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«Kann ich das Testament sehen?»
«Seine Frau hat es bereits dem zuständigen Amt weitergeleitet. »
Nora ging ein paar Schritte auf und ab. «Ich werde alle Angestellten befragen. Wenn sich der Verdacht, Kowalskis Tod könnte mehr als ein Unfall gewesen sein, in den nächsten Tagen nicht erhärtet, werde ich den Fall abgeben. Ich muss Ihnen gestehen, dass mir ein Mord unter diesen Umständen sehr unwahrscheinlich vorkommt. »
«Verständlich», sagte Dobler etwas enttäuscht.
«Sehen Sie», meinte Nora, «ich möchte nicht, dass Sie Ihr Geld für eine aussichtslose Sache ausgeben. »
«Danke. Das weiss ich zu schätzen. » Die Sekretärin griff in ihre Tasche und zog einen Schlüssel hervor. «Das ist ein Passepartout für alle Räumlichkeiten von ‹Store & Go›. So können Sie sich frei bewegen, wo immer Sie wollen. »
Nora steckte ihn ein.
5
Cedric Stark schien auf Noras Kommen gewartet zu haben.
Der grossgewachsene Mann mit der Designerbrille ist zu gut angezogen für diesen Job, dachte Nora als Erstes, als sie ihn sah. Sein Anzug sah massgeschneidert aus, seine Schuhe waren aus feinstem Leder. An seinem Handgelenk prangte eine goldene Uhr, die mehr gekostet haben musste, als Nora in den nächsten Jahren verdienen würde. Nachdem er Nora hereingelassen hatte, bot er ihr einen Platz an. Der Stuhl war tiefer eingestellt als seiner, wie sie bemerkte. Raffinierte Strategie. Sie setzte sich, und er überragte sie beträchtlich. Sein Arbeitsraum war perfekt ausgestattet, Schwarz und Weiss herrschten vor. Ein schwarzer Schreibtisch, auf dem ein weisser Mac stand, schwarze Regale mit weissen Buchstützen. Und metergrosse Schwarz-Weiss-Fotografien von New York.
«Tee? Kaffee?», bot er höflich an, aber seine Stimme hatte einen eisigen Unterton.
«Nein danke. Ich habe nur ein paar Fragen. »
«Frau Dobler teilte mir mit, dass die Lebensversicherung Erkundigungen einholen muss. » Er sah sie von oben herab an. «Obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie ich Ihnen helfen sollte, Frau … wie war Ihr Name?»
«Tabani. »
«Frau Tabani. Was möchten Sie denn wissen?» Er spielte mit einem silbernen Kugelschreiber.
Nora versuchte, eine Regung in seinem Gesicht zu entdecken, doch da war nichts. Stark war ein aalglatter Typ. Sie beschloss, ihn etwas aus der Reserve zu locken. «Was empfinden Sie beim Gedanken an Kowalskis Tod?»
Er schaute sie mit einer Mischung aus Entgeisterung und Spott an. «Empfinden? Sie fragen mich im Ernst nach meinen Gefühlen? Was soll das?» Er legte den Kugelschreiber mit Nachdruck auf den Schreibtisch.
«Wie wär’s, wenn Sie mir einfach antworteten?»
«Ich empfinde gar nichts. Ich tue meine Arbeit. Und zwar mehr als sonst, da ich seinen Teil auch noch übernehme. » Voller Verachtung sagte er: «Die Dobler ist mir keine grosse Hilfe. »
«Das muss hart sein. »
Er sah sie scharf an. «Machen Sie sich über mich lustig?»
«Keineswegs. Ich stelle nur fest, dass Sie doch etwas empfinden. »
«Die Wendung dieses Gesprächs gefällt mir nicht, Frau Tabani. »
«Dann lassen Sie es uns kurz halten: Wie haben Sie Kowalski am fraglichen Abend erlebt?»
Cedric schien eine spitze Antwort geben zu wollen, dann liess er es sein. «Wie immer. Ausser, dass er sich beim Wein nicht unter Kontrolle hatte, wofür ich kein Verständnis habe. Immerhin hatte er eine Vorbildfunktion. »
«Sind Sie je auf den Gedanken gekommen, jemand hätte bei seinem Tod nachgeholfen?»
«Absolut nicht, Frau Tabani. Wollen Sie mir etwas unterstellen? Was hätte ich von Kowalskis Ableben?»
