Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien

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Kaum waren im Frühjahr 1874 die jungen Leute, ihrem Plane folgend, an die Arbeit gegangen, indem sie sich als Bauern verkleidet in die Dörfer begaben, um dort für die sozialistischen Ideen zu wirken, als auch schon die Verräter sich bemerkbar machten: zwei oder drei der Eingeweihten denunzierten den Plan und lieferten Hunderte von Leuten den Behörden aus. – Massenhaft fanden Haussuchungen und Verhaftungen statt; die Gendarmen stürzten sich auf Schuldige und Unschuldige; alle Kerker in Russland waren alsbald überfüllt. In dem einen Jahre wurden über tausend Personen verhaftet. Viele von ihnen erduldeten jahrelang dauernde Einkerkerung unter den furchtbarsten Umständen; manche nahmen sich das Leben, andere verloren den Verstand; viele wurden infolge der Verhaftungen krank und starben vorzeitig.
Man wird es verstehen, welcher grimme Hass unter diesen Verhältnissen in den Reihen der Sozialisten gegen die Verräter, denen so viele Menschenleben zum Opfer gefallen waren, entbrennen musste. Das namenlose Unglück der Freunde musste zur Rache reizen; es musste mit Notwendigkeit der Gedanke auftauchen, die Verräter zu strafen, durch Einschüchterung denselben das Handwerk zu legen. Zunächst jedoch blieb es bei der theoretischen Erwägung derartiger Pläne; es wurde den „Propagandisten“, die sonst äußerst friedliche Menschen waren, wahrhaftig nicht leicht, dem Gedanken die Tat folgen zu lassen. Erst im Sommer 1876 fand der erste Versuch statt, die Einschüchterungstheorie zu verwirklichen. Die näheren Umstände dabei waren folgende:
In Elisawetgrad hatten sich zeitweilig die Mitglieder der damals bekannten revolutionären Gruppe „Kiewer Buntari“ [„Bunt“ bedeutet gleichzeitig Aufstand, Revolte. „Buntari“ wäre also mit Verschwörer, in der Tat „Aufwiegler“ zu übersetzen. Die Organisation stellte sich die Aufgabe, Bauernrevolten zu organisieren.] versammelt; auch ich gehörte jener Organisation an. Viele der Mitglieder waren „illegal“ [Als „Illegale“ werden in der Sprache der russischen Revolutionäre diejenigen bezeichnet, die bereits auf irgendeine Weise den Behörden als Revolutionäre verdächtig sind, und die daher sich unter falschem Namen verbergen. Anmerkungen des Übersetzers.], und auf einige von diesen wurde seit langer Zeit von der Gendarmerie gefahndet, weil ein Verräter namens Gorinowitsch sie angezeigt hatte. Dieser Gorinowitsch war im Jahre 1874 verhaftet worden und schwebte damals in großer Gefahr; er suchte sich zu retten, indem er alles, was er über die Sozialisten wusste, aussagte, und es gelang ihm in der Tat, auf diese Weise sich zu befreien; seine Aussagen hatten sehr vielen geschadet. Es wäre wohl diesem Renegaten ebenso wenig ein Haar gekrümmt worden wie so vielen anderen, wenn er fortan die Kreise der Revolutionäre gemieden hätte. Aber ungefähr zwei Jahre nach seiner Entlassung aus der Haft suchte er von neuem sich in diese Kreise einzuschleichen. Er machte sich an einige unerfahrene junge Leute heran, die natürlich keine Ahnung hatten von der Rolle, die er gespielt, und von diesen erfuhr er, dass die Kiewer Organisation sich in Elisawetgrad befinde; er begab sich also dahin und suchte diejenigen Personen zu ermitteln, die er verraten hatte. Doch wurde er von uns erkannt, und wir mussten natürlich zu dem Schlusse kommen, dass er einen neuen Verrat plane. Da beschloss ich mit noch einem Genossen, ihn umzubringen.
