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Kalter Schweiss tropfte ihm vom Gesicht, seine Zunge fühlte sich schwer und dick an, sein Herz raste. Er würde hier krepieren! Vor den Augen rheumatischer Greise und übernächtigter Teenies, die sich über die Vorzüge der neuesten Pickelsalbe aufklären liessen. Seine Zähne begannen hörbar zu klappern, er zog seinen Hemdkragen höher. Wieso trug er keine Jacke, Teufel noch mal? Wo waren seine Handschuhe, seine Mütze, sein Schal? Saukälte in diesem Laden. Warum drehte keiner die Heizung auf, was war bloss los mit allen? Wo blieben die mit der Insulinspritze, die müssten doch sehen, wie es ihm ging, die konnten doch nicht einfach… Das Licht war so hell, die Geräusche so laut, alles drehte sich in seinem Kopf. Die Gesprächsfetzen aus den viel zu weit geöffneten Mündern der Kunden jagten spitz und scharf in seine Ohren, und es stank, es stank ganz grässlich hier drin, wonach, konnte er nicht feststellen. Alle hatten sich gegen ihn verschworen, wollten ihn sterben sehen, das war doch nicht normal! Wo ging’s hier zum Ausgang? Alles kreiste, schwankte, schrillte, gellte, er zog sich vom Stuhl hoch, wankte zur Theke, schob einen Mann grob zur Seite und packte eine weissgekleidete, extrem Orangehaarige am Kragen. «Insulin!»
Die Frau lächelte unsicher, sah hilfesuchend von einer Seite zur anderen, und erst jetzt merkte er, dass es nicht orange Haare, sondern eine Kappe war, rot, wie die von Rotkäppchen. Da eilte eine andere herbei, braun, mit tiefliegenden Augen, öffnete ihr Gebiss und dröhnte: «Ihr Rezept bitte», und ihre Zähne wurden grösser und reissender, wurden zu den Zähnen eines Wolfes. Sie zog die Lefzen hoch, ihr weisser Kittel wurde zu einem braunen, zottigen Fell, und wo war Rotkäppchen? Er stiess den Wolf von sich weg, brüllte: «Ich habe kein Rezept!» Das war ein Alptraum, manifest gewordener Nachtmahr eines zornigen Gottes – was geschah hier mit ihm? Wer waren all die Leute? Was schauten die ihn an, als wäre er ein Aussätziger? Endlich kam einer. Das musste der Jäger sein, er fasste den Wolf, rettete die Grossmutter, fragte Rotkäppchen: «Macht er Ihnen Probleme?» Sie nickte, der Jäger zog ihn zur Seite, jetzt war er, der Namenlose, allein mit ihm und hauchte seinem Retter zu: «Ich brauche Insulin! Oder etwas gegen die Schmerzen!»
Der Jäger rümpfte die Nase. «Ich kenne Sie, junger Mann. Sie versuchen es immer wieder, aber jetzt reicht’s. Verlassen Sie bitte unsere Apotheke!»
«Mörder!», schrie er, «ihr wollt mich alle umbringen! Ihr wollt –»
«Halt die Klappe, Jeff!», zischte ihm eine Stimme ins Ohr.
Er drehte sich um und blickte in ein dunkelbraunes Gesicht. Begriffsstutzig starrte er es an. Hatte er eben seinen Namen erfahren? Hiess er Jeff? War er Amerikaner, Engländer, Austra –
«Hey, white boy!», machte der Dunkelhäutige, «hörst du wohl auf, mich so anzuglotzen, als wär ich ein verdammtes Gespenst?»
«Heisse ich Jeff?», krächzte er, und sein Rücken brach fast vor lauter Schmerz. Rotkäppchen und der Jäger kümmerten sich um die anderen Kunden, der Wolf war verschwunden.
«Was?»
«Heisse ich Jeff? Ist das mein Name?»
«Natürlich, du Blödmann! Mach nicht so einen Aufstand. Ich hab was für dich, komm raus.»
Der Fremde zog ihn am Ärmel um die Apotheke herum, an einem grünen Marronihäuschen vorbei in eine Seitengasse, wo er stehen blieb, sich kurz umschaute und dann ein durchsichtiges Plastiktütchen aus der Innentasche seiner Jacke holte. Ein weisses Pulver war darin. «Erstklassige Ware», sagte er. «Thai-Sugar.»