Nora hatte ihn zwar nicht als Einzigen darauf ansprechen wollen, doch da er ihre Frage persönlich nahm, entschied sie sich anders. «Das liegt auf der Hand. Sie werden voraussichtlich die Geschäftsleitung übernehmen. »
Stark erhob sich. «Wie können Sie es wagen! Für welche Versicherung arbeiten Sie überhaupt? Ich bitte Sie, mein Büro zu verlassen. »
Kaum hatte er das gesagt, öffnete sich die Tür, und ein lächelnder Blondschopf schaute herein. Sarah Doblers Beschreibung nach musste das Roland Wehr sein.
«Was ist?», fauchte Stark in seine Richtung. «Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, Sie sollen anklopfen?»
«Sorry!» Wehr warf einen neugierigen Blick auf Nora, nickte ihr zu, dann sagte er zu Stark: «Es geht um die neue Broschüre. Sarah fand sie farblich zu grell und möchte einen zweiten Druck in Auftrag geben. »
«Frau Dobler hat hier gar nichts zu sagen! Und was haben Sie mit der Broschüre zu tun?»
«Ich würde sie dem Versand der neuen Einzahlungsscheine gleich beilegen. Was soll ich jetzt machen?»
«Legen Sie sie bei. »
Starks Schroffheit schien an ihm abzuperlen. «Wie Sie meinen. »
«Begleiten Sie Frau Tabani gleich hinaus. Sie wollte gerade gehen. »
«Was für ein Blödmann», flüstere Roland Wehr gutgelaunt, als er die Tür zu Starks Büro hinter sich schloss. Er führte Nora in seinen Arbeitsraum, den er mit Claudia Campanini und Ruth Mäder teilte. «Lassen Sie sich von ihm nur nicht beleidigen. Das ist genau das, was er beabsichtigt. Haben Sie gemerkt, dass er der Einzige ist, der darauf besteht, dass man ihn siezt?»
Die Atmosphäre in diesem Büro wirkte ganz anders als in jenem von Cedric Stark. Die Arbeitsplätze der drei schienen nicht klar abgetrennt zu sein. Die einzelnen Pulte waren durch Abstelltischchen miteinander verbunden, den Drucker schienen alle drei zu benutzen, überall waren Nippes verteilt – Teetassen mit dem Schriftzug «I love London», ein Teddybär, wie das Zürcher Lighthouse ihn vor Weihnachten verkaufte, Fotos, die aussahen, als seien sie an gemeinsamen Betriebsausflügen aufgenommen worden. Auf einem Korpus für Ordner stand eine Schale mit Mini-Schokoriegeln.
Roland Wehr wandte sich an die beiden Frauen: «Mädels, das ist die Versicherungsdetektivin Nora Tabani, die Sarah angekündigt hat. Allerdings … » Er schaute sie mit verschmitztem Lächeln an. «… hat Marco mir erzählt, sie sei in Wirklichkeit eine Doppelagentin auf einer geheimen Mission gegen die Mafia. »
Eine ältere Dame in grauem Deux-Pièces drückte Nora schüchtern die Hand: «Mäder, Ruth Mäder. Es ist eine grosse Tragödie, die sich da ereignet hat. »
Tatsächlich war sie die Erste, bei der Nora einen Anflug von Trauer entdeckte. Ruth Mäders Kinn zitterte unmerklich, ihre Stimme klang brüchig. «Nie hätten wir so etwas erwartet. Ich meine, er war nicht krank oder schwächlich. »
«Du meinst, er hatte ganz andere Schwächen», warf die zweite Kollegin von Roland Wehr ein, eine junge Frau, die sich mit Claudia Campanini vorstellte. Sie war stark geschminkt, schmuckbehangen und trug einen Mini in schreiendem Gelb. Eine Wolke blumigen Parfums umgab sie.
«Was für Schwächen?», fragte Nora.
«Na», meinte Campanini, «er stand auf alles, was Röcke trägt, wenn Sie wissen, was ich meine. »
Roland Wehr nickte bekräftigend. «Das kann ich bezeugen. »
Doch Ruth Mäder warf ein: «Es ist nicht richtig, so über ihn zu reden. Er ist auf schreckliche Art ums Leben gekommen. Was vorher war, zählt jetzt nicht mehr. »
«Und ob das zählt, Ruth», widersprach Wehr. «Aus welchem Grund sollte Frau Tabani sonst hier sein?»
