Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien

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(Otto Eduard Leopold von Bismarck-Schönhausen, ab 1865 Graf von Bismarck-Schönhausen, ab 1871 Fürst von Bismarck, ab 1890 auch Herzog zu Lauenburg (* 1. April 1815 in Schönhausen (Elbe); † 30. Juli 1898 in Friedrichsruh bei Aumühle), war ein deutscher Politiker und Staatsmann)
‚Die russische Regierung legt großen Wert darauf, des Mendelssohns habhaft zu werden, und ich halte es aus politischen Rücksichten für angezeigt, diesem Wunsche unsererseits tunlichst entgegenzukommen. Die Ausweisung würde rechtlich zulässig sein, selbst wenn sie nur aus Gefälligkeit gegen die russische Regierung geschähe.‘
„Sodann heißt es in einem Erlass nach St. Petersburg: Ew. pp. wollen sich darüber Gewissheit verschaffen, ob seitens der russischen Regierung ... betreffs dieser Ausweisung ( i. e. Mendelssohn und Genossen) noch besondere Wünsche bestehen. In einem damaligen Memorandum des Auswärtigen Amtes über den Fall Mendelssohn hieß es am Schluss: Russischerseits wird dieser Ausgang der Sache unseren inneren Behörden als ein Mangel an Willfährigkeit ausgelegt. Dazu bemerkt Fürst v. Bismarck in einem eigenhändigen Marginal: ‚Mit vollem Recht, und das Verhalten steht mit den Anstrengungen, die ich mache, um Vertrauen in Petersburg zu wecken, in einem für unsere russischen Beziehungen schädlichen Widerspruch.‘ „Endlich finden sich in einem vom Fürsten v. Bismarck selbst unterzeichneten Erlasse an unseren damaligen Geschäftsträger in Petersburg folgende Sätze: ‚Das eingeschlagene Verfahren steht mit meinen Intentionen in direktem Widerspruch, und ich bedaure lebhaft, dass ... der russischen Regierung begründeter Anlass gegeben worden ist, an der Aufrichtigkeit der ihr früher erteilten Zusage zu zweifeln.‘ Deutsch, der von der russischen Regierung als Nihilist bezeichnet wurde, war auf deren Antrag von der badischen Regierung ausgeliefert und später vom Militärbezirksgericht in Odessa zu Zwangsarbeit verurteilt worden. Zur Charakteristik des Standpunkts des ersten Reichskanzlers dienen folgende Stellen aus den Fall Deutsch betreffenden Akten des Auswärtigen Amtes. In einem Erlass an den preußischen Gesandten in Darmstadt sagt im Auftrag des Fürsten Bismarck der Staatssekretär Graf Hatzfeldt:

Melchior Hubert Paul Gustav Graf von Hatzfeldt zu Wildenburg – 1831 – 1901
‚Ich bemerke ergebenst, dass es für unsere politischen Beziehungen zu Russland nützlich sein würde, wenn in diesem Falle dem berechtigten Wunsche der russischen Regierung, eines von ihr als gefährlich und verwegen bezeichneten, aus russischen Gefängnissen flüchtig gewordenen russischen Revolutionärs habhaft zu werden, unsererseits entgegengekommen werden könnte.‘ Ein Schreiben desselben Staatssekretärs an das Großherzoglich badische Staatsministerium enthält folgenden Passus: ‚Da der Deutsch in Russland wegen gemeiner Verbrechen verfolgt wird und überdies aus politischen Gründen Wert darauf zu legen ist, in diesem Falle den Wünschen der russischen Regierung gerecht zu werden, glaube ich mich der Hoffnung hingeben zu dürfen, dass das Großherzogliche Staatsministerium bereit sein werde, seine Mitwirkung dazu eintreten zu lassen, um den Verhafteten in die Hände der russischen Behörden zu liefern.‘ In einem über diese Angelegenheit Seiner Majestät dem Kaiser erstatteten Immediatbericht sagt Fürst Bismarck: ‚Für den Fall jedoch, dass sich diese Beibringung