«Was um alles in der Welt ist das?», fragte er, der nun Jeff hiess. «Und wer bist du?»
«Willst du mich verschaukeln oder was?» Der andere verdrehte die Augen. «Nur, weil du auf dem Turkey bist, kennst du plötzlich deine Kumpel nicht mehr! Oder bist du jetzt auch einer dieser weissen Arschgesichter geworden, die finden, alle Afrikaner sähen gleich aus? Ich heisse Sal, falls du das nicht mehr weisst! Kommt von Salomon. Heiliger Name, kapiert! Was ist jetzt? Willst du was abhaben? Sechzig Franken das Gramm.»
Jeff schnürte es den Magen zusammen.
Langsam machte das Ganze Sinn. Sein ausgemergeltes Gesicht, seine schmuddeligen Kleider, die leeren Hosentaschen, sein furchtbarer Zustand. Die Puzzleteile fügten sich zu einem Bild des Grauens zusammen. Er hatte nicht nur sein verdammtes Gedächtnis verloren und irrte wie ein Zombie durch die fremde Stadt – er war ein Junkie auf Entzug.
3
Nora stieg die Treppe von ihrer Mansarde hinunter in den ersten Stock. Noch immer empfand sie Stolz, wenn sie das Schild «Nora Tabani & Jan Berger, Privatdetektive. Ermittlungen und Nachforschungen» las.
Sie betrat ihr Büro und wusste, was sie in den nächsten Stunden zu tun hatte. Jans Arbeitsraum war pingelig aufgeräumt, Computer abgestaubt, Lineal im rechten Winkel zur Schreibtischkante, Kugelschreiber und Markierstifte farblich sortiert. Ganz zu schweigen von der Aufstellung seiner Ordner, deren ausgeklügeltes System Noras Verstand überstieg. Ihr Partner fand mit einem einzigen Griff jede Akte, was bei Nora je nach Situation Neid, Bewunderung oder Befremden hervorrief.
Leicht überfordert betrachtete sie ihren eigenen Arbeitsplatz. Kreatives Durcheinander wäre eine nette Umschreibung gewesen. Hoffnungsloses Chaos traf es besser. Sollte sie zuerst die Protokolle der erledigten Fälle alphabetisch ablegen? Oder chronologisch oder thematisch oder wie auch immer. Jan wüsste das besser.
Vielleicht erst mal die eingetrockneten Kaffeetassen spülen. Das neue Faxgerät anschliessen. Den Stapel ungeöffneter Briefe liess sie für heute noch einmal durchgehen. Sie krempelte die Ärmel hoch und griff nach dem überquellenden Papierkorb, um ihn zu leeren. Nur keinen Stress. Sie hatte ja den ganzen Tag Zeit.
«Nun, white boy, entscheid dich mal, ich hab Wichtigeres zu tun. Brauchst du was, oder willst du mich hier nur verarschen?»
Jeff starrte das schwarze Gesicht mit den leuchtend weissen Zähnen an, und alles vermischte sich. Die Bellevue-Apotheke mit dem Gepäckschliessfach. Das pampige, braune Laub mit Fledermaus und Kahlkopf. Er holte sich in die Realität zurück. Sal. Das hier war Sal, sein Dealer. Und er, Jeff, war ein Drogensüchtiger.
«Hilft…», begann Jeff, räusperte sich, da er vor lauter Trockenheit im Mund kaum sprechen konnte. «Hilft mir das, was du da hast, gegen die Schmerzen?»
Sal lachte auf. «Das will ich hoffen!»
«Dann gib mir was ab.»
«Erst die Kohle.» Sal streckte die Hand aus.
«Ich hab kein Geld.» Jeffs Zähne klapperten, die Worte kamen abgehackt heraus. Seine Eingeweide krümmten sich.
Sal schob die Augenbrauen zusammen. «Dann verpiss dich, white boy. Freundschaftsdienste liegen nicht drin.»
Er wandte sich ab.
Jeff rannte ihm nach. «Sal! Mir geht’s echt beschissen! Wo krieg ich was umsonst? Oder auf Pump? Kenn ich einen, der mir noch was schuldet?»