Alle drei standen um Nora herum und schauten sie erwartungsvoll an. Die Atmosphäre, das bemerkte Nora sofort, war kollegial und locker. Die ältere Dame hatte etwas Mütterliches an sich, die junge legte Wert auf Sexappeal, beide mochten Roland Wehr, und dieser genoss die Aufmerksamkeit.
«Sie haben Recht, Herr Wehr», sagte Nora. «Ich wäre froh, Sie könnten mir möglichst genau berichten, woran Sie sich erinnern. »
«Kowalski war komplett besoffen», sagte Roland Wehr, setzte sich auf einen Schreibtisch und liess die Beine baumeln. «Ich meine, so was von blau. Ich hoffe, ich bringe seine Frau mit dieser Aussage nicht um ihre wohlverdiente Lebensversicherung, aber so war es nun mal. »
«Stimmt», sagte Campanini. «Er hat an mir rumgefummelt und sich echt daneben benommen. »
«Es ist nicht richtig, so über ihn zu sprechen», warf Ruth Mäder ein. «Wir sollten das einfach nicht tun. Er war auch nur ein Mann. »
Wehr lachte schallend. «Was soll das denn nun wieder heissen?»
«Er wollte nicht einmal Hilfe annehmen», fuhr die ältere Dame unbeirrt weiter, «als er das Gleichgewicht verlor. »
«Sind Sie auf ihn zugelaufen?», wollte Nora wissen und schaute in die Runde.
«Na klar», sagte Wehr.
«Man konnte ja nicht anders», meinte Campanini.
«Ich war zu weit weg», entschuldigte sich Mäder. «Aber viele griffen nach ihm. Leider zu spät. »
«Könnte ihn jemand aus Versehen gestossen haben?» Nora fragte so beiläufig wie möglich.
«Seltsam, dass Sie das sagen», gab Roland Wehr zurück. «Aber wenn ich es mir recht überlege… Wissen Sie was?» Er machte eine dramatische Pause, und die anderen hingen an seinen Lippen. «Ich glaube, Stark hat ihn geschubst. »
«Roland!», empörte sich Ruth Mäder. «So etwas zu behaupten, ist ungeheuerlich!»
«Wieso? Alle wissen, in welche Position er jetzt aufsteigt. »
«Ich glaube nicht, dass er es war. » Claudia Campanini spielte gedankenverloren mit ihrem Ring und trat von einem Fuss auf den anderen. Erst jetzt merkte Nora, dass sie gemeingefährliche Stilettos trug, fast schon Stelzen. «Es kommt mir auch so vor, als hätte ich die Hand von jemandem gesehen. Aber Cedric Starks Hand war es nicht. Der stand hinter mir. » Sie wandte sich an ihre Kollegin. «Wo warst du eigentlich, Ruth?»
«Wie ich schon sagte, ich stand weiter entfernt. » Ruth Mäders Mund war leicht verkniffen.
«Das stimmt nicht ganz, meine Liebe», neckte Wehr, «du bist gleich mit Tim zu Kowalski gerannt. Das weiss ich noch genau, weil ich dachte: Unsere Ruth kann springen wie ein junges Reh!»
«Es passierte alles so schnell», antwortete diese, «man kann nicht von mir erwarten, dass ich mich an alles erinnere. Sie müssen sich vorstellen», sagte sie zu Nora, «all das, worüber wir jetzt sprechen, geschah in wenigen Sekunden. Verstehen Sie?»
«Selbstverständlich», meinte Nora. «Wissen Sie, ob jemand von Kowalskis Tod profitiert?»
Ruth Mäder war erschüttert über die Frage. Claudia Campanini betrachtete ihre Fingernägel.
Roland Wehr grinste. «Klar. Die Witwe. Antje Kowalski wird wohl tüchtig absahnen. Cedric Stark wird neuer Big Boss. Und mindestens drei Frauen haben ihre Genugtuung. »
«Und dabei handelt es sich um…?», fragte Nora.
«Die beiden letzten Chefsekretärinnen. »
«Weshalb?»
«Das tut doch hier nichts zur Sache», meinte Mäder. Doch Wehr liess sich nicht von seiner Fährte abbringen. «Beide haben ihn innerhalb weniger Jahre wegen sexueller Belästigung angezeigt. »
«Ach ja?», machte Nora. «Und kam es zu einer Verurteilung?»