– nämlich der zur Auslieferung erforderlichen Beweisstücke – verzögern sollte, wünscht sie – nämlich die russische Regierung –, dass die Ausweisung des Genannten in einer Weise ausgeführt werde, welche es den russischen Behörden ermögliche, ihn auf russischem Gebiet zu ergreifen. Seine Majestät der Kaiser von Russland nimmt persönlich großes Interesse daran, dass der von seiner Regierung ausgesprochene Wunsch erfüllt werde. Für die Pflege unserer Beziehungen zu Russland ist es nach meinem ehrfurchtsvollen Dafürhalten von Wichtigkeit, dass unsererseits alles geschieht, um dem gedachten Wunsche zu entsprechen.‘ In einem ebenfalls von dem Fürsten selbst unterschriebenen Erlass an das Großherzoglich badische Staatsministerium heißt es: ‚Seine Majestät der Kaiser von Russland legt großen Wert darauf, dass dieser gefährliche und in anderen Verbrechen implizierte Nihilist in Russland zur Untersuchung gezogen werden könne. Die Erfüllung oder Versagung dieses Begehrens wird deshalb nicht ohne Rückwirkung auf die Empfindungen bleiben, welche der Kaiser Alexander der deutschen Politik gegenüber hegt, und welche durch unsere auswärtige Politik im Interesse des Friedens mit Sorgfalt und Erfolg gepflegt worden sind. Nach der Verfassung Russlands sind die persönlichen Überzeugungen und Eindrücke des Kaisers maßgebend für die Politik unseres großen Nachbarreiches. Unter diesen Umständen ist es aus politischen Rücksichten wichtig, dass den Wünschen der russischen Regierung entsprochen werde. Sollte die Auslieferung dennoch versagt werden, so würde das Auswärtige Amt und die Diplomatie die Verantwortlichkeit für die Rückwirkung der Versagung auf die Beziehungen des Reiches zu Russland ablehnen müssen.‘ So weit Fürst Bismarck. Ich füge hinzu, dass von uns während der letzten fünf Jahre nur drei russische Revolutionäre über die russische Grenze ausgewiesen worden sind, und zwar waren dies zweifellose Anarchisten, die wir selbst nicht behalten konnten, und deren Übernahme wir auch anderen Ländern nicht zumuten konnten.
Siehe Band 157e in dieser gelben Buchreihe

Außer diesen drei notorischen Anarchisten, die über die russische Grenze ausgewiesen worden sind, sind noch eine größere Anzahl politisch verdächtiger Personen der Ausweisung als lästige Ausländer verfallen. Aber kein einziger dieser politisch Verdächtigen ist über die russische Grenze abgeschoben worden. Ich erkläre also, dass alles, was hier vorgebracht worden ist über angebliche Liebedienerei der deutschen Behörden gegenüber russischen Behörden, über eine angebliche Schwäche der deutschen Regierung gegenüber der russischen Regierung, – dass das alles der Wahrheit nicht entspricht.“
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„Nun ist heute auch gesagt worden, es sei sehr schwierig, zu definieren, wer eigentlich Anarchist sei, und welche Handlungen als anarchistische zu betrachten und zu behandeln wären. In der Theorie mag das schwierig sein, wenn es sich z. B. um die Redaktion eines Gesetzentwurfs handelt. In der Praxis liegt die Sache aber doch bedeutend einfacher. Ich glaube, dass niemand in diesem hohen Hause ist, der daran zweifelt, dass Schriften, wie sie neulich mein verehrter Nachbar, der hier neben mir sitzt, der Herr Justizminister, im preußischen Abgeordnetenhause verlesen hat, einen anarchistischen Charakter tragen. Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass die Bestimmung, auf welche Russen sich die Beobachtungstätigkeit des russischen Agenten zu erstrecken hat, und über wen ihm Auskunft zu erteilen ist, in Deutschland lediglich den deutschen Behörden zusteht. Diese haben die Pflicht, darüber zu wachen, dass der russischen Polizei nicht weiter, aber so weit Hilfe geleistet wird, wie dies der Zweck der solidarischen Bekämpfung des Anarchismus erheischt. Kommen dabei Fehlgriffe vor, so werden sie korrigiert werden. Von Maßnahmen gegen russische Liberale oder gar gegen deutsche Staatsangehörige ist gar nicht die Rede. Es ist noch keinem russischen Studenten, der sich bei uns bilden, der in unseren Hörsälen, in unseren Universitäten der Wissenschaft leben will, irgendwelches Hindernis in den Weg gelegt worden. Die fremden Studenten werden bei uns mit derselben Liberalität behandelt wie die einheimischen. Aber die Entscheidung darüber, was Fremde bei uns tun und was sie nicht tun dürfen, steht der Regierung dieses Landes zu, nicht fremden Nihilisten und ihren Beratern und Helfern von der sozialdemokratischen Partei. Und wenn die fremden Herren sich bei uns so mausig machen, wie sie dies in der letzten Zeit getan haben, wenn sie so impertinente Erklärungen verfassen, wie sie Herr Bebel soeben verlesen hat, und wie sie in der Tat die hiesigen slawischen Studenten unter Führung des Herrn Mandelstamm und Silberfarb vor einiger Zeit vom Stapel gelassen haben, so werde ich dafür sorgen, dass solche Leute ausgewiesen werden. In keinem Lande der Welt würde ein solcher Unfug von Fremden geduldet werden. In keinem anderen Lande würden Fremde sich das herausnehmen. Mitleid und Nachsicht dort, wo sie am Platze sind, Duldung und Schutz für solche, die sich unter unsere Gesetze stellen und sie beobachten, und die sich anständig aufführen. Aber wir sind in Deutschland noch nicht so weit gekommen, dass wir uns von solchen Schnorrern und Verschwörern auf der Nase herumtanzen lassen. Für ein Laboratorium mit nihilistischen Sprengstoffen sind wir zu gut.“
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Den „Schnorrern und Verschwörern“ wurde die Quittung bald darauf überreicht: Mandelstamm und Silberfarb mit noch 12 russischen Studenten wurden ausgewiesen. Der Zar wird jetzt überzeugt sein, dass man in Berlin Wert darauf legt, dass die von der russischen Regierung ausgesprochenen Wünsche prompt erfüllt werden.
„Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt!“
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Reise nach Deutschland
Reise nach Deutschland
Anfang März 1884 reiste ich aus Zürich über Basel nach Freiburg in Baden. Zweck meiner Reise war, eine Partie russischer sozialistischer Schriften, die in der Schweiz gedruckt waren, über die Grenze zu schmuggeln, um sie dann auf geheimen Wegen nach Russland, wo sie natürlich verboten waren, gelangen zu lassen. In Deutschland herrschte damals das Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie; das Zentralorgan der deutschen Arbeiterpartei, der „Sozialdemokrat“, wurde in Zürich hergestellt und musste gleichfalls über die Grenze geschmuggelt werden.

Die Bewachung der Grenze war daher sehr scharf, und das erschwerte auch die Versendung der russischen, polnischen und anderen revolutionären Schriften, die in der Schweiz gedruckt wurden, nach Russland. Vor dem Erlass des Ausnahmegesetzes, das heißt bis zum Herbst 1878, war die Prozedur einfach: die Schriften wurden per Post nach einer Stadt in Deutschland nahe der russischen Grenze gesandt und von dort aus auf diesem oder jenem Wege nach Russland geschafft. Seit jener Zeit aber mussten diese Schriften im Reisegepäck über die deutsche Grenze geführt werden, um der Zollrevision zu entgehen, und wurden alsdann aus einer deutschen Stadt nach der russischen Grenze gesandt. Einen solchen Transport zu besorgen, war ich aufgebrochen.