Sal schnaubte. «Bin ich dein verdammter Sozialarbeiter oder was?» Er kam ganz nah an Jeff heran, Nase an Nase, und sagte sehr leise und sehr langsam: «Ich hab’s nicht gern, wenn man mich zum Idioten macht. Versuch’s mal bei Lenny, der ist grad in Spenderlaune, hat neue Connections.»
«Wer?», stöhnte Jeff. «Wo?»
«Was ist eigentlich los mit dir, Käsegesicht? Hat dir einer eine Knarre übern Schädel gezogen? Siehst echt Scheisse aus, weiss du das? Lenny. Brauerstrasse 11b, und jetzt hau ab, bevor ich deine hässliche Fresse bearbeite.»
Nora kam besser voran als erwartet. Das helle Holz ihres Schreibtisches schimmerte bereits grossflächig zwischen den Papieren hindurch, in die Protokolle und Berichte war so etwas wie Ordnung gekommen, sogar die Pinwand war jetzt von den alten Notizzetteln befreit. Einzig ein grellgelbes Post-it mit der unerklärlichen Aufforderung «B. Tel! Termin!» flatterte noch unter einem Reissnagel. Sie liess es hängen. Es sah so anregend aus. Befriedigt schaute sie sich um. Die vor einem halben Jahr dazugemietete Wohnung wirkte wieder wie ein richtiges Detektivbüro. Jans Zimmer war sowieso perfekt, ihr eigenes immerhin akzeptabel, der Warteraum beim Eingang sogar richtiggehend einladend mit den beiden roten Sesseln aus dem Secondhand-Laden. Jetzt konnten die Aufträge reinkommen.
Jeff stand schlotternd an der Haltestelle, trat von einem Bein aufs andere und versuchte, im Gedächtnis zu behalten, was die alte Dame vorhin gesagt hatte: Tram Nummer 4 bis Limmatplatz. Dann die Langstrasse entlang, danach sei es nicht mehr weit bis zur Brauerstrasse.
Lenny. Der würde ihn erlösen.
Es hatte zu schneien begonnen. Ein eisiger Wind wehte ihm um die Ohren. Mechanisch griff er in seine Hosentasche, zog die zerdrückte Zigarettenpackung hervor und zündete sich mit zittrigen Fingern die einzige Zigarette an, die seine Gefangenschaft heil überstanden hatte. Die anderen waren zu Papier- und Tabakbröseln geworden. Gierig zog er daran, rauchte sie bis zum Filter hinunter, warf die Kippe auf die Tramschienen. Das Tram kam, nur wenige Fahrgäste waren darin, er stieg zuhinterst ein und hielt sich krampfhaft an einer Stange fest. Er setzte sich nicht, blieb am Fenster stehen, um eine mögliche Billettkontrolle früh genug zu bemerken. Es kam ihm so vertraut vor, als hätte er es immer schon getan, als wären gewisse Verhaltensmuster in ihm gespeichert, in seinen Zellen eingraviert, Amnesie hin oder her. Sein rascher Blick in alle Richtungen, sein Misstrauen, als er einen Mittvierziger mit Ledermappe entdeckte, der sich unauffällig umsah wie ein Kontrolleur, sich dann aber als harmlos erwies; sein sechster Sinn für Gefahr – all das war so bekannt. Er musste seit Jahren diese Art von Leben führen.
Das Tram ruckelte los, der Boden unter Jeff verwandelte sich in ein schwankendes Schiff, er hatte Angst, vom Meer überrollt zu werden, presste seine Hände an die Schläfen, versuchte, an irgendetwas anderes zu denken als an den Schmerz, der seinen ganzen Körper peinigte. Seine Sehnen waren zum Zerreissen gespannt. Sein Blut raste beissend durch seine Adern. In seinem Kopf tanzten Irrlichter. Das war also ein Entzug. Sterben wäre besser gewesen.
Er starrte nach draussen, wo Schaufenster von Kleider-, Souvenir- und Uhrenläden an ihm vorbeirasten, ein verwirrendes Kaleidoskop von Farben und Formen. Eine doppeltürmige Kirche. Menschen, Hunde, Fahrräder. Eine Stadt am Aufwachen, fremd, so fremd. Er schloss die Augen, rieb sie, riss sie wieder auf, schaute auf die andere Seite. Ein Fluss. Vier Ruderer in zitronengelben Trikots in einem Sportboot. Enten. Schwäne. Raben. «Central», ertönte die Stimme aus dem Lautsprecher, dann quietschte das Tram über eine Brücke. «Hauptbahnhof.»
