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«Genau», murmelte Gerhard.
«Danke, Furrer. Sie sehen also», Kowalski liess seinen Blick in die Runde schweifen, schien zufrieden mit der Aufmerksamkeit, die ihm entgegengebracht wurde, und fuhr fort: «Sie sehen also, es lohnt sich, für ‹Store & Go› zu arbeiten. Den ersten Interessenten, die damals Lagerräume bei uns mieteten, standen ganze neun Kubikmeter zur Verfügung. Heute bieten wir ihnen Kleinsträume von sechs bis zu Lagerhallen von sechshundert Kubikmetern zur Auswahl. »
«Das wissen wir doch alles», flüsterte Roland entnervt in Sarahs Richtung. «Bis der fertig ist, verschimmeln die Lachsbrötchen. »
«Nebst Möbeln», fuhr Kowalski fort, «lagern unsere Kunden Kleider, Ordner, Sportartikel, ganze Wohnungseinrichtungen und Restposten von Geschäftsauflösungen bei ‹Store & Go›. Manchmal nur wenige Tage, manchmal über Jahre. Und das für sage und schreibe … » Er schaute erwartungsvoll auf die Anwesenden und hob seine Arme wie ein Dirigent in die Höhe. «Nun, meine Damen und Herren?»
Alle murmelten: «Zwölf Franken pro Kubikmeter!»
«Korrekt!» Kowalski strahlte übers ganze Gesicht.
«Er zieht immer die gleiche Show ab», zischte Claudia leise. «Langsam ist es nur noch peinlich. »
Roland pflichtete ihr bei.
«Darum, werte Mitarbeiter, der langen Rede kurzer Sinn:Ich bedanke mich für Ihr Engagement. Ich fordere weiterhin einen vortrefflichen Einsatz. Das Buffet ist eröffnet!»
«Das ging ja flotter als erwartet», murmelte Tim.
Sarah lächelte. «Er wird durstig sein. »
«Das ist das Stichwort», meinte Roland, «lasst uns anstossen!» Er nahm den Schöpflöffel, tauchte ihn in die Früchtebowle und füllte mehrere Gläser. «Zum Wohl, Sarah! Tim! Gerhard!»
Sie prosteten sich zu, Kowalski schenkte sich bereits zum zweitenmal ein, und sogar Ruth, die älteste der Angestellten, sonst massvoll und zurückhaltend, trank mit sichtlichem Genuss.
«Ausgezeichnet!», meinte Cedric Stark. «Fast wie selbstgemacht. »
«Sie ist auch selbstgemacht», sagte Sarah mit Nachdruck. «Von mir. »
«Tatsächlich? Nur nicht so empfindlich, ‹Fräulein› Dobler. Sie schmeckt trotzdem gut. »
Sarah kam sich blöd vor. Stark hatte es wieder einmal geschafft. Zum Glück hatte sie nicht viel mit ihm zu tun. Sein Büro lag am anderen Ende des Gangs, er war für die PR zuständig.
Der Abend schritt voran, angeregte Gespräche entstanden, wenngleich die Teams sich kaum mischten. Das Reinigungspersonal blieb unter sich. Die türkischen und albanischen Umzugsleute unterhielten sich in ihrer eigenen Sprache. Cedric Stark schleimte sich bei Kowalski ein, der ihn jedoch links liegen liess. Man ass, trank und gab Anekdoten zum besten. Wo immer Kowalski auftauchte, versandeten die Gespräche, da er endlose Monologe an sein Gegenüber richtete.
Sarah sorgte dafür, dass das Buffet immer appetitlich aussah, und brachte mit Ruths Hilfe Nachschub von unten herauf. Gegen zehn tauchte die mexikanische Musikgruppe auf, die Sarah als Überraschung engagiert hatte. Sie war ein voller Erfolg. Fünf Männer mit Sombreros spielten Gitarre, Trommeln und Mandoline, sangen temperamentvolle spanische Lieder und forderten die Frauen und Männer zum Tanzen auf. Nach anfänglichem Zögern wagten es die Ersten, sich zu den feurigen Klängen zu bewegen. Kowalski zog Claudia zu sich heran und schwang das Tanzbein. Sie liess es mit angewidertem Gesichtsausdruck geschehen. Gerhard Furrer wippte unsicher mit dem Fuss zum Takt. Sarah betrachtete sein Geierprofil. Gerhard hatte etwas Unheimliches und Düsteres an sich. Vielleicht kam das daher, dass er seit Jahren in den unterirdischen Lagerhallen arbeitete.