Mein Reisegepäck bestand aus zwei großen Koffern, die zur Hälfte mit Büchern gefüllt waren, während obenauf Wäsche und Kleider lagen, um die Zollbeamten nicht argwöhnisch zu machen; in dem einen Koffer führte ich Wäsche und Herrenkleider, in dem anderen Damenkleider, die angeblich meiner – in Wirklichkeit nicht existierenden – Gattin gehören sollten. Deshalb war bei der Zollvisitation in Basel auch eine Dame zugegen, die Frau meines Freundes Axelrod aus Zürich. Sie hatte sich sogar erboten, die Koffer weiter zu transportieren, weil sie, im Falle die Polizei Verdacht schöpfen sollte, sich geringerer Gefahr aussetzte als ich. Da aber die Zollvisitation glatt abgelaufen war und ich nicht daran glauben wollte, dass weiterhin irgendwelche Schwierigkeiten entstehen könnten, lehnte ich dieses Anerbieten ab.
Außer Frau Axelrod hatte mich ein Baseler, der Sozialist G., zur Bahn begleitet, der mich auch mit Informationen versehen hatte, wie ich weiterhin mit meiner gefährlichen Sendung verfahren sollte, er war in diesen Sachen ziemlich beschlagen und hatte schon manchen Transport geleitet. Noch vor einigen Tagen war er auf meine Empfehlung hin mit einem mir bekannten Polen namens Jablonski nach Freiburg gereist, von wo aus sie gemeinsam einen Posten polnischer Schriften versendet hatten.
Beim Abschied empfahl mir G. einen billigen Gasthof in Freiburg, in nächster Nähe des Bahnhofs, und guter Dinge stieg ich in einen Wagen dritter Klasse.
Es war ein Sonntag, und der Wagen war von Ausflüglern in ausgelassener Sonntagsstimmung dicht besetzt. Lieder wurden angestimmt, und ungezwungenes Geplauder erfüllte den Raum. Der Schaffner war – wie damals sehr oft auf den deutschen Bahnen, ob es heute noch so ist, weiß ich nicht – ein recht grober und aufgeblasener Patron. Da er bemerkte, dass ich rauchte, schnauzte er mich sofort mit allem Diensteifer an, es sei ein Nichtraucherwagen. Ich entgegnete ihm höflich, ich hätte die Aufschrift nicht bemerkt, warf meine Zigarette fort und erklärte, ich werde nicht rauchen, da ich nicht weit reise. Der Mann bestand trotzdem in aufdringlicher Weise darauf, dass ich den Wagen wechsle. „Ein schlechtes Omen“, fuhr es mir, wie ich mich heute noch erinnere, bei dieser Geschichte durch den Sinn. Ich war schlecht gelaunt, fühlte mich unbehaglich, gereizt. Dabei war das Wetter schauderhaft, kalter Regen rieselte herab, und das wirkte mir auf die Nerven.
Der Zug setzte sich in Bewegung, und ehe ich mich dessen über meinen griesgrämigen Grübeleien versah, waren wir in Freiburg. Es war gegen 7 oder 8 Uhr abends. Auf dem Perron angelangt, suchte ich den Hausdiener des „Freiburger Hofes“ und übergab ihm mein Handgepäck und den Gepäckschein. Er bemerkte sofort das in dem Scheine verzeichnete bedeutende Gewicht der Koffer und drückte seine Verwunderung darüber aus. Um etwaigem Argwohn vorzubeugen, erklärte ich ihm in aller Ruhe, ich führte viele Lehrbücher mit, da ich Student sei und an der Universität in Freiburg studieren wolle.
Der Gasthof war bald erreicht und ein Zimmer gefunden, worauf ich mich in das Restaurant begab, um das Abendessen zu nehmen. Als ich am Büfett vorbeiging, sah ich den Hausdiener eifrig mit einem anderen Manne, augenscheinlich dem Hotelier, flüstern. Kaum hatte ich gegessen, als mir der Kellner das Meldebuch präsentierte. Da ich einen russischen Reisepass bei mir führte, den mir ein Freund zur Verfügung gestellt hatte, schrieb ich ohne weiteres den Namen „Alexander Buligin aus Moskau“ ein.
