- -
- 100%
- +
Nach dem Spaziergang kam ich in die Zelle zurück. Natürlich waren meine Zigaretten und der Käse, die auf dem Tisch gelegen hatten, gestohlen. Unglaublich waren sie, diese Leute. Es hat mich im Gefängnis immer überrascht, wie frech und schnell man Zigaretten mausen und gleich abhauen kann. Die kleinen Diebe, die sich für das Salz des Knastes, für angeblich weltkluge und abgeklärte Veteranen hielten, waren ohne eine ordentliche Tracht Prügel nicht der Lüge zu überführen.
Nachdem die Zellentür abgeschlossen war, warteten alle ruhig auf das Abendbrot. Roxi und ich legten Karten. Es stellte sich heraus, dass sie eine ausgezeichnete Wahrsagerin war. Sie prophezeite mir, dass ich die verrauchten Gefängniswände bald verlassen würde. In diesem Augenblick dachte ich ernsthaft nach, die Geschichte ihres Lebens aufzuschreiben. Kaum wollte ich darüber sprechen, öffnete sich die Tür und eine junge Frau wurde in die Zelle geführt.
„Ist das hier stockdunkel! Mein Gott!“
Sie war ganz mit kleinen, fadendünnen Ritzwunden bedeckt, ihre Ohren waren zerkratzt, ein Haarbüschel ware fast mit einem Stück Haut abgerissen.
„Hallo!“, wagte ich, sie anzusprechen.
„Gebt mir eine Zigarette!“
„Stell dich wenigstens vor, du Schnalle!“
„Ich heiße Cindy! Ist das hier echt eine stinkende Gefängniszelle? Oder bin ich in einem Intellektuellenzirkel gelandet?“
„Da hast du eine Zigarette. Erzähl, was passiert ist.“
„Sie werfen mir elf Diebstähle vor.“
„Die sollen erst mal alle elf beweisen.“
„Meine Schwester und ich werden ganz sicher identifiziert. Wir haben uns als Sozialarbeiterinnen von der Spitex getarnt in Häuser geschlichen und Geld und Gold geklaut.“
„Spitex? Was ist das?“
„Das ist so etwas wie das Rot Kreuz. Sie machen Hausputz und Einkäufe für Behinderte und Rentner.“
„Klar, und was war weiter? Wie haben sie euch erwischt?“
„Wir sind gar nicht beim Klauen erwischt worden. Meine Schwester hatte Zoff mit ihrem Freund, einem Syrer, und hat ihm die Kette vom Hals gerissen, die sie ihm selbst geschenkt hatte. Da hat er sie bei der Polizei angezeigt. Er konnte den Verlust seines ach so teuren Schmuckstücks nicht verkraften. Diese Kette aus reinem Platin haben wir halt auch in einem der von uns besuchten Häusern gestohlen.“
„War dieser Syrer auch ein Dieb? Hat er sich an euren Diebstählen beteiligt?“
„Nein, nein. Er ist ein anständiger Kerl. Er war auf der Nationalen Verwaltungsschule. Jetzt ist er Versicherungsberater, Fachmann für Arabisch und Farsi.“
„Nicht schlimm! Es stimmt schon, was man sagt: ‚Gute Jungs verlieben sich in schlimme Luder.‘“
„Genau, in schlimme kleine Luder!“
„Das Wort klein passt ja wohl überhaupt nicht! Sie ist ein ganz ausgewachsenes Luder, dieses Miststück!“, explodierte ich.
Ich stellte mir vor, wie eine solche Ratte sich in das Haus meiner Großmutter schleichen und alles bis auf den letzten Pfennig klauen würde; so etwas kann bei einem alten Menschen zum Herzinfarkt mit tödlichem Ausgang führen. Sie sind ja wie kleine Kinder. Im hohen Alter hat man Angst vor allem. Und sie selbst ist eine gesunde junge Stute! Ich wäre nicht überrascht, wenn sie dabei noch Sozialhilfeempfängerin wäre. Hätte eine Sozialwohnung und bekäme über tausend Franken im Monat für Lebensmittel vom Staat, finanziert aus den Steuern, die ich für sie bezahle. Ist das nicht fies? Sie hat es gut, diese Schlampe!
„Beruhige dich, Jana!“. schnurrte die gutmütige Roxi.