Sarah wandte sich wieder ab und beobachtete die anderen. Tim bat gerade eine portugiesische Dame der Reinigung um einen Tanz, diese stimmte mit kokettem Lächeln zu. Die Stimmung wurde ausgelassener. Sarah plauderte ein bisschen mit Mehmet, konnte ihn wegen der lauten Klänge aber kaum verstehen. Roland in seinem weissen Anzug wirbelte allein zu den südamerikanischen Rhythmen herum, seine Hand balancierte ein halbvolles Glas. Ruth stand am Rand bei einem der Öfen und schien sich auf ihre eigene stille Art über den gelungenen Abend zu freuen.
Gläser klirrten. Das Buffet war nach einer Weile ein weinbekleckertes und ölverschmiertes Schlachtfeld. Oliven, Brosamen und Teigreste waren überall verstreut, was Sarah leider nicht hatte verhindern können. Die Mexikaner trieben mit ihrer Musik auf den Höhepunkt zu. Roland lächelte beschwipst vor sich hin. Tim kippte die Portugiesin im Tangostil nach hinten, was diese mit begeistertem Quietschen quittierte.
«Was hat er denn?», hörte Sarah Marco Benedetto neben sich sagen. Sie hatte heute noch kein Wort mit ihm wechseln können.
«Was meinst du?»
«Der ist ja komplett besoffen», antwortete Marco und zeigte auf Kowalski, «Madonna mia, jetzt übertreibt er aber!»
Sarah folgte seinem Blick und sah, wie ihr Chef herumtorkelte und Claudia grob von sich stiess. Sie prallte gegen den Tisch und hielt sich an der Tischdecke fest. Tim eilte ihr zur Hilfe. Bevor alle Gläser zu Boden fielen, konnte sie sich wieder aufrappeln. «He!», machte sie empört zu Kowalski, doch dieser ging gar nicht darauf ein. Sein Gesicht war gerötet, als hätte er einen Sonnenbrand. Er stammelte unverständliche Worte. So hemmungslos hatte Sarah ihn noch nie gesehen. Hoffentlich endete die Party nicht in einem Desaster. Bereits entfernten sich einige Angestellte und starrten aus sicherer Entfernung auf ihren Chef. Der bewegte sich inzwischen mit fast spastischen Bewegungen zur Musik.
«Vengan y bailan!», schrien die Mexikaner, erfreut über die Wirkung ihrer Lieder, «Bailan! Bailan! Kommt und tanzt!»
Kowalski stolperte, richtete sich wieder auf, rief mit schwerer Zunge: «Es ist heiss!» und fuchtelte mit den Armen.
«Wenn ich so viel intus hätte, wär’s mir auch etwas wärmer», meinte Roland.
In diesem Moment krachte und knallte es in der Ferne. Die Mexikaner spielten wacker weiter, alle anderen schauten Richtung Üetliberg hinüber, wo ein Feuerwerk die ganze Umgebung erhellte und die Musik übertönte. Irgendjemand in Wiedikon oder Albisrieden feierte etwas noch Grösseres. Silberpfeile schossen in den Himmel, rote und orangene Funken rieselten wie Schneeflocken herab. Unwillkürlich entfuhr vielen ein «Oh!» und «Ah!».
«Passt ja wie bestellt», sagte Roland. «Das hast nicht etwa du organisiert, Sarah, oder?»
Sie schüttelte den Kopf und sah beunruhigt zu Kowalski hinüber. Dieser blieb stocksteif stehen, starrte entgeistert auf die farbenprächtigen Formationen am Himmel und rief: «Da sind ja die Rateken … Raketen … für unser Jubä … Jäbilu … Jubiläum!» Er lachte, grölte, schlug sich auf die Schenkel. Plötzlich krümmte er sich, als würde er von einem Krampf gepackt. Er rang nach Atem. Seine Finger krallten sich um den Kragen. Er lockerte seine Krawatte, riss sie sich vom Hals und warf sie zu Boden. Seine Wangen waren inzwischen feuerrot, seine Halsschlagadern pulsierten in rasendem Tempo. Jetzt war Sarah in Alarmbereitschaft. Wenn sich ihr Chef zum Narren machen wollte, war das eines. Wenn er aber vor aller Augen eine Alkoholvergiftung erlitt, musste man ihm helfen.