Ich bestellte darauf Schreibzeug und begab mich auf mein Zimmer. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, als angeklopft wurde. Auf mein „Herein!“ erschien an Stelle des Dieners mit dem Schreibzeug, den ich erwartet hatte, ein Schutzmann in Begleitung eines Herrn in Zivil.
„Ich bin Beamter der Geheimpolizei“, stellte sich der letztere vor. „Gestatten Sie, dass ich nachsehe, was Sie in Ihren Koffern haben.“
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Verhaftung in Freiburg
Verhaftung in Freiburg

„Da Freiburg in der Nähe der Grenze liegt, so wittert die Polizei, der der Hoteldiener die Ankunft eines jungen Menschen mit auffallend schweren Koffern gemeldet hat, Konterbande, oder gar man hält mich für einen Anarchisten und glaubt, ich führe Dynamit mit mir, ,fuhr es mir durch den Sinn. Ich suchte also eine möglichst harmlose Miene aufzusetzen, obgleich ich fühlte, dass die Sache schief ging. Mit dem Öffnen der Koffer beschäftigt, ließ ich wie von ungefähr die Bemerkung fallen, dass der eine die Garderobe meiner Frau enthalte, die ebenfalls hier eintreffen werde.
Kaum hatten sich die Herren über den Koffer hergemacht, ich schon, dass meine Annahme in Bezug auf Konterbande falsch war: der Beamte fahndete offenbar weder auf Konterbande noch auf Dynamit, sondern gerade auf Bücher, denn er begann sofort diese zu mustern. Ich schloss daraus, dass man bei mir deutsche sozialdemokratische Schriften suche. Desto mehr war ich verblüfft, als der Polizist beim Anblick eines kleinen Buches in rotem Umschlage triumphierend rief: „Da haben wir's ja!“
Es war das der „Kalender der Narodnaja Wolja“, ein Buch, das vor Jahresfrist erschienen war und offen in den Buchhandlungen Deutschlands verkauft wurde. „Jetzt muss ich eine körperliche Visitation an Ihnen vornehmen“, erklärte mir der Geheimagent.
Außer einem Notizbuch, einem Brief und einer Brieftasche mit einigen Hundertmarkscheinen fand sich in meinen Taschen noch ein Dutzend Nummern des Züricher „Sozialdemokrat“, die ich mitgenommen hatte, um sie einem russischen Freunde in Deutschland zu senden.
„Na, das kann man wenigstens lesen!“ erklärte hocherfreut der „Geheime“, als er den Titel gesehen. „Jetzt verhafte ich Sie!“
„Wieso, warum?“ fragte ich betroffen.
„Das werden Sie schon erfahren; kommen Sie mit!“ war die Antwort.
Das Vorgehen der Beamten war in jeder Hinsicht sonderbar: von Erfüllung der gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der persönlichen Sicherheit war keine Rede; die Durchsuchung wurde vorgenommen, ohne dass ein richterlicher Befehl vorlag, Zeugen waren nicht zur Stelle, ein Protokoll über das Ergebnis der Durchsuchung wurde nicht aufgesetzt. Schließlich musste ich selber darauf dringen, dass die Beamten wenigstens in meiner Anwesenheit das Geld nachzählten, das sich in der beschlagnahmten Brieftasche befand, obgleich das natürlich eine recht ungenügende Garantie für die Sicherheit meines Eigentums war.
Als ich nun als Gefangener zwischen den beiden Schutzengeln die Treppe hinabstieg, kam uns eine junge Dame mit einer kleinen Reisetasche in der Hand entgegen. Der Beamte fragte mich, ob dies etwa meine Frau sei? Trotz meiner verneinenden Antwort, versuchte er die Dame anzuhalten. Sie mochte glauben, es mit einem Don Juan zu tun zu haben, und floh unter lautem Geschrei auf die Straße. Der Geheimagent gab nun dem Schutzmann den Befehl, mich weiterzuführen, und lief der Unbekannten nach.