Zwei Jugendliche stiegen ein, die Jeff einen schnellen, wissenden Blick zuwarfen. Einer von ihnen hatte violette Strähnen in seine Haare gefärbt. An der Art, wie die beiden miteinander sprachen, wie sie sich bewegten, erkannte Jeff intuitiv die Seelenverwandtschaft. Zwei Junkies. Süchtige, wie er. Ausgestossene der Gesellschaft.
Wie hatte es nur so weit kommen können mit ihm? Wie war er in diesem Sumpf gelandet? Er hätte verzweifeln können über sein verpfuschtes Leben. Über das er nichts wusste. Dealte er mit Drogen? Raubte er alten Damen die Handtaschen? Brach er in Arztpraxen ein? Würde er es je erfahren?
Erst jetzt, zuhinterst im Tramwagen, wo ihn niemand beobachtete, wagte er es, seine Hemdärmel hochzukrempeln und sah an beiden Armen die Einstiche. Dutzende roter Punkte, verkrustetes Blut überall, Schorf, Striemen, blau unterlaufene Stellen, die seine Armbeugen in eine Landschaft der Selbstzerstörung verwandelten.
Der Junkie mit den bunten Strähnen drehte sich um, machte eine fragende Handbewegung in Jeffs Richtung. Jeff verstand. Das eingravierte Muster. Er schüttelte den Kopf. Er brauchte nichts von den beiden, er hatte Lenny.
«Limmatplatz», verkündete die Stimme aus dem Lautsprecher.
Jeff stieg aus, schleifte seine Beine über den Platz, humpelte über die Kreuzung und quälte sich durch die Langstrasse. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein. Hier befand er sich in einem ganz anderen Stadtquartier. Es gab viele von seiner Sorte. Immer wieder wurde er gefragt, ob er Stoff brauche, immer wieder schüttelte er den Kopf. Einer, der ihn zu kennen schien, winkte ihm zu. Jeff grüsste halbherzig zurück und ging durch eine graffitiversprayte Bahnunterführung. Kam an zwei Huren vorbei, die so aussahen, als könnten sie sich nach einer langen Nacht kaum mehr auf den Beinen halten, an Dealern, Stripteaselokalen, Kebabbuden. Ein Mann mit schwarzem Schnauzbart öffnete seinen Teppichladen, aus dem es nach Wasserpfeife roch. «Heute Sonntagsverkauf», stand auf einem Plakat, das er an die Scheibe klebte. Dann schob er quietschend das Eisengitter hoch, spuckte vor Jeff auf den Boden und arretierte das Gitter mit einem Holzkeil.
Wo zur Hölle lag diese Brauerstrasse? Jeff fror wie ein Hund. Die verdammten Schneeflocken fielen in wilden Wehen in seinen Nacken, durchnässten sein Hemd, bedeckten seine Haare. Er wankte am McDonald’s und einem Sexkino vorbei, kam an der St.Pauli Bar und der Piranha Bar vorüber. Und da, endlich, die gesuchte Strasse. Hinter einem thailändischen Restaurant ein dunkler Backsteinbau, die Nummer 11b. Nicht sehr gross, etwas zurückversetzt. Die ebenerdigen Fenster waren Kellerluken, eine davon zerbrochen, spitze Glaszacken ragten sternförmig zur Mitte. Vier Klingeln waren neben der Tür angebracht. Keine Namen. Neben die oberste Klingel hatte jemand mit einem schwarzen Filzstift unleserliche Initialen gekritzelt, neben der untersten klebten Überreste eines Etiketts, das nicht mehr zu erkennen war, die zwei dazwischen waren leer.
Wo wohnte Lenny?
Die Haustür war nur angelehnt. Jeff trat ein. Muffiges, dunkles Treppenhaus, das einmal weiss gewesen sein musste. Jetzt war es nikotingelb. Es roch nach Bier und kalter Pizza. Ein Stapel alter Zeitungen, kreuz und quer aufeinandergeschichtet, lag links vom Eingang, daneben ein kaputter, aufgespannter Schirm in spinatgrün.