«Herr Kowalski», sagte sie in besänftigendem Ton, der im Geknalle des Feuerwerks völlig unterging, «setzen Sie sich doch, bevor Ihnen übel wird. »
Kowalski wedelte sie weg und brüllte: «Stellt die Musik ab!», worauf die Mexikaner verstummten. «Stellt die Farben ab!», schrie er zum Himmel, während die bunten Kracher weiterhin über das nächtliche Zürich stoben. «Es ist viel zu hell! Viel zu heiss!» Er wirkte äusserst aufgeregt, ob freudvoll oder in Panik, konnte Sarah nicht ausmachen. Wieviel Bowle und Wein hatte er bloss getrunken? Sie eilte zu ihm, versuchte ihn zu stützen, doch er befreite sich.
«Ich will fliegen!», krächzte er.
«Das ist ja so was von peinlich», murmelte Claudia.
Nun wollte Tim ihm zu Hilfe kommen. Aber Kowalski taumelte am Buffet vorbei, fegte eine Platte mit Brötchen vom Tisch und wankte zur Brüstung. Er ruderte wild mit den Armen, als würde er gleich abheben, und brüllte: «Ich fliege!»
«Kommen Sie zurück!», rief Tim, packte ihn am Ärmel und versuchte, ihn fortzuzerren. Kowalski stiess ihn zur Seite, machte einen Schritt und schwang sich erstaunlich wendig über das Geländer. Ein Dutzend Hände griffen nach ihm. Er schlug sie alle weg, breitete seine Arme aus.
Und sprang.
«Ich fliege!», hörten sie ihn ein letztes Mal krächzen, während er in die Tiefe stürzte.
Sarah hastete zum Rand der Terrasse und starrte auf Kowalskis Körper. Der war acht Stockwerke weiter unten auf dem Asphalt aufgeschlagen. Eine dunkle Silhouette mit verdrehten Gliedern. Nur seine Hände und die Glatze waren helle Flecken in der Nacht.
Sarah spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich. «Mein Gott!», flüsterte sie.
3
«Dieser Kerl ist mehr als dreist», sagte Nora.
Es war halb neun Uhr morgens. Jan und sie brüteten über etlichen Fotos, die ausgebreitet auf dem Schreibtisch lagen. Auf den einen waren Laptops, Stereoanlagen und iPods zu sehen, offensichtlich von der teuren Sorte, auf den anderen Porträts von Männern und Frauen. Der Auftraggeber ihres aktuellen Falles hatte ihnen die Bilder zur Verfügung gestellt. Er war der Ladenbesitzer eines Shops für Unterhaltungselektronik, nannte sich Elektro-Luigi und verdächtigte einen seiner Angestellten, Geräte zu stehlen und zu verhökern. Die Überwachungskamera hatte bei jedem Diebstahl eine vermummte Gestalt mit Kapuze aufgezeichnet. Der Dieb schien genau zu wissen, dass er gefilmt wurde, und wandte den Blick keinen Millimeter Richtung Kamera. Ausserdem besass er einen Schlüssel zum Laden. Zwischen zwei und drei Uhr früh schlich er jeweils zu den Auslagen, packte Handys und Computer in eine mitgebrachte Tasche und flitzte unbehelligt davon.
«Dreist ist der Täter allerdings, doch es könnte auch eine Frau sein», meinte Jan. «Die Person ist eher schmächtig. »
Nora wiegte skeptisch den Kopf hin und her. «Wenn ich mir die Bewegungen ansehe, tippe ich dennoch auf einen Mann. »
Seit einigen Tagen versuchten sie, den Einbrecher dingfest zu machen, bis jetzt ohne Erfolg. Zweimal hatten sie eine ganze Nacht in Jans Auto verbracht und das Geschäft vom gegenüberliegenden Strassenrand aus observiert. Doch ausgerechnet dann war nichts passiert. Das hatte Nora auf den Gedanken gebracht, der Ladenbesitzer könnte die Diebstähle aus irgendeinem Grund inszeniert haben, vielleicht um einen Versicherungsbetrug zu begehen. Machte allerdings auch nicht viel Sinn, auf diesen Fall zwei Ermittler anzusetzen. Das Ganze war etwas verworren und äusserst unergiebig.