Der Schutzmann versuchte nun, mich am Arm zu fassen und so über die Straßen zu führen, doch widersetzte ich mich schroff einer derartigen Behandlung, indem ich erklärte, ich hätte kein Verbrechen begangen, und es liege für ihn keine Berechtigung vor, in dieser Weise mit mir umzugehen.
So gelangten wir in das Freiburger Untersuchungsgefängnis. Hier wurde ich abermals einer körperlichen Visitation unterzogen, und ein Beamter richtete jetzt, zum ersten Mal seit meiner Verhaftung, an mich die Frage nach meinen Personalien. Bald erschien auch der Geheimagent und führte die Dame herein, die laut weinte, ihre absolute Unschuld beteuerte und in höchster Aufregung unter lautem Geschrei Aufklärung verlangte, weshalb man ihr diese Schmach antue. Nach all den vorangegangenen Erlebnissen seit meiner Ankunft in Freiburg setzte mich die Szene in die höchste Erregung.
„Was ist denn das?“ herrschte ich den Beamten an. „Wie können Sie sich unterstehen, die Dame zu belästigen? Ich wiederhole nochmals, ich kenne sie nicht, es ist nicht meine Frau, ich habe sie nie im Leben gesehen.“
„Nun, das wird sich zeigen, das ist meine Sache! Es geht Sie gar nichts an, wen wir verhaften!“
„Nette Zustände! Ganz wie bei uns in Russland“, dachte ich. Darauf wurde mir befohlen, einem Wächter zu folgen, der mich in das erste Stockwerk begleitete.
Kreischend flog das Schloss einer Zellentür auf: ich befand mich im großherzoglichen badischen Gefängnis! Die Zelle war, nachdem der Wärter mit der Laterne sich entfernt, vollkommen finster, und absolute Stille umgab mich. Mangel an Licht, sowohl in den Zellen als auf den Gängen, gehörte hier zur Hausordnung.
Ich orientierte mich, so gut es ging, indem ich tastend die Wände entlang schlich, fand ein Bett und warf mich angekleidet nieder. Meine Sinne tobten chaotisch durcheinander; ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, vermochte mir keine Rechenschaft über das Geschehene zu geben. Das Schicksal brach über mir zusammen, meine Kraft war gelähmt. Wüste Träume ließen mich die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen; fortwährend fuhr ich aus dem Schlummer auf, nicht imstande, mir klar zu machen, wo ich war und was mit mir vorgeht. Als ich endlich mit äußerster Willensanstrengung so weit war, meine Lage einigermaßen klar zu überlegen, erfasste mich Verzweiflung: Die Auslieferung nach Russland stand mir bevor, das war im ersten Augenblick die feste Sicherheit für mich! Zwar bestand damals kein Auslieferungsvertrag zwischen Russland und Deutschland in Bezug auf politische Flüchtlinge, [Ein solcher Vertrag wurde erst im Herbst 1885 geschlossen.] doch hatte ich Gründe, anzunehmen, dass man mich ausliefern würde. – Um dem Leser klar zu machen, was das für mich bedeutete, muss ich einiges aus meiner Vergangenheit mitteilen.