In Elisawetgrad selbst durfte die Tat nicht vollbracht werden, weil die Polizei sonst leicht der Organisation auf die Spur kommen konnte. Wir überredeten daher Gorinowitsch, mit uns nach Odessa zu reisen, wo er die Gesuchten finden würde, und er willigte ein. Der Plan war, dass mein Freund auf einem abgelegenen Platze in Odessa den Verräter niedermachen sollte, worauf wir, um die Leiche unkenntlich zu machen, das Gesicht mit Schwefelsäure übergießen wollten. Es kam jedoch so, dass wir den Bewusstlosen für tot hielten. Furchtbar zugerichtet blieb er am Leben und gab der Polizei Auskunft über das gegen ihn verübte Attentat. Verhaftungen und Untersuchungen folgten auf dem Fuße. Mir gelang es damals, mich zu verbergen. Aber im Herbste des nächsten Jahres wurde ich mit anderen Genossen verhaftet; es handelte sich damals um den bekannten „Tschigirinschen Prozess“. Die Bauern des Kreises Tschigirin im Kiewer Gouvernement wollten bei der Befreiung das ihnen zugeteilte Land nicht in Privatbesitz übernehmen, sondern sie wollten das Gemeindeeigentum am Boden, wie es im Norden bestand. Die Regierung ergriff im Jahre 1875 drakonische Maßregeln: Exekutionen, Dragonaden, Verfolgungen aller Art; die Bauern blieben fest. Die Revolutionäre, unter anderen Stefanowitsch Bochanowski und ich, beschlossen daher, einen Aufstand unter den Tschigirinern zu organisieren. Unsere Pläne scheiterten, wir wurden verhaftet, und es wurde der Tschigirinsche Prozess angezettelt. Ich wurde in Kiew eingekerkert, doch gelang es mir, im Frühjahr 1876 gemeinsam mit Stefanowitsch und Bochanowski zu entfliehen.
Den wegen des Attentats gegen Gorinowitsch Angeklagten wurde der Prozess erst im Dezember 1879 gemacht, zu einer Zeit, wo bereits der rote wie der weiße Terrorismus aufgelodert war. Nach einer ganzen Reihe von Attentaten gegen verschiedene Repräsentanten der Staatsgewalt hatten die Revolutionäre zu jener Zeit ihre ganze Kraft darauf konzentriert, Alexander II. umzubringen.

Zar Alexander II.
Die terroristische Bewegung bekämpfte die Regierung durch Ausnahmegesetze, Kriegsgerichte und Todesurteile, wobei eine große Anzahl von Leuten hingerichtet wurde, die absolut keinen Anteil an jenen Taten hatten. – Einige Tage vor Beginn des Prozesses in Sachen des Attentats gegen Gorinowitsch, nachdem den Angeklagten bereits die Anklage bekannt gemacht worden war, die sie mit relativ gelinden Strafen bedrohte, hatten die Terroristen am 19. November auf der Moskauer Linie einen Zug in die Luft gesprengt, in dem man den Zaren vermutete. Die Regierung beschloss, hierfür an den des Anschlags gegen Gorinowitsch Angeklagten Rache zu nehmen. Von diesen Angeklagten war nur ein einziger direkt an der Tat beteiligt, und alle waren sie bereits zwei oder drei Jahre vor Beginn der terroristischen Bewegung verhaftet worden; sie konnten also unter keinen Umständen für diese Bewegung verantwortlich gemacht werden. Trotzdem wurde beschlossen, durch ein grausames Urteil ein „Exempel zu statuieren“. – Drei der Angeklagten, Drebjasgin, Malinka und Maidanski, wurden zum Tode durch den Strang verurteilt und am 3. Dezember hingerichtet; zwei, Kostjurin und Jankowski, zu Zwangsarbeit verurteilt und der Verräter Krajew freigesprochen.
Hätten mich diese Richter in ihre Gewalt bekommen, mein Schicksal wäre besiegelt gewesen. Ich war jedoch zu Beginn des Jahres 1880 nach dem Auslande geflüchtet und hatte mich bis zur Zeit des beschriebenen Vorgangs in Freiburg in der Schweiz aufgehalten.
Hiernach dürfte es klar sein, welche Stimmung mich bei dem Gedanken an die Auslieferung nach Russland befiel.