«Möchtest du einen Kaffee?», fragte Jan.
Sie nickte. Jan ging in die Küche. Während er mit der neuen Espressomaschine hantierte, liess Nora ihren Blick durch das Büro schweifen. Leicht chaotisch sah es aus, wie immer. Nebst all den Fotos von Elektro-Luigi war ihr Pult überhäuft mit diversen Papierstapeln, Heften und Notizen, überall lagen Stifte, Marker und Büroklammern. Neben dem Laptop stand ein Bild ihres Vaters, auf dem er mit verschränkten Armen stolz in die Kamera lächelte – ein junger Kriminalpolizist am Anfang seiner Karriere. Noch immer hoffte sie, dass Vaters Mörder einmal geschnappt würde und sie ihren Seelenfrieden fand. Es war nicht gut, jahrelang Rache- und Trauergefühle in sich zu tragen.
Das erinnerte sie daran, sich wieder einmal bei ihrer Mutter zu melden. Diese hatte nach dem Schock die Schweiz verlassen und wohnte nun allein in einem Häuschen in der Nähe von Montpellier. Sie lebte vom Erbe ihres ermordeten Mannes, das bestimmt bald zur Neige ging, und interessierte sich für nichts anderes als für ihre Aquarellmalerei. Dass sie eine Tochter hatte, schien sie vergessen zu haben. Jedesmal, wenn Nora sie anrief, was alle paar Wochen der Fall war, wirkte sie noch eine Spur zurückhaltender und fremder. Ihr Psychiater hatte es endogene Depression genannt, doch für Nora war ihre Mutter der lebende Beweis, dass unterdrückter Schmerz einen Menschen innerlich zerfrass. Mutter hatte keine Träne geweint, als Vater erschossen worden war, sie war versteinert. Nora hatte sich in Rachephantasien gestürzt und monatelang jede Nacht geträumt, wie sie den Mörder überführte. Welche Methoden sie dabei anwandte, hätte jeden Seelenklempner in Schrecken versetzt. Sie seufzte, dann riss sie sich aus den Erinnerungen und wandte sich wieder den ausgelegten Fotografien zu.
Von der Küche her hörte sie das Zischen der Kaffeemaschine und das Pfeifen des Teekochers.
Ihr Detektivbüro war inzwischen zu einer zweiten Heimat für Jan und sie geworden. Meistens sorgte er für ihr beider leibliches Wohl. Er achtete darauf, dass der Kühlschrank immer voll und die Früchteschale mit Obst gefüllt war. Doch das würde sich vielleicht bald ändern, wenn Jan verheiratet wäre. Wollte er am Ende noch Kinder? Suchte er sich dann einen sichereren Job mit geregelten Arbeitszeiten?
«Jan, was ich dich fragen wollte –»
Er brachte ihr den Kaffee und stellte einen herb riechenden Tee vor sich, der den Duft eines Laubwaldes verströmte. Nora schaute ihn stirnrunzelnd an.
«Birkenblättertee», erklärte er, «gut für die Ausscheidung von Giftstoffen. » Er nahm einen Schluck. «Was wolltest du wissen?»
«Nach deiner Hochzeit – wird sich da beruflich etwas für dich ändern?»
«Nie im Leben», sagte er ernst. «Monika hat eine gute Stelle, ich muss nur für mich selber aufkommen. Und du bezahlst mich doch grosszügig. »
«Ja, aber Abendschichten, Nachteinsätze, Wochenenddienst, du weisst schon. Das ist dem Eheleben nicht so bekömmlich. »
«Im Gegenteil. » Er blies auf sein heisses Gebräu, nippte daran und zuckte zusammen, als er sich die Zunge verbrannte. «Unregelmässige Arbeitszeiten verhindern, dass das Zusammensein selbstverständlich wird. Wir geniessen die wenigen gemeinsamen Stunden umso mehr. Monika ist als Pflegefachfrau in der gleichen Situation wie ich. Sie arbeitet oft nachts. Du wirst mich nicht los, bis ich alt und schwabbelig bin. »
Sie winkte ab. «Dagegen tun wir was!»