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Aus der revolutionären Vergangenheit
Aus der revolutionären Vergangenheit
Genau zehn Jahre vor den geschilderten Vorgängen – im Jahre 1874 – hatte ich mich, damals ein Jüngling von neunzehn Jahren, der sogenannten „propagandistischen Bewegung“ angeschlossen, die zu jener Zeit einen bedeutenden Teil der studierenden Jugend in allen Gegenden Russlands erfasst hatte. Wie die meisten der jugendlichen „Propagandisten“ war ich hierbei geleitet von unendlichem Mitleid für die Leiden und Entbehrungen des Volkes. Nach unseren Anschauungen war es heilige Pflicht eines jeden ehrlichen und konsequenten Menschen, der sein Vaterland wirklich liebte, alle Kräfte in den Dienst der Befreiung des Volkes von dem wirtschaftlichen Drucke, der Versklavung, der Barbarei, in der es gehalten werde, zu stellen. Die Jugend, die stets des lebhaftesten Mitgefühls mit dem Unglück anderer fähig ist, konnte nicht gleichgültig bleiben angesichts der trostlosen Lage, in welcher sich der kurz vorher von der Leibeigenschaft befreite Bauer befand. Als einziges Mittel, die bestehende elende materielle Lage und den ganzen auf dem Volke lastenden Druck zu beseitigen, erschien den „Propagandisten“ die soziale Umwälzung in Russland; der Lehre der Sozialisten Westeuropas folgend, stellten sie sich als Ziel die Abschaffung des Privateigentums an Boden und den Produktionsmitteln und die Überführung derselben in Kollektivbesitz. Die „Propagandisten“ waren fest überzeugt, das Volk würde ohne weiteres ihre Ideen und Bestrebungen erfassen und auf den ersten Appell sich ihnen anschließen. Dieser Glaube erzeugte unendliche Begeisterung, spornte zu schrankenloser Aufopferung für die einmal erfasste Idee an. Die jungen Männer und Mädchen zögerten keinen Augenblick, ihrer bevorzugten sozialen Lage, der gesicherten Zukunft, die jedem von ihnen innerhalb der bestehenden Ordnung winkte, zu entsagen; ohne jedes Bedenken verließen sie die Lehranstalten, zerrissen rücksichtslos jegliche Familienbande, schlugen ihr persönliches Schicksal in die Schanze, um nur der Idee zu leben, um sich rückhaltlos dieser Idee zu opfern, um alle Kräfte und Mittel der heiligen Sache des Volkes dienstbar zu machen. Jedes persönliche Opfer schien diesen jugendlichen Kämpfern nicht einmal der Rede wert, wo es sich um die große Sache handelte. Die gemeinsamen Ideale, das gemeinsame Ziel und der allen eigene Enthusiasmus ließen die „Propagandisten“ zu einer einzigen, mit allen Herzensbanden zusammenhängenden Familie werden. Es bildete sich ein wahrhaft brüderliches, herzliches und intimes Verhältnis zwischen allen diesen Leuten heraus, vollendeter Altruismus beherrschte sie, und einer war für den anderen zu jedem Opfer bereit. – Nur in den großen geschichtlichen Momenten, zur Zeit des Martyriums der ersten Christen und der Verfolgung religiöser Sekten, mögen unter den Proselyten derartige persönliche Beziehungen und derartige gehobene Stimmungen geherrscht haben. [Der Leser, der sich für diese Periode der russischen revolutionären Bewegung eingehender interessiert, findet Näheres in dem Werke des Professors Peter Martin Alphons Thun (1853 – 1885): „Die Geschichte der revolutionären Bewegung in Russland“, und Stepnjak, „Das unterirdische Russland“.] Jedoch auch in dieser erlesenen Schar fanden sich, wie das ja überall bei solchen Bewegungen der Fall war, einzelne, die der Strömung nicht gewachsen waren; es fanden sich in ihrer Mitte einige Kleinmütige und selbst solche, die zu Verrätern wurden. Freilich waren es verschwindend wenige. Aber die Geschichte revolutionärer Bewegungen beweist zur Genüge, dass Hunderte der geschicktesten geheimen und öffentlichen Agenten der Regierungen einer im geheimen wirkenden Partei niemals so viel Schaden zufügen können, als ein einziger Verräter aus den eigenen Reihen. – So sollte auch den russischen „Propagandisten“ der Verrat verhängnisvoll werden. Ja das Auftauchen von Verrätern gab der Bewegung einen Charakter, den sie sonst wohl niemals erhalten hätte.