„Okay, mir kann es ja schnurzegal sein, aber sie soll sich von mir fernhalten. Und zwar in jedem Fall.“
„Verpiss dich! Du arrogante Fotze! Ihr Russinen seid doch alle Schlampen!“
„Lieber eine Schlampe als ein Miststück, das alte Menschen beklaut!“
„Jetzt ist aber gut, Ruhe bitte! Ich will wissen, was weiter passiert ist“, murrte die Rumänin. „Erzähl weiter, Cindy!“
Ich beschloss, zu lesen, und steckte meine Nase in ein Buch, hörte dabei aber mit Interesse die Fortsetzung der garstigen Geschichte dieses Luders.
„Auf dem Revier haben sie uns Fingerabdrücke abgenommen. Da hat sich herausgestellt, dass wir schon längst auf der Fahndungsliste waren.“
„Du musst wahrscheinlich eine Geldstrafe zahlen und fertig“, sagte Roxi. „Mach dir keinen Kopf!“
„So viel Geld habe ich nicht! Ich lebe von Sozialhilfe.“
„Hahaha!“, lachte ich hysterisch auf. „Siehst du, Roxi! Ich hatte Recht!“
„Lass uns bitte nicht streiten!“
„Mit dir wollte ich überhaupt nicht streiten“ murmelte ich verärgert. Aber die Schweizerin wollte sich nicht beruhigen und stellte die freche Frage: „Was soll ich denn nun machen? Weißt du nichts, Jana?“
„Ich bin keine Ratgeberin für dich. Und frag mich ja nicht mehr nach Zigaretten. Ich hasse Leute, die die Schwachen bestehlen! Du bist eine junge Frau und sitzt zu Hause rum, arbeitest nicht, bekommst Sozialhilfe und ich zahle Steuern für dich! Pfui! Schämst du dich nicht?“
Mit wie viel Wut und Hass blickte sie auf mich! Sie presste die Lippen zusammen, ein Wangenmuskel zitterte auf der rechten Seite ihres blassen, nervösen, teils mit Blut beschmierten Gesichts. An ihren schweren, eisigen Blick kann ich mich noch heute erinnern.
Eine Woche später wurde noch eine Person in unsere Zelle gebracht. Es war eine Zigeunerin, die auch Gina hieß. Als ob sie keine anderen Namen hätten. Es ist wie bei uns, wo viele Prostituierte den Namen Natascha tragen. Man sollte vielleicht eine Statistik über die Ginas erstellen.
Diese interessante Gaunerin erzählte uns von den verschiedenen Tricks und Finten, die ihr schwarzäugiges Volk erfunden hatte, um naive Touristen, betrunkene Bauern und abergläubische Menschen auszuplündern und abzuzocken. Allerlei Hokuspokus, schlaue Kniffe mit Faden und Knoten, Wahrsagerei mit Karten, in der sie sich selbst eigentlich nicht auskennen, und vieles andere mehr. Zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich von einer Zigeunerin, dass die Zigeuner das Kartenlegen nicht beherrschen. Genauer gesagt, sie können die Karten legen, aber nicht die Zukunft wahrsagen. Die Karten sind eine Art spirituelles Werkzeug. Menschen, die übernatürliche Fähigkeiten besitzen, sind keine Zigeuner. Diese sind einfach Betrüger, Abzocker und Mogler, nichts anderes als kleinkarierte Schlitzohren. Sie tun nichts weiter, als ihre ausgeklügelten, altgewohnten Tricks anzuwenden, deren einziges Ziel es ist, schnelles Geld zu verdienen.
Als wir alle zur Arbeit gingen, blieb die sozial ungeschickte Cindy allein in der Zelle, da sie noch nicht arbeiten durfte. Die frisch gelieferten Strafgefangenen wurden erst nach einer ärztlichen Untersuchung zur Arbeit zugelassen. Als wir in die Zelle zurückkamen, sahen wir die junge Frau auf dem Boden in einer riesengroßen Blutlache liegen. Ich schrie lauter als alle anderen: „Hilfe!“ Da ich in meinem früheren Leben keine Gelegenheit gehabt hatte, solche Bilder zu sehen, war ich schlicht und einfach geschockt. Roxi und die Zigeunerin Gina standen herum und betrachteten interessiert den Körper am Boden. Sie versuchten, herauszufinden, ob Cindy tot oder noch am Leben war.