* * *
Die Ursache meiner Verhaftung
Die Ursache meiner Verhaftung
In Deutschland, als einem Rechtsstaate, besteht die gesetzliche Bestimmung, kraft deren niemand länger als vierundzwanzig Stunden ohne richterliche Verfügung inhaftiert werden darf. Mir, dem Ausländer gegenüber hielt man sich jedoch nicht so genau hieran gebunden, und es vergingen zwei Tage, bevor ich dem Richter zugeführt wurde. Nachdem der Richter die üblichen Fragen nach Namen, Herkunft und Stand gestellt, erklärte er mir, dass ich als Ausländer, dessen Personalien nicht sofort festgestellt werden können, in Haft bleiben müsse. Ich könnte zwar, fügte er hinzu, gegen diese seine Bestimmung Beschwerde erheben, aber nützen würde mir das nichts. In der Tat wurde meine diesbezügliche Beschwerde abgewiesen.
So war ich denn nach diesem Verhör ebenso klug in Bezug auf die Veranlassung zu meiner Verhaftung wie vorher. Nach wie vor stellte ich die verschiedensten Vermutungen hierüber an. – Die Ungewissheit ist stets ein qualvoller Zustand, aber am meisten haben darunter Gefangene zu leiden. In meiner Lage wurde diese Ungewissheit zur schlimmsten Seelenfolter. – Erst nach drei Tagen, die mir endlos erschienen, wurde ich wieder vor den Untersuchungsrichter geführt. Nachdem abermals die üblichen Personalienfragen erörtert waren, fragte er mich, ob mir die Ursache meiner Inhaftierung bekannt wäre? Als ich dies verneinte, gab er mir folgende Aufklärung:
Einige Tage vor meiner Ankunft aus Basel waren aus demselben Orte zwei Männer eingetroffen, der Schweizer Sozialist G. und der Pole Jablonski; sie waren ebenfalls im „Freiburger Hof“ abgestiegen und hatten ebenfalls in ihren Koffern Bücher mitgebracht. Diese Bücher hatten sie alsdann nach Breslau gesandt unter der Adresse eines Mannes, der einige Tage zuvor auf Grund des Sozialistengesetzes verhaftet worden war. Infolgedessen waren die Postpakete von der Polizei beschlagnahmt und darin sozialistische Broschüren in polnischer Sprache gefunden worden, die in Deutschland verboten waren. Da die Absender als Adresse den „Freiburger Hof“ angegeben hatten, waren die Broschüren nach Freiburg zurückgesandt worden, um gegen die Absender die Untersuchung einzuleiten. Es war daher dem Gasthofe Befehl erteilt worden, im Falle die Genannten oder andere verdächtige Personen aus der Schweiz dort eintreffen sollten, die Polizei zu benachrichtigen. Dies war also die Ursache, dass der Hoteldiener, als er erfuhr, dass ich Bücher im Koffer habe, nach Beratung mit dem Hotelier Anzeige erstattet hatte, worauf die Polizei erschien. Der Agent hatte unter den Büchern eines gefunden, das äußerlich einem von denen ähnlich sah, die sich in den Breslauer Paketen befanden, den „Kalender der Narodnaja Wolja“; zumal er dann bei mir einige Exemplare des „Sozialdemokrat“ fand, lag hinreichender Verdacht vor, der meine Verhaftung veranlasste. Es wurde daher die Anklage erhoben, dass ich im Verein mit anderen Personen mich der Verbreitung polnischer, in Deutschland verbotener Schriften schuldig gemacht habe.
Bei dieser Sachlage war es mir nicht schwer, die Anklage zu widerlegen. Unter meinen Büchern fand sich nicht ein einziges polnisches, überhaupt keines, gegen das ein Verbot in Deutschland ergangen war; der Besitz einiger Exemplare des „Sozialdemokrat“ involvierte noch kein Vergehen. Die Untersuchung reduzierte sich somit darauf, ob ich mit jenen Personen in Verbindung stand, und ob ich nicht dennoch in Deutschland verbotene Schriften verbreitet hätte.