Jeff kämpfte sich die Treppen hoch. Es war ihm völlig egal, wildfremde Leute aus ihren Wohnungen zu klopfen, wenn nur Lenny darunter war. Aufs Geratewohl hämmerte er an die erste Tür, auf der ein Kleber mit der Aufschrift «fuck off or die» stand. Aus dem Innern dröhnte ein Fernseher.
Es dauerte ein paar Sekunden, dann riss ein übergrosser Dicker mit nacktem Oberkörper die Tür auf. «Was?», bellte er.
«Bist du Lenny?», brachte Jeff hervor.
«Seh’ ich so aus? Kannst du nicht lesen? Hier!» Er tippte erst auf den Kleber, dann auf Jeffs knochigen Brustkorb. «Das gilt auch für dich!» Er schmetterte die Tür ins Schloss.
Jeff hörte die schlurfenden Schritte, bis sie im Fernsehlärm untergingen. Er stieg einen Stock höher, klopfte, wartete, polterte mit den Fäusten an die Tür – nichts. Gott, dachte er, falls es dich gibt, mach, dass Lenny zu Hause ist und mir hilft.
Im dritten Stock öffnete ihm endlich ein drahtiger Typ mit verschlafenem Blinzeln. «Jeff, du? Ich dachte, die hätten dich gekriegt.»
4
Lautlos kletterte Paco Ramirez die Regenrinne hinauf. Bald würde es dämmern. Er hatte die Taschenlampe ausgeknipst und zwischen die Zähne geklemmt. Sein linker Fuss fand sicheren Halt auf einem Mauervorsprung, der rechte schob sich leise zur nächsten Erhebung. Seine mit Noppen versehenen Kunststoffhandschuhe hinterliessen keine Fingerabdrücke. Geschmeidig wie ein Panther bewegte er sich empor.
Er warf einen Blick hinunter, wo Hektor Kant auf dem Rasen stand, und gab ihm ein Zeichen mit nach oben gerichtetem Daumen. Hektor gehorchte und kam hinterher. Seine Glatze schimmerte in der frühmorgendlichen Dunkelheit, sein massiger Körper arbeitete sich erstaunlich wendig nach oben. Er hatte sich im Kraftraum des Gefängnisses nicht nur eine ungeheure Muskelmasse antrainiert, sondern auch eine Ausdauer, die ihresgleichen suchte. Paco hatte ihn erlebt, wie er es mit drei Schlägern gleichzeitig aufgenommen hatte, wie er sich furchtlos in den Kampf gestürzt und ihn gewonnen hatte. «Born to fight», so lächerlich der tätowierte Spruch auf Hektors Hals war, so sehr passte er zu ihm. Er war die perfekte Kampfmaschine, gut abzurichten, verlässlich, ohne die lästige Angewohnheit, selber zu denken. «Born to win» hätte Paco sich auf seine Haut geschrieben, wäre er je so dumm gewesen, sich tätowieren zu lassen.
Er war auf der Höhe des ersten Stockwerks angekommen. Hier schliefen sie, die süssen Kleinen. Das Fenster war einen Spalt breit geöffnet, wie jede Nacht. Damit die Zwillinge frische Luft bekämen. Damit sie gross und stark würden und gesund blieben. Lukas und Lorena, neunjährig, vom Leben verwöhnt, wie es nur die Reichen sind. Er wusste alles über sie. Er kannte ihre hellen Gesichter, als wären es seine eigenen Kinder, er wusste von Lorenas Wangengrübchen, von Lukas’ widerspenstigem Haarwirbel, er kannte ihre Schule, ihre Spielsachen, ihre Lieblingsbücher.
Geschickt schwang er sich aufs Fenstersims und stieg ins Zimmer ein. Hektor kletterte ihm hinterher.
Fluoreszierende Sterne schimmerten von der Zimmerdecke und hüllten den Raum in ein schwaches, grünliches Licht. Von beiden Seiten war leises Atmen zu hören. Paco schaltete die Taschenlampe ein. Der Lichtstrahl tanzte über ein Regal, auf dem neben vielen kleinen Oldtimerautos mehrere Plüschtiere lagen. Ein Elefant, ein Känguru, ein flauschiger Hase und ganz aussen ein weisser Teddy, der ein grosses Stoffherz in seinen Pfoten hielt. Nett. Paco fragte sich, ob er ein Kuscheltier für die Kleinen einpacken sollte, damit sie sich in den kommenden Tagen weniger fürchteten, verwarf den Gedanken aber wieder. Kinder in Angst waren fügsamer. Und hübscher anzusehen.