«Sie zogen ihre Anzeigen nach kurzer Zeit wieder zurück. »
Nora wartete, und als er nicht fortfuhr, fragte sie: «Sie sprachen von drei Frauen. Wer ist die dritte?»
Er stiess Campanini kumpelhaft in den Arm. «Na, unsere Claudia hier. Bei dir hat er’s doch auch versucht, oder? Du hättest ihn doch mit Vergnügen ins Jenseits befördert. »
«Hör auf!», sagte diese.
Ein betretenes Schweigen herrschte. Roland Wehr schien es nicht wahrzunehmen. Wie ein kleiner Junge sass er auf dem Pult und schlenkerte noch immer mit den Beinen.
«Haben Sie nicht vielleicht etwas zu viel Staub aufgewirbelt?», fragte die ältere Dame Nora leicht vorwurfsvoll. «Man muss doch nicht alles immer wieder aufwärmen. »
«Es geht um einen Todesfall, Frau Mäder», gab Nora zurück. «Da kann man nicht genug aufwirbeln. »
Cedric lauschte. Keine Stimmen auf dem Gang. Keine vorwitzige Versicherungszicke in der Nähe. Er griff nach dem Telefonhörer. Dann überlegte er es sich anders und nahm sein Handy hervor. Diese Dobler wäre imstande, sein Gespräch mitzuverfolgen. Er wusste, dass Kowalski seine Leute kontrolliert hatte. Einmal hatte er Dinge über ihn, Cedric, gewusst, die er nur hatte erfahren können, indem er Telefongespräche im Geheimen abhörte. Darauf angesprochen, stritt er zuerst alles ab, um es später zuzugeben. Mit der Begründung, er wolle gegen Firmenspionage gewappnet sein. Spionage?, hatte Cedric höhnisch gefragt, in einer Lagerhausfirma? Da war Kowalski ausgerastet, hatte ihn angeschrien, er, Stark, habe keine Ahnung, die Schweizer hätten den Krieg nicht miterlebt, natürlich gehe es nicht um Spionage, aber man müsse seine Untergebenen im Griff haben, bevor sie sich gegen einen wendeten. Und Cedric hatte Kowalskis Paranoia gespürt, hatte gemerkt, dass sich hinter seinem Verhalten ein kleines Würstchen verbarg, dem es nur um Macht und Kontrolle ging.
Wenn Cedric jetzt nicht wachsam war, würde diese verklemmte Sarah Dobler von Kowalskis Apparat aus mitlauschen. Er wusste zwar nicht genau, ob sie überhaupt von der Verkabelung Kenntnis hatte, doch sicher war sicher. Er stellte die Nummer ein, die er auswendig kannte.
Die Frau meldete sich so schnell, dass er wusste, sie hatte neben dem Telefon auf seinen Anruf gewartet. «Cedric? Endlich lässt du von dir hören. Ist sie immer noch bei euch?»
«Sie schnüffelt gerade bei der Schwuchtel rum. »
«Roland ist nicht schwul, das hab ich dir doch gesagt. »
«Er benimmt sich aber so. »
Ein kurzes Zögern am anderen Hörer. Dann die ängstliche Frage: «Hat sie etwas herausgefunden?»
«Noch nicht, aber sie wird. Sie ist clever. »
«Wir müssen aufpassen, nicht wahr?»
Was für eine dumme Frage. Hatte sie denn nicht gehört, was er gesagt hatte? «Ja, Schatz, wir müssen aufpassen. »
«Ich liebe dich, Cedric. »
Ohne jegliche Regung antwortete er: «Ich liebe dich auch, Antje. »
6
Es ging gegen Mittag, als Sarah Dobler Nora die Dachterrasse zeigte.
Vom Ende des Gangs waren sie die Treppen hochgestiegen und auf der riesigen Plattform gelandet. Die Sicht von hier war phantastisch. Von der einen Seite aus sah man zum Albis hinüber, von der anderen zum Käferberg und Zürichberg.
«Wird die Terrasse häufig benutzt?», fragte Nora.
«Ab und zu verbringt jemand seine Mittagspause hier oben. Und seit das Rauchverbot durchgesetzt wurde, verziehen sich die Raucher mehrmals pro Tag für ein paar Minuten hier herauf. »
«Wer gehört zu ihnen?»
