographen liegen, bis die Wissenschaftler schnellere Gedankenlesetechniken entwickelt haben, falls das je geschieht!
Vorwort
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Gilbert Ryle gebeten, ein Buch zu schreiben, in dem er darlegen sollte, wie die neuen philosophischen Methoden über alte Probleme triumphierten:
„ … es wurde Zeit, dachte ich, ein sich durchhaltendes Stück analytischer Zerlegearbeit, die sich auf einen bekannten und umfangreichen Gordischen Knoten richtet, darzustellen… Eine Zeitlang dachte ich, das Problem der Willensfreiheit sei der passendste Gordische Knoten; aber am Ende entschied ich mich für den Begriff des Geistes – obwohl der endgültige Titel des Buches mir erst in den Sinn kam, als die Drucker verlangten, mit dem Druck der ersten Seiten beginnen zu können.“ (Ryle 1970, S. 12).
Ellenbogenfreiheit ist natürlich nicht das Buch über Willensfreiheit, das Ryle geschrieben hätte, hätte er nicht ein verlockenderes Projekt gefunden, aber es zeigt seinen Einfluß – bis zu einem Grad, der mich oft verwundert hat. Bringt man diese Tatsache mit meiner unendlichen Bewunderung und Zuneigung für diesen Mann zusammen und mit meiner Freude, wieder nach Oxford eingeladen zu sein, um diese Gedanken über den freien Willen 1983 als John-Locke-Vorlesungen vorzutragen, dann kann man sehen, daß meine Entscheidung, dieses Buch dem Gedenken an meinen Doktorvater zu widmen, obwohl sie frei, rational und verantwortlich war, auch vorhersehbar und (in einem gewissen Sinn) sogar unausweichlich war. Ich hätte nicht anders handeln können.
Bei meinem eigenen Versuch, eine einheitliche Gruppe von Antworten auf die schwierigen Fragen über Willensfreiheit herauszuarbeiten, wurde mir von vielen geholfen, einschließlich vieler Philosophen, deren Arbeiten ich kritisiere. Besonderen Dank schulde ich Bo Dahlbohm und Douglas Hofstadter, die mich auf ihre sehr verschiedene Art von vielen falschen Spuren und Fallen wegführten, wie sie es in der Vergangenheit schon oft getan haben. Danken möchte ich auch Michael Berry, Gordon Brittan, Carl Castro, Pat Churchland, Tony Coady, Richard Dawkins, Richard Gregory, Laurie Kahn-Leavitt, Christopher Peacocke, Michael Ruse, Teddy Seidenfeld, Michael Slote, Sue Stafford und Andrew Woodfield. Hugo Bedau, John Mazzone und meine anderen Kollegen und Studenten an der Tufts Universität halfen ebenfalls mit konstruktiver Kritik und Vorschlägen. Schließlich gilt mein Dank der Fakultät für Philosophie in Oxford für ihre freundliche Einladung und allen in Oxford für ihre großzügige Gastfreundschaft gegenüber mir und meiner Familie.
Daniel C. Dennett
Tufts University
Januar 1984
Kapitel I
Bitte keine Schreckgespenster
Der Philosoph ist derjenige, der einen Vortrag über das Henkerparadox* auf einem Symposium zur Todesstrafe hält.
James D. McCawley
1. Das ewige, fesselnde Problem
Die Vorstellung eines Fatums ist älter als die Philosophie selbst, und seit es dieses Fach gibt, haben Philosophen zu zeigen versucht, was an der Vorstellung falsch ist, daß unser Schicksal vor unserer Geburt besiegelt sei. Es erschien stets wichtig zu beweisen, daß wir nicht bloß unser Schicksal ausführen, sondern irgendwie unsere Wege selbst finden, Entscheidungen treffen – nicht bloß „Entscheidungen“ in uns aufkommen lassen.
In der Frühzeit der griechischen Philosophie standen Überlegungen zur Kausalität im Brennpunkt der Aufmerksamkeit, und manche Philosophen begannen sich zu fragen, ob nicht alle physikalischen Ereignisse durch die Gesamtsumme aller vorausgegangenen Ereignisse verursacht oder determiniert werden. Wenn es so ist – wenn, wie wir sagen, der Determinismus wahr ist – dann müssen unsere Handlungen selbst, als physikalische Ereignisse, determiniert sein. Wenn der Determinismus wahr ist, dann ist jede unserer Taten und Entscheidungen, so scheint es, das unausweichliche Ergebnis der Summe der physischen Kräfte, die in dem Moment wirken, der wiederum das unausweichliche Ergebnis der Kräfte ist, die einen Augenblick zuvor wirkten, und so fort bis zum Anfang der Zeit.
Wie könnten wir dann frei sein? Die Epikureer, die überraschend moderne Materialisten waren (sie glaubten, daß das Bewußtsein aus materiellen Atomen zusammengesetzt sei genauso wie alles andere), versuchten, sich von dieser drohenden Gefahr der vorherbestimmten Wahl zu befreien, indem sie das System der allgemeinen Verursachung da und dort aufbrachen. Sie postulierten, daß Atome gelegentlich „zufällige Abweichungen“ zeigen.