«Erbarmen, Chef. Ich habe immer noch Muskelkater. »
Sie grinste.
Da klingelte es. Die Tür wurde geöffnet, leise Schritte ertönten.
«Hast du Elektro-Luigi auf heute bestellt?», fragte Jan.
Nora schüttelte den Kopf. «Wir sollten ihm erst Ende Woche einen neuen Zwischenbericht abliefern. » Sie stand auf und trat in den Empfangsraum mit den roten Sesseln. Eine Frau, zwei, drei Jahre jünger als sie, vielleicht Anfang dreissig, stand unschlüssig herum. Sie hatte ihre Haare hochgesteckt, trug Jeans und unter ihrer dünnen Jacke eine helle Bluse.
«Sind Sie die Detektivin?», fragte sie.
«Nora Tabani. Und das ist mein Partner Jan Berger. » Nora zeigte auf Jan, der dabei war, die herumliegenden Fotos zusammenzuräumen. «Was können wir für Sie tun?»
Die Frau schien aufgewühlt, unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, als hätte sie in den letzten Tagen nicht viel geschlafen. «Es geht um einen Todesfall vor vier Tagen. Mein Vorgesetzter ist … ich kann es fast nicht glauben, es kommt mir alles so irreal vor. »
Nora nahm ihr die Jacke ab und hängte sie an einen Bügel. «Treten Sie doch bitte ein, und erzählen Sie von Anfang an. »
Die Frau lächelte entschuldigend. «Tut mir leid, ich bin ziemlich durcheinander. » Sie folgte Nora ins Büro, setzte sich an die andere Seite des Schreibtischs und begann: «Mein Name ist Sarah Dobler. Ich bin … ich war die Chefsekretärin von Maximilian Kowalski, dem Geschäftsführer von ‹Store & Go›, einer Lagerhausfirma in Zürich-Altstetten. » Sie machte eine Pause, um sich zu sammeln. «Ich glaube, ich brauche Ihre Dienste. »
Nora nickte ihr aufmunternd zu. «Sie erwähnten etwas von vor vier Tagen. »
«Ja. Am letzten Donnerstag feierten wir das 20-Jahr-Jubiläum auf unserer Dachterrasse. »
«Wir?»
«Alle zweiunddreissig Mitarbeiter. Ich habe das Fest organisiert, eine Bowle gemacht und Wein aufgetischt. » Sie machte eine Pause, dann sagte sie mehr zu sich selbst: «Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen. Aber so ein wichtiger Anlass ohne Alkohol – das geht schlecht. »
«Die Leute haben zu viel getrunken?», vermutete Nora.
«Viel zu viel. Vor allem Herr Kowalski hat ein Glas ums andere in sich hineingeschüttet. Er trinkt oft und ist sich das gewöhnt… » Sie merkte nicht, dass sie in die Gegenwartsform gerutscht war. «… Auch bei anderen Gelegenheiten verhält er sich hemmungslos oder wird ausfällig. Er ist ruppig, hat aber einen weichen Kern. Leider lässt er niemanden an sich heran. Er eckt an … » Sie realisierte, dass sie von ihrem verstorbenen Chef sprach, als lebe er noch, und korrigierte sich: «Ich meine, er eckte an, wo er nur konnte. Doch so hatten wir ihn noch nie erlebt. »
«Was ist genau passiert?»
Jan nahm Block und Stift zur Hand und machte sich Notizen, während Sarah Dobler fortfuhr: «Anfangs war die Stimmung locker, dann wurde Herr Kowalski immer seltsamer. »
«Was meinen Sie damit?»
Sarah Dobler schaute aus dem Fenster, wo eine Taube Brosamen vom Sims pickte und mit dem Schnabel klopfte. «Er schien betrunken, aber irgendwie anders. Aggressiver. » Sie schüttelte den Kopf. «Nein, das ist das falsche Wort. Es war nicht Aggression, es war eine Art Hitze, ein inneres Feuer. Sein Gesicht war knallrot, seine Augen flackerten, als hätte er rasende Kopfschmerzen. »
Die Taube flatterte davon und streifte mit ihrem Flügel die Glasscheibe. Eine Feder löste sich und segelte zu Boden. Jan blickte ihr nach, dann schrieb er «Hitze, Augenflackern, Kopfschmerz» in seinen Rapport.