Der Zufall allein hatte somit zu meiner Verhaftung geführt. – „Wären Sie nicht im
‚‚Freiburger Hof‘ abgestiegen, hätte niemand daran gedacht. Sie zu verhaften“, meinte der Untersuchungsrichter, Herr Leiblein.
Nachdem ich das erfahren, wurde mir leichter zumute. – „Es ist also vorläufig noch nicht alles verloren“, überlegte ich; „möglich, dass die Sache glatt abläuft und ich bald freigelassen werde; wenn nur die russische Regierung aus dem Spiele bleibt.“ – Das ungefähr waren die Gedanken, die mich beschäftigten, während der Untersuchungsrichter das Protokoll niederschrieb. Ganz unvermittelt sagte er dann, auf einen Herrn deutend, der etwas abseits an einem Tische saß: „Das ist der Übersetzer, der uns in Ihrer Sache unterstützt, ein Professor unserer Universität ...“
Ich hatte nicht genau hingehört. Während des Verhörs hatte ich mich bereits einige Mal nach jenem Herrn umgeschaut; er schien mir bekannt, und seine Anwesenheit beunruhigte mich unwillkürlich.
„Sie können mit dem Herrn Professor sich russisch unterhalten“, schloss Herr Leiblein, als er für kurze Zeit das Zimmer verließ, um ein Schriftstück zu holen.
„Erkennen Sie mich nicht wieder?“ wandte sich der Übersetzer an mich.
* * *
Professor Thun – Meine Verteidigung
Professor Thun – Meine Verteidigung
„Professor Thun?!“ rief ich, im höchsten Grade erstaunt.
„Freilich! Habe ich mich denn so verändert, dass Sie mich nicht gleich erkannten?“ Er erwartete jedoch kaum eine Antwort auf seine Frage und fügte unvermittelt hinzu: „Also, wie kann ich Ihnen helfen?“
„Wissen Sie, wer ich eigentlich bin?“ fragte ich, statt zu antworten, und es überlief mich kalt.
„Allerdings, ich kenne Ihren wirklichen Namen ... Aber erschrecken brauchen Sie deshalb nicht! Sie sind ja ganz bleich geworden.“
In der Tat hatten mir seine Erklärungen einen nicht gelinden Schrecken eingejagt.
Ich hatte Professor Thun ungefähr anderthalb Jahre vor dem in Rede stehenden Vorgang kennen gelernt, und zwar in Basel, wohin ich mich begeben hatte, um etwas abseits von den Kolonien russischer Flüchtlinge zu sein. Ich war an der Universität immatrikuliert und hörte Nationalökonomie und Statistik bei Professor Thun. Einer der Baseler Arbeiterführer, Karl Moor, hatte mich persönlich mit dem Professor bekannt gemacht, der mich einfach für einen russischen Studenten hielt, meinen wirklichen Namen damals nicht kannte, sondern den angenommenen Namen Nikolaus Kridner. Er hatte mich aufgefordert, ihn zu besuchen, und mich in seinen Plan, eine Geschichte der revolutionären Bewegung in Russland zu schreiben, eingeweiht. Von diesem Plane hatte ich bereits vorher erfahren, und zum Teil hatte mich das nach Basel gelockt. – Professor Thun war ein geborener Rheinländer, hatte in Dorpat studiert und dann einige Jahre im Inneren Russlands zugebracht, sprach daher geläufig Russisch und wusste in russischen Verhältnissen ziemlich gut Bescheid. Als er aus unseren Gesprächen ersah, dass mir die Geschichte der russischen revolutionären Bewegung nicht unbekannt sei, schlug er mir vor, ihm bei der Arbeit zu helfen, was ich natürlich mit Freuden annahm. So kam es, dass wir ziemlich intim bekannt wurden.