Krankenpfleger und Aufseher fassten sie unter den Armen und zogen sie schnell hinaus in den Gang, wo sie ihre aufgeschlitzten Arme mit Gummibändern abbanden. In der Hand hielt sie eine Rasierklinge. Sie hatte einen Rasierer auseinandergebaut und das scharfe Teil herausgeholt. Plötzlich kam sie zu sich und öffnete einen Spalt weit die Augen. Die Aufseher fragten sie laut und im Befehlston, wer ihr den Rasierer gegeben hatte. Sie zeigte mit dem Finger in meine Richtung und sagte, dass ich sie gezwungen hätte, das zu machen. Als Grund dafür hätte ich gesagt, dass sie auf meine Kosten von der Sozialhilfe lebte, dass ich für sie Steuern bezahlen würde, und so hätte ich das arme Mädchen beleidigt und erniedrigt.
Es ist wahr, dass ich tatsächlich keinen Respekt vor Menschen habe, die über zwei intakte Arme und Beine verfügen, aber auf Kosten anderer leben und dabei denken, sie wären die Klügsten. Vor allem, wenn sie dazu auch noch klauen, weil sie ja sonst zu wenig besitzen!
Die Zigeunerin trat stolz hervor und erklärte, dass der Rasierer ihr gehörte und die Verletzte mich aus Neid verleumdete. Cindy starrte die Zigeunerin streng und verächtlich an. „Du bist eine miese Schlampe, Kollegin!“
„Ich bin nicht deine Kollegin! Wir Zigeuner beklauen keine Armen, Alten und Behinderten, sondern helfen ihnen, wie wir nur können. Wir haben Ehre und Würde, die wir über Generationen von unseren toten Vorfahren überliefert bekommen.“
„Hahaha! Dass ich nicht lache! Ein ehrliches Kanakenweib. Du bist eine falsche Zigeunerfotze.“ Cindys Gesichtsausdruck wurde dabei trotzem bang und sogar ein wenig jämmerlich.
Dank Gina blieb mir die Isolierzelle erspart. Gott sei Dank! Auch meine Gefängnisstrafe wurde nicht aufgestockt, obwohl ich dicht davorstand. Zum ersten Mal im Leben war ich einer Diebin dankbar. Es war wirklich ein seltsames Gefühl. Ich versprach ihr sogar, sie in der Freiheit aufzusuchen und mich dankbar zu zeigen. Sie wohnte irgendwo in Bulgarien …
„Jana!“, rief Roxi mir zu. Ihre Zöpfe waren im Nacken festgesteckt. Sie zupfte mich an der Bluse.
„Was ist?“
„Wirst du weiter über mich schreiben?“
„Bis heute habe ich mich noch nicht von deiner Geschichte mit dem Elefanten erholt! Ich stelle mir vor, was für ein krasses Zeug da noch folgt!“
„Ich habe noch jede Menge lustiger Geschichten auf Lager.“
„Leg los!“
„Wo soll ich beginnen?“
„Mit deiner Kindheit. Dann weiß ich wenigstens, woher der Wind weht. Die Logik der Ereignisse, die dich hierhergebracht haben. Übrigens hat jede Nutte eine herzzerreißende Geschichte parat.“
„Na, das ist für die Kunden. Von dir kriege ich doch nichts, deshalb werde ich die Wahrheit sagen. In Wirklichkeit geht es mir gar nicht so schlecht. Aber im Zuchthaus klingt das natürlich irgendwie verloren.
Ich brauche von dir nichts, Jana. Ich will einfach irgendeine, wenn auch winzige, Spur für die Menschen hinterlassen.“
„Ein schwarzer Fleck soll es vielleicht werden, und nicht eine Spur. Und von Sünden wollen wir in diesem Buch natürlich schweigen, nicht wahr, mein Liebes? Da die ganze Story wohl aus ihnen besteht.“
„Du übertreibst mal wieder, Jana! Ich war übrigens eine der schönsten und prächtigsten Prostituierten!“
„Gut, so schreiben wir das jetzt auf! Nach Aussagen der geilsten Nutte namens Roxi, die jetzt Strafgefangene ist … – Fangen wir an!“
„Ich wurde in der Nähe der rumänischen Hauptstadt geboren. Das Städtchen hieß Lunguletu, ein gottverlassenes Nest, wo das einzig Schöne der Fluss Dâmbovița ist, der auch durch Bukarest fließt. In meinem Kaff geboren zu sein, könnte man mit dem ‚Glück‘ vergleichen, einen Geburtsort zu haben, der in etwa 95 Kilometer Entfernung von Moskau oder Kiew liegt. Weder Fisch noch Fleisch. Eine Einöde, Nirwana.