«Dieses Verhalten kann durchaus die Wirkung von Alkohol sein», meinte Nora.
«Ich weiss», gab die Sekretärin zurück. «Aber Herr Kowalski benahm sich merkwürdig. Zuerst fand er die Worte nicht. Dann beklagte er sich, ihm sei zu heiss, und schliesslich rief er, er könne fliegen. Er stürzte über die Terrasse. »
«Sie meinen, er fiel?»
«Nein. Er sprang. »
Nora hob eine Augenbraue. «Sind Sie ganz sicher?»
Sarah Dobler nickte. «Ich habe es aus nächster Nähe miterlebt. Er sprang über das Geländer. Noch während des Sturzes rief er: ‹Ich kann fliegen!› Es war grauenhaft, das mitanzusehen. » Sie schlug die Hände vors Gesicht, als könnte sie so die inneren Bilder verscheuchen, dann murmelte sie: «Er war wie getrieben, nicht mehr er selbst. Irgendetwas stimmt hier nicht. Frau Tabani, Herr Berger. » Sie schaute erst zu Nora, dann zu Jan, und ein verletzlicher Ausdruck huschte über ihr Gesicht. «Ich möchte Sie bitten, dem auf den Grund zu gehen. »
«Wenn Sie das möchten, tun wir das gern», sagte Nora und informierte sie über ihre Honoraransätze. «Bei solch einer Untersuchung können einige Arbeitsstunden zusammenkommen. »
«Geld ist im Moment kein Problem», antwortete Dobler. «Ich habe etwas gespart. Ich dachte zwar nicht, dass ich es jemals so ausgeben würde, aber es ist es mir wert. »
«In Ordnung. Was denken Sie, ist tatsächlich vorgefallen?»
Dobler zögerte eine Sekunde, als wage sie das, was sie vermutete, nicht auszusprechen. Dann gab sie sich einen Ruck. «Ich glaube, er wurde umgebracht. »
Eine Weile herrschte Stille. Nora versuchte, die Informationen einzuordnen, was ihr nicht recht gelang. «Das müssen Sie mir genauer erklären. Sie sagen einerseits, er sprang. Und andererseits, er sei umgebracht worden. Wie passt das zusammen?»
«Ich kann mir vorstellen, wie abwegig sich das für Sie anhört. Für mich wirkte es so, als springe er nicht freiwillig. »
Nora betrachtete Sarah Dobler. Sie wirkte wie eine vernünftige, zuverlässige Frau. Nicht unbedingt eine, bei der Vergnügen und Freizeit an erster Stelle standen. Aber keine, die aus einer Mücke einen Elefanten machte.
Die Sekretärin wühlte in ihrer Handtasche und zog ein durchsichtiges Mäppchen hervor. Darin lagen ein paar zusammengeheftete A4-Papierbögen. Diese reichte sie über den Tisch. «Hier. Ich habe Ihnen alles aufgeschrieben, woran ich mich an diesem Abend erinnere. Zudem die Namen, die Funktionen all unserer Mitarbeiter und andere Informationen. »
Nora staunte. Dass ihr jemand so viel Arbeit abnahm, war noch nie vorgekommen. Sie warf einen Blick auf das Geschriebene.
«Donnerstag, 1. April, 20. 00 Uhr», las sie. «Als Erster betritt Roland Wehr die Terrasse und nascht vom Buffet. Nach ein paar Minuten kommen Maximilian Kowalski und Cedric Stark dazu… »
Nora überflog die Seiten, erfuhr von Kowalskis Ansprache, der mexikanischen Musikgruppe und las den Schluss: «Zwanzig Minuten nach Herrn Kowalskis Sturz trifft die Polizei ein und befragt alle Anwesenden. Cedric Stark bagatellisiert Herrn Kowalskis Trunkenheit. Claudia Campanini weint, Marco Benedetto tröstet sie. Gerhard Furrer sagt, sie solle sich zusammenreissen. Ruth Mäder räumt das Buffet ab, bis einer der Polizisten sie auffordert, alles so zu lassen, wie es ist. Tim Stalder und Roland Wehr reden auf einen Kriminalpolizisten ein, man müsse Kowalskis Frau benachrichtigen. Um halb eins werden wir schliesslich von der Polizei entlassen. Wir sollen uns für weitere Auskünfte bereithalten. Kowalskis Leiche wird in die Gerichtsmedizin gebracht. Am Montagmorgen teilt mir ein Herr Salzmann von der Kriminalpolizei mit, die Obduktion habe ergeben, dass Maximilian Kowalski beim Aufprall auf dem Boden an einem Schädelbruch gestorben sei. Er sei sofort tot gewesen. Seine Leiche würde zur Beerdigung freigegeben. »
Nora legte den Bericht zur Seite. «Sind Sie sicher, dass niemand ihn gestossen hat?»