Auf diese Weise lernte ich denn auch die Anschauungen kennen, die Professor Thun in Bezug auf die russischen Terroristen und ihre Taten hegte; er verdammte sie rückhaltlos. Seiner Überzeugung nach war es Pflicht der europäischen Regierungen, solchen Personen das Asylrecht zu verweigern und sie wie gewöhnliche Verbrecher der russischen Regierung auszuliefern. Besonders erinnerte ich mich lebhaft des folgenden Vorganges. Professor Thun hatte im Baseler „Freisinnigen Verein“ vor einem zahlreichen Publikum einen Vortrag gehalten über „zwei Episoden der russischen revolutionären Bewegung“. Diese Episoden waren: das Attentat gegen Alexander II. und der Tschigiriner Prozess. Als er auf den letzteren zu sprechen kam, beschrieb er eingehend, wie „Stefanowitsch, Bochanowski und Deutsch aus der Kiewer Feste ausgebrochen waren“, und schloss mit der Bemerkung, dass derartige Verbrecher im Auslande weilen und dass „es leider“ bisher nicht gelungen sei, ihrer habhaft zu werden.
Ich hatte dann Gelegenheit, nach dem Referat mit ihm über diese Dinge zu sprechen, und empfing den Eindruck, dass wenn Professor Thun meinen wirklichen Namen kennen würde, er zweifellos nicht nur den Verkehr mit mir abbrechen, sondern unter Umständen vielleicht bereit sein würde, mitzuwirken, dass man meiner „habhaft werde“. Das veranlasste mich denn auch, meine persönlichen Beziehungen zu ihm auf ein Minimum zu reduzieren, und bald darauf verließ ich Basel.
Jetzt stand ich diesem Manne plötzlich als Gefangener gegenüber, und er wusste, wer ich bin! Man male sich also meine Empfindungen aus.
„Woher wissen Sie meinen Namen?“ fragte ich, vor Erregung bebend.
„Ihr Freund Karl Moor hat ihn mir mitgeteilt, als Sie Basel verlassen hatten.“
„Und obwohl Sie wissen, wer ich bin, bieten Sie mir Ihre Hilfe an?“ fragte ich erstaunt.
„Ja; sagen Sie, womit Ihnen gedient ist, und ich will tun, was ich kann.“
Ich konnte es kaum fassen, aber ein Blick in seine Augen sagte mir, dass ich ihm vertrauen dürfe. Es war jenes intuitive Vertrauen, das man zu einem Menschen fasst und das dann auch grenzenlos ist.
„Ich danke Ihnen“, sagte ich. „Also, wenn es mir nicht gelingt, auf legalem Wege aus diesem Gefängnis zu kommen, werde ich versuchen zu fliehen. Würden Sie mir beistehen?“
„Einverstanden“, sagte er einfach und ernst.
Ich konnte es noch immer nicht fassen; derselbe deutsche Professor, der in meiner Gegenwart öffentlich sein Bedauern darüber geäußert hatte, dass die Schergen des Zarismus meiner noch nicht „habhaft“ geworden sind, mit anderen Worten, dass ich noch nicht am Galgen hing, derselbe Mann bietet mir seine Hilfe, um aus einem deutschen Kerker zu fliehen!
Er lieferte mir jedoch unverzüglich den Beweis, wie ernst es ihm war.
Als Übersetzer war er im Besitz aller Bücher, Briefe usw., die man mir abgenommen hatte. Er nahm mein Notizbuch, das man ihm ebenfalls eingehändigt hatte, bot es mir an und gab mir den Rat, einige Seiten, auf denen, wie er bemerkt hatte, Adressen eingetragen waren, welche mir schaden konnten, zu vernichten. Ich machte natürlich sofort Gebrauch davon.
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Fluchtpläne
Fluchtpläne
Dann schlug ich ihm vor, er möchte unverzüglich nach Zürich reisen, dort meinem Freunde Axelrod mitteilen, was vorgefallen, ihn instruieren, wie er bei meiner Befreiung auf legaler Weise mitwirken könne, schließlich mit ihm die Mittel zur Bewerkstelligung meiner eventuellen Flucht zu erwägen, im Falle die Gefahr entsteht, dass die deutsche Regierung mich an Russland ausliefere.