In meiner Kindheit war ich ein schönes Mädchen mit nudeldünnen Beinen, und mein glockenhelles Lachen wirkte auf alle um mich herum ansteckend. Es schien, als ob den Menschen gar nicht wichtig wäre, was ich da erzählte, weil die Zuhörer von vornherein darauf warteten, sich die Lachtränen aus den Augen zu wischen. Mein einzigartiger Charme ließ mich keinen Augenblick im Stich. Meine geraden, weißen Zähne mit der neckischen Zahnlücke verliehen mir etwas Teuflisches, Freches.
Wenn ich mir im Laden Spielzeug aussuchen durfte, nahm ich Dreizacke, Teufel mit Feuer und Galgen und briet im Spiel meine neidischen Klassenkameradinnen. Meine Augen glitzerten feurig, eingerahmt von meinem langen, pechschwarzen Haar. Ich war ein süßes kleines Mädchen, aber eine wilde Energie brodelte in mir.
Wir waren zwei Kinder, ich hatte einen jüngeren Bruder, mit dem ich immer herumalberte, was meine Mutter wütend machte. Sie war eine machthungrige Frau, Sternzeichen Löwe, und forderte von uns bedingungslose Unterwerfung, die sie aber nur meinem Brüderchen abtrotzen konnte. Mich dagegen musste sie fast zu Tode prügeln.“
„Also da liegt der Hund begraben! Ist das dein Familientrauma?“
„Das weiß ich nicht, das musst du entscheiden. Hör weiter.
Die Mutter schlug mich mit allem, was sie gerade in der Hand hatte, um mich zum Gehorsam zu zwingen, aber im Endeffekt erreichte sie ihr Ziel nie. Es war nutzlos, gegen mich Gewalt anzuwenden. Ich hätte mich nur dann bei jemandem entschuldigen können, wenn man mich nachsichtig und unter Berücksichtigung meines Alters und meiner halbwüchsigen Aufmüpfigkeit behandelt hätte. Ich hasste meinen Bruder wegen seiner Charakterschwäche und Kriecherei. Meiner Meinung nach war er ein Feigling. Wenn uns ein familiärer Anschiss drohte, schob er nicht nur alles auf mich, sondern fiel auf die Knie, versteckte sich hinter meinem Rücken und flehte die eiserne Lady um Verzeihung an. Ich dagegen wurde gnadenlos geprügelt, bis unser Vater kam und der Mutter den Riemen oder den Stock wegnahm, die so aufgebracht war, dass sie mich bis aufs Blut schlagen konnte.
Sehr lange konnte ich dieser Frau nicht vergeben, nicht einmal heute kann ich sagen, dass ich verziehen habe, obwohl wir später, nach vielen Jahren, doch noch enge Freundinnen geworden sind. Aber damals war sie für mich ein Erzfeind, ein Monster, ein Unmensch. Ich hielt mich für das unglücklichste Mädchen auf der Welt.“
„Warum hast du dich dem Willen deiner Mutter nicht gebeugt?“
„Jana, weißt du, auch wenn viele Leute den Horoskopen nicht glauben, Jungfrauen können den Menschen nicht verzeihen. Sie fordern erhöhte Aufmerksamkeit, wenn sie die nicht bekommen, machen sie in allem das Gegenteil.“
„Ich weiß … so bin ich ja selbst. Ich vergesse keine Beleidigung und verzeihe keinen Verrat.“
„Deshalb schien es mir damals, dass mein Leben zu Hause keinen Sinn mehr hatte, dass ich nicht geliebt wurde und niemand mich brauchte.“
„Was sagte deine Mutter? Wie erklärte sie, dass sie dir gegenüber so brutal war? Sie hat doch dadurch ihre Tochter für lange Jahren verloren.“
„Sie sagte, ich hätte sie provoziert, weil ich nie geweint und mich nie entschuldigt hätte. Ich hätte ihr nur immer hasserfüllt in die Augen geschaut, egal wie hart sie mich prügelte. Ich hätte sie vielleicht auch um Entschuldigung gebeten, wenn sie bloß nicht derart gerne handgreiflich geworden wäre und dabei nicht so geschrien hätte. Es ist dumm und unnütz, wenn Eltern sich so verhalten. Jahrelang überlegte ich jeden Tag einen Fluchtplan, um aus der, wie ich dachte, häuslichen Folterzelle zu entkommen.