«Da die Umzugsleute vor der Garage rauchen, sind das nur Gerhard Furrer vom Lager und Claudia Campanini, manchmal begleitet von Marco Benedetto. Und dann natürlich Herr Kowalski. Bis zu jenem Tag … »
Nora ging zum Terrassenrand. Eine Betonmauer reichte ihr bis zur Hüfte, darüber war eine Metallstange angebracht. «Wo genau ist er hinuntergestürzt?»
Dobler zeigte es ihr, und Nora bemerkte, dass die Sekretärin erschauerte, als sie den Ort des Unglücks betraten. Sie wagte sich nicht ganz an den Rand, schob zögerlich einen Fuss vor und bog den Oberkörper nach hinten, weg vom klaffenden Abgrund. Hatte sie Höhenangst?
Nora stützte sich aufs Geländer und schaute in die Tiefe. Die Autos in der Hohlstrasse waren zu sehen. Ein paar Leute gingen auf dem Trottoir, man hörte Hupen und das Rauschen des Verkehrs. Dort unten war Kowalskis Leiche gelegen. Nichts erinnerte mehr daran, kein Fleck, keine markierte Stelle. Nora wandte sich ab und überquerte die Terrasse. Sie war blitzblank geputzt, als hätte hier nie eine Party stattgefunden. Nora zückte ihre Kamera, machte Aufnahmen in jede Richtung, fotografierte den Abgang zur Treppe, die Terrassentür und weiter hinten einen Lüftungsschacht. Dann ging sie nochmals zur Brüstung und knipste die Strasse. Als sie in die Tiefe blickte, wurde sie von Schwindel ergriffen. Auf einmal konnte sie sich vorstellen, wie ein Beschwipster, der seine Bewegungen nicht ganz unter Kontrolle hatte, vom Abgrund angezogen, halb hinunterfiel, halb sprang, ohne dass eine Drittperson dabei ihre Hände im Spiel hatte. Waren Jan und sie völlig auf dem Holzweg? War Kowalskis Tod nichts anderes als das, was Mike behauptet hatte? Ein Unfall, schockierend zwar, aber nicht unerklärlich?
Als hätte Sarah Dobler das Gleiche gedacht, sagte sie: «Man kann es fast nicht glauben, dass es etwas anderes als ein Unglücksfall war. »
«Sie haben Recht. Nur weil niemand Kowalski mochte, heisst das nicht, dass er getötet wurde. Vielleicht hat aber jemand einen Mord in Auftrag gegeben, um sich die Hände nicht selber schmutzig zu machen… Ich tue, was ich kann, um mögliche Hintergründe aufzudecken. Doch es kann sein, dass wir uns geirrt haben. »
«Es ist nett, dass Sie in der Mehrzahl sprechen. Wenn, dann hätte ich mich geirrt. » Dann fügte sie hinzu, als sei sie innerlich ganz woanders. «Aber ich glaube es eigentlich nicht. »
Wieder nahm Nora einen Gesichtsausdruck an ihr wahr, den sie schon einmal, als Dobler sie in ihrem Büro aufgesucht hatte, gesehen hatte. Etwas Unbeschreibliches. Eine tief eingegrabene Angst. Hatte ihr Sarah Dobler überhaupt die ganze Wahrheit gesagt?
«Ich brauche von Ihnen», sagte Nora, «die Adressen von Kowalskis letzten beiden Chefsekretärinnen. »
«Ich verstehe. Sie haben mit Roland Wehr über die Sache von damals gesprochen. »
«Hat sich Kowalski bei Ihnen nie Übergriffe erlaubt?»
Dobler seufzte. «Er hat es versucht. »
Nora wartete, ob noch mehr käme, doch Sarah Dobler schwieg.
Sie stiegen wieder hinunter. Am Empfang standen mehrere Kunden. Marco Benedetto war in seinem Element. «Sì, Signore!», rief er, kopierte etwas und händigte das Papier einem fülligen Herrn aus. Dann sprach er ein paar Worte mit einem älteren Paar, das nachfragte, ob seine Musikinstrumente sicher aufbewahrt und keinerlei Feuchtigkeit ausgesetzt seien.
«Feuchtigkeit!», rief Benedetto empört. «Bei ‹Store & Go›? Da sind Sie aber auf der Holzstrasse!»