Der Lichtstrahl tastete weiter einem Schreibtisch mit Farbstiften entlang, über ein Poster des Films «Finding Nemo». Dann streifte er die Silhouette eines Bettes, verweilte auf einem blonden Haarschopf, der unter einem zerwühlten Daunenwulst hervorschaute und sich regelmässig hob und senkte.
Paco nickte Hektor auffordernd zu. Dieser griff in seinen Rucksack und holte die Schutzmasken hervor. Er warf Paco eine hinüber, und beide schnallten sich einen Atemschutz vor die Nase. Hektor nahm das Fläschchen heraus, drehte den Verschluss auf und träufelte eine gehörige Portion der farblosen Flüssigkeit auf zwei Taschentücher. Augenblicklich wurde das Zimmer von einem stechenden, süsslichen Geruch erfüllt, der durch die Masken drang. Paco fühlte einen Anflug von Schwindel.
«Los jetzt!», befahl er. «Bevor wir selber zusammenklappen.»
Hektor trat einen Schritt nach vorn. Ein lautes Scheppern war die Folge. Er musste über irgend etwas gestolpert sein, das aus unzähligen kleinen Teilen bestand. Es klang nach Plastik, klapperte und rumpelte mehrere Sekunden, die Paco wie Ewigkeiten vorkamen.
«Verdammt!»
«Hm?», machte es verschlafen vom Bett des Mädchens.
Paco leuchtete mit der Lampe hinunter und sah die Bescherung. Dutzende blaue, rote und weisse Legoteile waren über den Boden verstreut. Das Bauwerk schien eine Burg gewesen zu sein, einzelne Schiessscharten und die Zugbrücke waren noch zu erkennen. Nun sah sie aus wie von Kanonen bombardiert. «Hast du keine Augen in deinem Schädel, du Schwachkopf? Nun mach schon! Das Mädchen zuerst!»
«Mama?», murmelte es nun schläfrig vom anderen Bett.
Hektor machte einen Satz nach vorn, packte die Kleine grob an den Haaren und drückte ihr den durchtränkten Lappen aufs Gesicht. Sie wehrte sich mit erstaunlicher Kraft, zappelte und strampelte und schaffte es, mit ihren Fingernägeln zwei hässliche Kratzer auf seinem Gesicht zu hinterlassen. Ein paar letzte dumpfe Töne gab sie von sich, dann erschlaffte sie. Ihre Arme fielen zur Seite, ihr Kopf kippte nach hinten, ihr Atem war nicht mehr zu hören.
«Scheisse!», flüsterte Hektor aufgeregt, «sie ist tot!» Er hielt das Kind wie eine Marionette in seinem Griff.
«Quatsch! Mit dieser Dosis ist es unmöglich, jemanden –»
«Und warum zum Teufel atmet sie dann nicht?»
«Psst! Nicht so laut, du Trampel!», zischte Paco. Dann betrachtete er das Mädchen mit seinen blonden Locken. Niedlich sah es aus, wie es so in Hektors starken Armen hing. Nein, mehr als niedlich – unverdorben, unberührt. Ein vertrauensvolles, offenes Wesen. Ein Engel, der das Böse der Welt noch nicht erlebt hatte. Paco liebte Unschuld.
Ein leises Pfeifen kam aus dem offenen Mund des Mädchens.
«Na also!», sagte Paco. «Und nun weiter! Bevor der Junge aufwacht.»
Er drehte sich zur anderen Seite. Und da sass er, der Kleine. Stocksteif in seinem Bett. Starrte ihn mit angstverzerrten Augen an.
«Wir tun dir nichts, wenn du schön ruhig bist», versprach Paco und brachte ein Lächeln zustande. Das schien den Jungen noch mehr zu erschrecken, er erwachte aus seiner Erstarrung, verzog seinen Mund zu einer Grimasse und setzte zu einem hohen Ton an.
«Nun mach schon, Hektor!», forderte Paco leise.
Wie ein Bulle stürzte der sich auf den Jungen, presste ihm den feuchten Stoff ins Gesicht und fauchte mit unterdrückter Stimme: «Wieso muss ich immer die Drecksarbeit machen?»