Jetzt bin ich 27 Jahre alt und sitze hinter Gittern, da fällt es mir leichter, davon zu reden, dass ich ihre Handlungen verstehe und vielleicht verzeihen kann, sogar einen Teil meiner eigenen Schuld zu erkennen, aber damals war das leider nicht möglich.“
„Wie meinst du, woran sind Kinder in solchen Fällen schuld? An ihrem Ungehorsam? Wäre es nicht nötig gewesen, dass du deinen Charakter überwunden und dich wie dein Bruder hingekniet hättest, um der Dresche zu entgehen?“
„Ja, vielleicht. Aber woran ist sie schuld gewesen? Daran, dass sie sich richtige Kindererziehung eben so vorgestellt hat? Ja, ihre Methode, mit Kindern umzugehen, mag falsch sein, aber es war eben ihre persönliche Erziehungstheorie. Und wohin hat mich meine Unabhängigkeit gebracht? Wo sitzen wir jetzt? Etwa in einem Chalet in Alpen bei einem Glas Weißwein und einer Schweizer Käseplatte? Nein, in einer verrauchten Gefängniszelle! Und wir wissen nicht, welches Ende uns erwartet. Hast du gesehen, was mir der Staatsanwalt als Haftdauer in der Akte geschrieben hat? Ungefähr 20 Jahre. Sie werfen mir Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vor.“
„Hör auf! Sie haben einfach alle Paragrafen aufgezählt, nach denen du angeklagt wirst, und das Ergebnis in deine Akte geschrieben. So eine Haft bekommst du nie im Leben. Du bist doch nicht Jack the Ripper.“
„Meinst du? Ich habe große Angst! Ich bin zum ersten Mal hinter Gittern und kenne mich schlecht mit den Gesetzen aus.“
„Ich verspreche es dir. Wobei ich allerdings auch zum ersten Mal im Knast bin. Aber überstürze nichts. Der Staatsanwalt versucht, dich einzuschüchtern und zum Reden zu bringen. Er will die Wahrheit herausfinden und dich verdonnern. Das ist seine Arbeit.“
„Ich bin am Boden zerstört. Ich glaube, dass ich in meinem Leben auf einer völlig falschen Spur war.“
„Ja klar! Bis zum Sex mit Elefanten zu sinken! Da musst du dir schon Mühe gegeben haben …“
„Meine Mutter hatte etwas zerrüttete Nerven wegen meines Vaters. Sie hat ihn mit 17 geheiratet, da war sie schon schwanger. Sie erwartete ihren Erstling, nämlich mich, als sich herausstellte, dass er schon längst eine Liebesaffäre mit einer Arbeitskollegin hatte. Sie spähte das süße Pärchen aus. Die beiden turtelten auf einer Bank im Zentralpark. Das gekonnt zerzauste Haar der Rivalin und ihr verlockender Blick ließen die Augen des Mannes leuchten und er lächelte wie ein Märzkater. Mit schwerem Bauch stand meine Mutter hinter einem Baum, beobachtete ihren Liebsten und die Tränen kullerten ihr über die Wangen. Sie hätte sich fast laut gefragt, wie sie, eines der schönsten Mädchen der Stadt, sich in dieses Arschloch verlieben konnte.“
„Na ja, das ist eine triviale Geschichte. Wir Frauen sind widerspenstige Masochistinnen, und die Männer sind nicht besser. Die Beziehung ist eine Art Sparring, in dem der verliert, der mehr liebt.“
„Meine Mutter hat ihrem Liebsten von dem Vorfall im Park nichts gesagt. So grenzenlos herrisch sie auch war, beherrschte sie wie kaum eine andere die Kunst der Geschlechterbeziehung und war eine gute Schauspielerin. Schade, aber wegen dieses Zwischenfalls verlief ihre Schwangerschaft kummervoll und stressig. Sie hatte eine Hormonstörung, Probleme mit der Schilddrüse und so weiter.