Die Frau lachte und sagte: «In Ordnung, Sie haben uns überzeugt. Wir nehmen einen Raum von 40 Kubikmetern. Und übrigens: Es heisst Holzweg, junger Mann. »
«Wie bitte?»
«Wir sind nicht auf der Holzstrasse, sondern auf dem Holzweg. »
«Oh, nein, meine Dame, sind Sie bestimmt nicht! Ihre Instrumente sind bei ‹Store & Go› perfetto aufgehoben, das verspreche ich Ihnen. »
Benedetto entdeckte Nora, legte sich zum Zeichen seiner Verschwiegenheit den Zeigefinger an die Lippen und wirbelte von einem Kunden zum nächsten. Nora machte noch einige Aufnahmen des Eingangsbereichs, der Gänge und einzelner Büros. Das würde ihr später helfen, sich die Räumlichkeiten in Erinnerung zu rufen.
Dann verabschiedete sie sich von Sarah Dobler und fuhr mit dem Lift ins zweite Untergeschoss. In einer riesigen Halle arbeiteten mehrere Männer in Overalls. Auf den Parkplätzen standen Personenwagen, Liefer- und Lastwagen. Die Arbeiter nahmen kaum Notiz von Nora. Sie luden schwere Kisten auf Handkarren und Gabelstapler, fuhren mit diesen zum Warenlift und verschwanden. Andere schoben mit Seilen und Riemen Klaviere, Schränke und Kommoden von den Ladeflächen der Umzugswagen. Es roch nach Benzin und laufenden Motoren.
Einer rief: «Nicht so schnell, Chandra, das Teil ist noch nicht fixiert!»
Ein schmaler Tamile drosselte sein Tempo und gab etwas zurück, das ironisch klang. Zwei Männer redeten auf Türkisch und gestikulierten vor einem Stapel Schachteln. Ein anderer fuhr einen der Firmenwagen zu einem entfernten Parkplatz. Nora fotografierte Halle, Pfeiler, Autos und Eingänge zu verschiedenen Hinterräumen.
«Was tun Sie hier?», brüllte ein Schwarzhaariger und stürzte auf sie zu.
Als er näher kam, sah Nora sein Namensschild auf Brusthöhe.
«Guten Tag, Mehmet. Ich habe von Frau Dobler die Erlaubnis, mich in allen Räumen umzusehen, um –»
«Ah!» Er hielt ihr versöhnlich seine ölverschmierte Hand hin. «Sie sind die Versicherungsdetektivin! Entschuldigen Sie, wir sind angewiesen, auf Eindringlinge zu achten. Sicherheit und Diskretion stehen bei uns an oberster Stelle. Sehen Sie, dort und dort – alles wird aufgezeichnet!» Er zeigte in die Ecken, in denen Videokameras hingen. Bei den Aufzügen waren ebenfalls welche angebracht.
«Beeindruckend», sagte sie.
«Das ist es. Wenn ich Ihnen helfen kann, suchen Sie mich einfach. Ich bin immer hier unten. » Er kehrte an seine Arbeit zurück.
Nora ging noch eine Weile durch die Halle, dann hatte sie genug gesehen. Sie fuhr ins erste Untergeschoss hoch. Hier waren die grossen Mieträume untergebracht. Lange Gänge, die sich weiter hinten verloren, waren von Metallkabinen gesäumt, alle angeschrieben mit der Gang- und Raumnummer. Die Halle war an die acht Meter hoch. Da gab es Mieträume, in denen das Mobiliar eines Einfamilienhauses Platz hatte, und solche, in die man den Inhalt eines Hotels pferchen konnte. Die Kabinen waren sichtgeschützt und die Türen mit einem Schlitz für die Zugangskarte ausgestattet. Nora schaute sich um. Auch hier befanden sich überall Kameras. Auf den sauberen Wegen waren ab und zu schwarze Reifenspuren eines Transportkarrens zu sehen. Aus der Ferne hörte Nora Schleif- und Poltergeräusche, doch sie konnte nicht sagen, ob sie aus diesem Geschoss oder der Garage darunter stammten. Eine eigenartige Welt war das hier unten. Die Neonröhren an der Decke leuchteten grell, das Summen der elektrischen Leitungen erfüllte die Gänge. Nora sog die Luft tief in ihre Lungen. Es roch seltsam. Einerseits nach Metall und Beton, andererseits nach etwas Undefinierbarem, das Nora bekannt vorkam, das sie aber nicht benennen konnte. Irgend etwas Chemisches, Pulvriges. Dann wusste sie es: Insektenvertilgungsmittel. Natürlich. All die Kleider, Vorhänge und stoffbezogenen Möbel in dieser Halle waren ein gefundenes Fressen für Motten und anderes Ungeziefer.