«Das hätte ich gesehen. Er fiel auch nicht aus Versehen in die Tiefe. Er sprang. Das ist ja das Unverständliche. Aber er sprang aus einem bestimmten Grund, das war keine normale Trunkenheit. Wenn Sie dabei gewesen wären und ihn gesehen hätten, würden Sie mir beipflichten. »
«Sie denken, jemand habe ihn dazu gebracht, das zu tun? Eine Art Selbstmord vor Zeugen?»
Sarah Dobler schienen Noras Zweifel peinlich zu sein. «Ich weiss, es klingt seltsam. Aber ich fürchte, ein Mörder ist unter uns. »
Nora sah auf die Personenliste, die Dobler ihr mitgebracht hatte. «Weshalb sollte jemand von ‹Store & Go› Kowalski umbringen wollen?»
«Mir ist bewusst, dass es nicht nett ist, schlecht über Verstorbene zu sprechen. Ich bin wahrscheinlich die Einzige, die sein aufbrausendes Verhalten durchschaut hat. Aber leider muss ich es sagen: Niemand trauert Kowalski nach. Er war ein… » Sie räusperte sich. «Er war kein einfacher Mensch. »
Nora hätte gern gewusst, welches Wort die Frau verschluckt hatte. Was war ihr Chef gewesen? Ein Ekel? Ein Betrüger? Ein Tyrann? «Warum möchten Sie, dass wir den Fall übernehmen?»
Jan sass mit gezücktem Stift da und widmete ihr seine volle Aufmerksamkeit.
Sarah Dobler sah Nora lange an, dann flüsterte sie fast lautlos: «Vielleicht geht es nicht nur um Kowalski. Ich weiss nicht, warum, aber ich glaube, das war erst der Anfang. Es wird mehr Tote geben. Ich spüre das. Ich fürchte um mein Leben. »
Nachdem Sarah Dobler das Büro verlassen hatte, öffnete Jan das Fenster und wischte mit einem Papiertuch den Taubendreck vom Sims. «So was Merkwürdiges habe ich noch nie gehört. »
«Geht mir genauso. Aber sie wirkte auf mich weder verwirrt, noch irrational, noch sonst wie schräg. Einzig ihre Angst war spürbar. »
Ein Piepsen ertönte. Jan schmiss das schmutzige Tuch in den Papierkorb und griff nach seinem Handy. Als er die Nachricht las, die hereingekommen war, überzogen sich seine Wangen mit einem zarten Rosa.
«Ich nehme an, es ist nicht Frau Dobler», lachte Nora.
«Nein, ist es nicht. » Er machte Anstalten, sofort zu antworten, dann hielt er inne und sah zu ihr hinüber.
Sie nickte ihm aufmunternd zu. «Na los, schreib Monika schon, dass du sie auch liebst. Frauen hören das gern mehrmals pro Tag. »
Er lachte und begann zu tippen. Nora nahm an, dass er noch ein paar Herzchen mitschickte. Er war um ein Vielfaches romantischer als sie.
Sie nutzte die Zeit, um schnell in ihre Mansarde hochzusteigen und nach Gregor zu sehen. Sie verwöhnte ihr Chamäleon gern mit Grillen und Heuschrecken der Delikatess-Klasse, in der Hoffnung, aus ihm ein beziehungsfähiges Reptil zu machen. Doch nach wie vor ignorierte er sie sträflich. Leise, um ihn nicht zu erschrecken, ging sie zum Terrarium. Er sass stocksteif auf einem Ast, den Schwanz zu einer Spirale gekringelt. Seine Finger umklammerten die Rinde, den Kopf hielt er schräg nach oben, so dass der Höcker hochnäsig zum Himmel ragte. Heute war er grün-gelb mit einem Hauch türkis.