Ihr Mann kam einen Tag nach der Entbindung, betrunken und unrasiert ins Krankenhaus. Ohne seine Tochter nur eines Blickes zu würdigen, schleuderte er ihr den Blumenstrauß, der schon längst nicht mehr frisch war, vor die Füße, drehte sich um und lief wie gesengt aus der Geburtsklinik. Die arme Frau weinte bitterlich und schaute lange aus dem Fenster in der Hoffnung, die Gestalt ihres geliebten, betrunkenen Dummkopfes in der Ferne zu erblicken. Aber leider hielt der frischgebackene Vater es nicht für nötig, zurückzukommen. Er war ein waschechter Rumäne und wollte als Erstling einen Jungen haben. Eine Tochter war für ihn so etwas wie eine Beleidigung seiner Sippe. Deshalb blieb die Erziehung des Kindes völlig der Mutter überlassen.“
„Jetzt verstehe ich, warum dein Bruder mit allem davonkommen konnte.“
„Ja, er war ein lang ersehntes Wunschkind für beide Eltern. Für die Mutter verkörperte er den Familienfrieden, die Ruhe im Nest und die Rückkehr der Liebe ihres Mannes. Für den Vater war er sein ganzer Stolz! Und ich war ein Gegenstand von Misshelligkeiten und ein Paria. Manchmal gab mir meine Mutter Geld, damit ich zu Hause leise war. Je stiller ich mich verhielt, wenn ich weder hustete noch nieste, desto höher war meine Belohnung. Sie hatte sogar Angst, mich ihrem Mann zu zeigen. So hoffte sie, die Unannehmlichkeiten und unnötige Gespräche zu vermeiden. Ich fühlte mich wie ein unerwünschtes Geschöpf, das nur ein Grund für Missverständnisse und Sorgen war. Bis mein Bruder auf die Welt kam, ging der Vater fremd, darum ließ meine Mutter ihre Wut und Emotionen an mir aus. Ich merkte, dass sie mir die Schuld an ihrem schweren Schicksal gab.“
„Sie glaubte also, dass du sie unglücklich gemacht hast? Weil du nicht als Junge geboren wurdest?“
„Ja, irgendwie so sah die Situation aus.“
„Schrecklich! Warum sind die Eltern manchmal so dumm?“
„Weil sie jung und unerfahren sind.“
„Denkst du, ist es richtig, dass die Frauen lieber erst mit Anfang dreißig Kinder zu bekommen?“
„Ich denke schon. Als meine Mutter älter wurde, wurde auch ihre Gesellschaft für mich angenehmer und leichter zu ertragen. Sie war wirklich so unglücklich wegen der frühen Geburt, dass sie ab einem gewissen Punkt die Selbstkontrolle verlor. Sie hatte ja keine nennenswerte Hilfe, als sie das Kind bekam. Sie saß mit ihrem Baby am Fenster und wartete auf ihren untreuen Ehemann, während vor ihren Augen gutgelaunte Altersgenossinnen in Miniröcken in die Disco, ins Theater oder Kino gingen. Da bemerkte sie gar nicht, dass sie mich unwillkürlich zu hassen begann. Mein Vater sträubte sich ja bis zum letzten Moment, sie zu heiraten. Aber meine Mutter gab sich alle Mühe, um ihren Verlobten fest an sich zu binden. Mit Liebeszauber, Gebeten und Tränen flehte sie gleichzeitig Gott und den Teufel an, ihre Liebe zu retten und den Mann zu der unwiderruflichen Entscheidung zu bringen, sie zu heiraten. Seine vorbildlichen, wohlhabenden Verwandten waren strikt gegen diese Heirat, selbst die künftigen Enkel wollten sie nicht als Sippenangehörigen anerkennen. Sie hielten ihr Blut für schlecht und verdorben.“
„Woran lag diese Aggression seitens der Schwiegereltern? Stammte deine Mutter aus einer armen Familie?“
„Ihre Familie war nicht bloß arm, sondern regelrecht bettelarm, aber darum ging es nicht.“
„Sondern?“
„In unserer Familie gab es Mörder. Der leibliche Bruder meiner Mutter hatte den Sohn ihrer Kusine umgebracht, einen Säugling.“