«Weil du mit Muskeln gesegnet bist und ich mit Hirn. Das hatten wir schon tausend Mal. Ist er hinüber?»
Hektor nickte. «Ich wette, gleich tauchen die Alten auf, weil sie den kleinen Satansbraten kreischen gehört haben. Dann kannst du dein beschissenes Hirn sonstwohin –»
«Komm wieder runter. Die Eltern wohnen auf der anderen Gebäudeseite.»
«War’s das? Können wir raus hier?»
«Das war’s. Und, Hektor?»
«Was denn?» Hektor schien den drohenden Unterton bemerkt zu haben. Er schaute kurz zum Jungen, der schlaff quer über der Bettdecke lag, dann wieder zu Paco.
«Wer hat das Sagen?»
«Ist ja gut, ich hab’s kapiert.»
«Hektor.» Pacos Stimme wurde schneidend, als er jedes Wort einzeln betonte. «Wer hat das Sagen?»
«Du hast das Sagen, Paco.»
Ein paar Sekunden herrschte Stille.
Dann packte Hektor das Mädchen, trug es die Regenrinne hinunter und deponierte es wie einen Kartoffelsack an der Hausmauer. Er kletterte erneut herauf und schleppte den Jungen nach draussen. Ihr Transporter stand gleich hinter dem gusseisernen Gartentor, Klebeband und Fesseln waren bereit. Sie würden ihren Zielort erreicht haben, bevor es richtig dämmerte. Sonntagmorgen in Zürichs reichem Stadtkreis 7. Die Strassenlaternen gaben hier nur ein bescheidenes Licht, um die gern in Anonymität lebenden Anwohner nicht mit nächtlicher Helligkeit zu stören. In keinem Haus brannte eine Lampe, alles schlief.
Paco Ramirez blieb noch einen Moment im Kinderzimmer stehen. Ein eisiger Morgenwind blies herein und bauschte den Vorhang auf. Er legte den computergeschriebenen Zettel gut sichtbar auf den Schreibtisch. «Ihre Kinder wurden entführt. Keine Polizei, sonst sehen Sie sie nie wieder. Verarschen Sie uns nicht. Wir beobachten Sie. Details folgen.»
Dann ging er zum Regal und nahm den Teddy mit dem roten Herz mit. Für die armen Kleinen. Er war schliesslich kein Unmensch.
5
«Nora Tabani? Sind Sie das?», hauchte eine erstickte Stimme in den Hörer.
Nora hatte den Anruf eigentlich gar nicht entgegennehmen wollen. Es machte sich ganz gut, am Sonntag den Telefonbeantworter eingeschaltet zu lassen, damit die Leute wussten, dass sie es mit einer vielbeschäftigten Ermittlerin zu tun hatten, die sich an ihrem wohlverdienten freien Tag erholte. Dann hatte sie an die längst fällige Rechnung des Fitness-Jahresabos gedacht, an den kommenden Lohn für Jan, der trotz ihres kollegialen Verhältnisses ihr Angestellter war, an Gregors sechsbeinige, giftgrüne Delikatessen, die ein Heidengeld kosteten. Und hatte den Hörer abgenommen.
«Ja, am Apparat.»
«Unsere Kinder …», schluchzte eine Frau, «Lorena und Lukas, Zwillinge… sie sind erst neun Jahre alt, sie … ich kann es nicht glauben, es darf einfach nicht wahr sein!» Ein Schluckauf packte die Anruferin, sie hustete und fuhr fort: «Sie sind nicht mehr da, einfach nicht mehr in ihren Betten! Ich habe ein Geräusch gehört und bin nachschauen gegangen, da –»
«Entschuldigen Sie», unterbrach Nora den Redeschwall. «Worum geht es genau? Mit wem spreche ich?»
«Kaiser, Helen Kaiser. Meine Kinder, neunjährig, erst neunjährig», – ihre Stimme nahm einen schrillen Ton an – »meine Kinder sind entführt worden. Es riecht so komisch in ihrem Zimmer. Süsslich. Bitte helfen Sie uns! Da liegt ein Zettel. Keine Polizei, steht darauf. Sie sind doch keine Polizistin, oder? Sie sind doch Detektivin?»