Diesen Auftrag erfüllte Professor Thun aufs Genaueste, und während meiner Haft in Freiburg erwies er mir unendlich viele Liebesdienste, wobei er ernstlich Gefahr lief, seine Stellung zu kompromittieren. So veranstaltete er geheime Zusammenkünfte in der Freiburger Kathedrale mit meinen Freunden, die herbeigeeilt waren, um im Notfalle mir behilflich zu sein; er vermittelte den brieflichen und mündlichen Verkehr zwischen mir und meinen Genossen usw. Da er beständig zu mir Zutritt hatte, infolge des Vertrauens, das ihm die Gerichtsbehörde als einem angesehenen Professor entgegenbrachte, ließ er mich öfters in das Übersetzerbüro rufen, wo wir ungestört verhandelten oder auch plauderten. Bei diesen Besuchen sah ich, wie er von ganzem Herzen bestrebt war, mir zu helfen. Das ging so weit, dass er mir seine Wohnung als Zufluchtsort anbot, wenn ich gezwungen wäre zu fliehen. Zuweilen machte er sich dabei über seine eigene Rolle lustig.
„Nun schau einer an“, sagte er lachend, „ich, ein deutscher Professor in Amt und Würden, bin zu einem russischen Verschwörer geworden, und die friedliche badische Stadt ist der Schauplatz einer Verschwörung.“
Aus dem Verkehr mit dem Untersuchungsrichter wusste er genau, wie meine Sache stand, und hielt mich natürlich darüber auf dem Laufenden.
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Bei dem ersten Verhör gab ich dem Untersuchungsrichter folgende Darstellung der Sachlage:
Ich bin als russischer Student studienhalber ins Ausland gegangen. Hier habe ich geheiratet und habe ein Kind. Bisher hielt ich mich in der Schweiz auf, jetzt wollte ich in Freiburg bleiben, wohin meine Frau, die in Zürich weilt, mir folgen sollte. Meinen Unterhalt erwarb ich zum Teil durch literarische Arbeiten, zum Teil bestritt ich ihn aus eigenen Mitteln. In der Schweiz besuchte ich die Universität als Hospitant. [Diese Angaben waren insofern notwendig, als Buligin, auf dessen Pass ich reiste, verheiratet war, mit Frau und Kind in Zürich weilte und dort die Universität besuchte.] Was meine politischen Anschauungen anbetrifft, so war ich in dieser Beziehung bisher nicht zur vollen Klarheit gelangt; während meines Aufenthalts in der Schweiz jedoch wurde ich unter dem Einfluss der deutschen Literatur Anhänger der Sozialdemokratie und beschloss, soweit meine Kräfte reichen zur Verbreitung dieser Anschauungen in meinem Vaterlande zu wirken. [Das entsprach so ziemlich der Wirklichkeit. Etwa ein Jahr vor den hier geschilderten Vorgängen, im Sommer 1883, hatten Plechanow, Wera Sassulitsch, Axelrod und ich die sozialdemokratische Organisation „Zur Befreiung der Arbeit“ begründet; Zweck dieser Organisation war die Verbreitung der Marxschen Lehre in Russland durch Übersetzungen und Originalabhandlungen. Die Schriften, die ich in meinem Koffer führte, waren eben dieser Art, die Erstlinge unserer schriftstellerischen Tätigkeit, die vor kurzem die Druckerpresse in der eigens hierfür errichteten Druckerei verlassen hatten.] Als ich aus verschiedenen Gründen beschloss, nach Deutschland zu übersiedeln, nahm ich die bei mir vorgefundenen sozialdemokratischen Schriften mit, um sie hier eventuell an Landsleute zu verkaufen. Diese Schriften sind in Deutschland nicht verboten, ihr Besitz involviert daher nicht im Entferntesten ein Vergehen, geschweige denn ein Verbrechen gegen deutsche Reichsgesetze.