„Oh Gott! Ein Kind? Warum das denn?“
„Die Eltern baten meinen Onkel, auf das Baby aufzupassen, höchstens für drei Stunden, weil die Eltern zu einem Konzert ihres Lieblingssängers gehen wollten. Als sie wieder nach Hause kamen, fanden sie das Kind leblos mitten im Zimmer, einen Meter von der Wiege entfernt. Der Onkel war vom Tatort geflohen.“
„Wie konnte das denn passieren?“
„Er war durchgedreht. Das medizinische Gutachten ergab, dass der kleine Petre starke Bauchschmerzen hatte, und anscheinend schrie er pausenlos. Der Mann warf ihn heftig auf den Boden und einige Sekunden später war es im Haus für immer still …“
„Weißt du, da schaudert es mich als Mutter geradezu vor Schrecken. Jetzt ist mir klar, woher deine Mutter ihre sadistischen Neigungen hatte. Das ist genetisch bedingt.“
„Ja, ganz richtig. Mütterlicherseits haben wir grundsätzlich nur Verbrecher in der Familie. Nach Petres tragischem Tod wurden noch drei leibliche Brüder meiner Mutter wegen Gründung einer kriminellen Vereinigung verhaftet; sie hatten von kleinen Geschäftsleuten auf Märkten und an Verkaufsstellen Geld erpresst. Es war eine Gruppe hartgesottener bewaffneter Schläger, die die ganze Stadt eingeschüchtert hatte. Auch die Eltern des schicken Bräutigams meiner Mutter zählten zu den Opfern der Erpresser. Wenn die Geschäftsleute zu protestieren wagten, wurden sie von den Banditen zusammengeschlagen und sogar entführt und gefoltert. Kannst du dir den Zustand der jungen Frau vorstellen, die gerade ein Kind bekommen hatte? Völlig verzweifelt und ratlos stand sie vor der Wahl zwischen ihren leiblichen Brüdern, die zur Unterwelt gehörten, und dem Mann, den sie liebte.“
„Warum hat er sich mit ihr überhaupt eingelassen?“
„Das ist die Sache – er liebte sie nicht weniger als sie ihn!“
„Und darum ist er fremdgegangen? Aus übergroßer Liebe? Eine seltsame Logik!“
„Das erscheint vielleicht seltsam, aber es war so. Er wollte sie verlassen, auf sie verzichten, oder besser gesagt, sich von dieser kriminellen Familie lösen. Er quälte sich selbst und die anderen, konnte sich aber nicht für irgendeinen ernsthaften Schritt entscheiden. Im Gegensatz zur Mehrheit der Menschen, die sich größer aufspielen, als sie in Wirklichkeit sind, verfiel mein Vater in eine Art umgekehrten Snobismus und prahlte mit seiner Deklassierung: Unaufhörlich betonte er seine einfache Herkunft und die Armut seiner Vorfahren. Auf keinen Fall wollte er sich als Bourgeois bezeichnen. Die Verwandten gingen ihm auf die Nerven, was er wiederum für unterbelichtete Ignoranz hielt, musste es aber dabei als existierende Realität hinnehmen. Sie brachten absurde Argumente vor, dass das Kind nicht von ihm wäre, und verleumdeten meine Mutter. So säten die Verwandten nach und nach die Zweifel und zerrissen ihm das Herz.“
„Der Einfluss der Familie ist tatsächlich ein sehr starkes Ding. Das ist klassischer Linksradikalismus, ich weiß es aus eigener Erfahrung. Sie können jeden von jedem trennen und Leute miteinander in Zwist bringen!“
„Jedenfalls wurde sie nach der Geburt des Kindes mit allerlei Anschuldigungen und Erniedrigungen überschüttet. Die junge Mutter hatte Angst, vor die Tür zu gehen. In dem Städtchen wohnten bei Weitem nicht nur freundliche Leute. Sie schrien ihr hinterher, sie wäre eine kriminelle Schlampe mit einer außerehelichen Tochter. Dabei beschützten die Brüder ihre Schwester und drohten den Eltern der Rotzbuben, die sie beleidigten.“