Sie hörte Schritte, drehte sich um – und prallte Kopf an Kopf mit jemandem zusammen, der um die Ecke kam.
«Uff!», machte Nora und hielt ihre schmerzende Stirn.
«Tut mir leid!», entfuhr es dem Mann. Das hölzerne Messgerät, das er in der Hand gehalten hatte, schepperte zu Boden. Er bückte sich, hob es auf und sah sie besorgt an. «Haben Sie sich verletzt?»
«Ist nicht schlimm. Und Sie?»
«Ach was, keine Spur! Mein Schädel hält einiges aus! Suchen Sie Ihre Kabine?»
Sie verneinte und stellte sich vor.
Seine Miene hellte sich auf. «Sarah hat mir von Ihnen erzählt. Mein Name ist Tim Stalder. Ich bin der Verantwortliche für die Lagerhallen. » Er hatte ein sympathisches Gesicht mit einem dunklen Dreitagebart und Lachfältchen um die Augen. Seine Jeans betonten die athletische Figur, das ärmellose T-Shirt gab den Blick auf seine Oberarme frei. Er sah verdammt gut aus. Bevor Nora es verhindern konnte, wurde sie von einer mehr als eindeutigen Phantasie heimgesucht. Reiss dich zusammen, sagte sie sich und verscheuchte das Bild, das ihr klarmachte, wie lange es schon her war, seit sie das letzte Mal einem Mann körperlich nähergekommen war. Zumindest freiwillig. Das Einzige in letzter Zeit waren Kerle gewesen, die sie verprügelt, gewürgt, an Hausmauern geschleudert oder angeschossen hatten – ihr alltägliches Berufsrisiko eben.
«Kann ich Ihnen bei den Erkundigungen behilflich sein?», holte Stalder sie aus ihren Gedanken. «Soll ich Sie durch die Halle führen?»
«Das wär nett», brachte Nora heraus.
Sie klapperten die Gänge ab, die ihr unendlich lang vorkamen. Stalder erklärte ihr, wie die Wege und Kabinen aufgeteilt waren, und bestätigte Mehmets Bemerkung, wonach Diskretion höchste Priorität habe.
«Was wird hier alles gelagert?», fragte sie.
«Was immer Sie sich vorstellen können. Bilder, Schmuck, Werkzeuge, Möbel, Sportartikel, Fahrräder. Teure Waren und Schund. Lebende Tiere sind natürlich verboten, ebenso Pflanzen, Esswaren und andere verderbliche Dinge. Und selbstverständlich Illegales wie Drogen, Waffen oder explosive Gegenstände. »
Sie bogen um eine Ecke, wo ein weiterer langer Gang vor ihnen lag.
«Kontrollieren Sie die Inhalte der Kabinen?»
«Das ist nicht möglich. Die Mieter unterschreiben bei Vertragsabschluss ein Formular, womit sie bestätigen, uns keinerlei solche Sachen in Aufbewahrung zu geben. »
«Wie lange vermieten Sie die Räume?»
Er blieb vor der Kabine mit der Nummer «Gang 5, Raum 16» stehen. «Auf unbestimmte Zeit. Einige lagern hier nur zwischen zwei Umzügen ihr Mobiliar ein und holen es nach einer Woche wieder ab. Andere verreisen für ein Jahr ins Ausland und lassen Ihre Geschäftsunterlagen hier. Und wieder andere haben Kabinen bei uns gemietet, seit die Firma existiert. Wenn die Einzahlung jeden Monat bei uns eintrifft, fragen wir nicht nach. » Er nahm eine Karte hervor und steckte sie in den Schlitz der Tür. «Wenn jemand verstorben ist, suchen uns die Nachlassverwalter auf, um die Hinterlassenschaft abzuholen. Ansonsten, wenn nichts anfängt, komisch zu riechen, Geräusche von sich zu geben oder zusammenzubrechen, haben wir keinen Zugang zu den einzelnen Mietkabinen. »