„Und nun“, schloss ich, „werde ich in der freien deutschen Stadt, in Freiburg, ohne jede gesetzliche Grundlage verhaftet! Verhaftet ohne Einhaltung irgendwelcher gesetzlicher Formalitäten, allen möglichen Erniedrigungen unterworfen, in den Kerker gesperrt wie ein gemeiner Verbrecher. Dessen nicht genug: in meiner Gegenwart erdreistet sich die Polizei, eine freie Bürgerin des deutschen Staates ohne jeden Anlass wie eine Dirne, wie eine Verbrecherin anzugreifen und zu verhaften. Da möchte ich doch wirklich fragen: Welcher Unterschied besteht zwischen dem konstitutionellen Rechtsstaate Deutschland und dem absolutistisch-despotischen Russland? Schlimmer kann schließlich auch niemand in Russland behandelt werden!“
Diese Worte schienen einigen Eindruck auf den Richter gemacht zu haben. Er schritt aufgeregt auf und ab, indem er dem Schreiber meine Aussagen diktierte, gab mir wiederholt sein Mitgefühl kund und äußerte sein scharfes Missfallen über das Verhalten der Polizei bei meiner und der jungen Dame Verhaftungen. An einer Stelle meinte er: „Ganz wie bei Shakespeare: ‚Aber das Tuch, das Tuch!’“
Ich hatte den Eindruck, dass der Mann auf meiner Seite war. Später bestätigte mir auch Professor Thun, dass Herr Leiblein erklärt hatte, ihm komme die Sache durchaus harmlos vor, seiner Meinung nach werde hier ein „vollkommen Unschuldiger“ in Haft gehalten, und er hoffe, ich werde bald in Freiheit gesetzt werden.
So hatte ich denn begründete Hoffnung, auf vollständig legalem Wege das deutsche Gefängnis verlassen zu können. Trotzdem stiegen immer wieder Zweifel in mir auf, und der Gedanke an die Flucht kam immer von neuem. In der ersten Zeit meiner Haft wäre diese Flucht bei einiger Hilfe von auswärts auch durchaus nicht schwierig gewesen.
Als ich so zwischen Hoffnung und Fluchtplänen hin und her schwankte, wurde ich eines Tags in das Besuchszimmer geführt.
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Der Rechtsanwalt
Der Rechtsanwalt
Ich erwartete, dort Professor Thun zu finden, und war erstaunt, als ich einem mir gänzlich unbekannten Manne gegenüberstand. Er nannte mir seinen Namen, der mir leider jetzt entfallen ist, und teilte mir mit, er sei Rechtsanwalt, und meine Freunde hätten ihn aufgefordert, meine Verteidigung zu führen; er gerierte sich sofort als Mitglied der deutschen Sozialdemokratie, als Parteigenosse und forderte mich auf, ganz offen gegen ihn zu sein, da meine Freunde ihm bereits alles, was meine Vergangenheit anbetreffe, erzählt hätten.
„Sie wollen einen Fluchtversuch unternehmen?“ fragte er mich im Flüsterton, und als ich bejahte, erwiderte er eifrig: „Das wäre ein unverzeihlicher Schritt Ihrerseits! Ich habe soeben die Akten eingesehen. Ihre Sache steht sehr günstig, und ich zweifle nicht, dass man Sie bald freilässt. Warum wollen Sie sich der Gefahr einer Flucht aussetzen? Misslingt der Versuch, dann verschlimmern Sie Ihre Lage bedeutend. Ich habe auch mit dem Untersuchungsrichter gesprochen; er ist überzeugt, dass nichts von Bedeutung gegen Sie vorliegt. Sobald die Recherchen über Ihre Personalien in der Schweiz ein günstiges Resultat ergeben, wird man Sie freilassen.“
„Nun, und wenn man gleichzeitig Recherchen über meine Personalien in Russland anstellt?“ wendete ich ein.
„Es liegt nicht der geringste Grund für eine solche Annahme vor“, erwiderte der Jurist. „Ein solches Vorhaben müsste doch auf irgendeine Weise sich bemerkbar machen. Wir haben doch schließlich hier in Deutschland nicht russische Zustände, das Verfahren ist nicht geheim. Im Gegenteil, das Gesetz bestimmt, dass die Untersuchung nicht geheim gehalten werden darf, und mir, als Ihrem Rechtsbeistand, sind anstandslos alle Akten in Ihrer Angelegenheit ausgeliefert worden. Es müsste also in diesen Akten irgendwo erwähnt sein, dass man sich mit Russland verständigen wolle. Bei unserem Prozessverfahren ist es absolut ausgeschlossen, dass eine derart komplizierte Erhebung geheim bleiben sollte.“