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"Nun, mein Sohn", fuhr Herr Brownlow in einem ernsteren Tone fort, "du mußt jetzt wohl auf das merken, was ich dir zu sagen habe. Ich will ohne Rückhalt mit dir reden, denn ich glaube, du wirst mich so gut verstehen können, wie manche ältere Person!"
"Ach, sagen Sie nur nicht, daß Sie mich fortschicken wollen. Weisen Sie mir nicht die Tür, daß ich wieder auf den Straßen herumwandern muß. Lassen Sie mich hier bleiben und Ihnen dienen. Erbarmen Sie sich über einen armen Jungen, bitte!"
"Mein liebes Kind", sagte der alte Herr gerührt, "hab keine Furcht, ich werde dich nicht fortjagen, wenn du mir keinen Anlaß dazu gibst."
"Nie werde ich das, niemals."
"Ich hoffe es nicht und glaube auch nicht, daß du es je tun wirst", versetzte der alte Herr. "Ich habe mich zwar früher oft in denen getäuscht, welchen ich Wohltaten erweisen wollte. Dir will ich jedoch vertrauen, weil ich wärmeren Anteil an dir nehme, als ich mir selbst erklären kann. Diejenigen, welche ich am innigsten geliebt habe, schlummern längst in den Gräbern, aber obgleich das Glück und die Freude meines Lebens mit ihnen begraben sind, habe ich doch mein Herz zu keinem Sarge gemacht und meine schönsten Gefühle drin verschlossen."
Der alte Herr sprach dies leise vor sich hin, mehr zu sich als zu Oliver, der kaum zu atmen wagte. Nach einer kleinen Weile fuhr er in heiterem Tone fort:
"Genug, ich sage das nur, weil dein Herz jung ist und ich hoffe, daß du dich um so mehr vorsehen wirst mich zu betrüben, wenn du weißt, daß ich bereits großen Kummer und viele Leiden erduldet habe. Du sagst, du wärest eine Waise und ohne Verwandte in der Welt. Erkundigungen, die ich angestellt habe, bestätigen deine Angaben. Erzähle mir jetzt deine Geschichte – woher du kommst wer dich erzogen hat und wie du in die Gesellschaft geraten bist, in der ich dich gefunden habe. Sprich aber die Wahrheit. Wenn ich sehe, daß du kein Verbrechen begangen hast, wirst du an mir zeitlebens einen Freund und Beschützer haben."
Olivers Schluchzen erstickte eine Weile seine Worte. Als er gerade anfangen wollte zu erzählen, kündigte das Dienstmädchen den Besuch des Herrn Grimwig an.
"Kommt er herauf?" fragte Herr Brownlow das Mädchen.
"Ja", versetzte das Mädchen. "Er fragte, ob es Keks im Hause gäbe, und als ich bejahte, sagte er, er wolle hier Tee trinken."
Herr Brownlow lächelte und bemerkte zu Oliver, daß Grimwig ein alter Freund von ihm wäre, ein ungeschliffener Diamant.
"Soll ich mich entfernen?" fragte Oliver.
."Nein, du kannst hierbleiben."
In diesem Augenblick trat, auf einen starken Stock gestützt, ein starker, alter Herr ins Zimmer. Er war auf einem Bein etwas gelähmt und humpelte. Im ausgestreckten Arm hielt er seinem Freunde ein Stückchen Orangenschale entgegen und rief polternd:
"Da, sehen Sie das? Ist es nicht zum Wahnsinnigwerden, daß ich in keines Menschen Hause vorsprechen kann, ohne.so was auf der Treppe zu finden. Durch eine Orangenschale bin ich lahm geworden, und eine Orangenschale wird noch mal mein Tod sein. Ich will meinen eigenen Kopf aufessen, wenn mich nicht eine 0rangenschale noch unter die Erde bringt. – Hallo! was ist das?" fügte er mit einem Blick auf Oliver hinzu und trat einige Schritte zurück.
"Der junge Oliver Twist, von dem wir bereits gesprochen haben", versetzte Herr Brownlow.
Oliver verbeugte sich.
"Das ist also der Junge", begann Herr Grimwig.
"Ja, das ist der Junge",. versetzte Herr Brownlow und nickte Oliver dabei zu.
"Nun, wie geht's dir?" fragte Herr Grimwig.
"Ich danke, viel besser", antwortete Oliver.
Herr Brownlow schien zu befürchten, daß sein absonderlicher Freund irgend etwas Unangenehmes auf der Zunge hätte. Er trug daher Oliver auf, Frau Bedwin zu bestellen, daß sie den Tee bereithalten solle. Nachdem Oliver gegangen, fragte Herr Brownlow:
"Ist es nicht ein hübscher Junge?"
"Weiß nicht", erwiderte Grimwig mürrisch.
"Wie, Sie wissen es nicht?"
"Nein, ich weiß es nicht. Kann nie einen Unterschied an Jungen entdecken. Kenne nur zwei Arten von Jungen, nämlich Mehlsuppengesichter und Beefsteakgesichter."
"Und zu welchen gehört Oliver?"
"Zu den Mehlsuppengesichtern. Ein Bekannter, von mir hat einen Jungen, dessen Gesicht so recht die Fleischmastung ausdrückt. Sie nennen ihn einen schönen Jungen, weil er einen so runden Kopf, rote Backen und glänzende Augen hat. Mir ist der Bursche etwas Schreckliches – ein Körper und Gliedmaßen, die die Nähte seines blauen Anzuges auseinanderzusprengen drohen. Dazu kommt noch die Stimme eines Schifferknechts und der Hunger eines Wolfes. Ich kenne den Schlingel."
"Nun, derartige Eigenschaften besitzt Ofiver nicht und verdient deshalb nicht Ihren Zorn."
"Wenn nicht derartige, so hat er vielleicht noch schlimmere", entgegnete Herr Grimwig.
Herr Brownlow hustete nervös, was Herrn Grimwig mächtig zu ergötzen schien.
"Ja, er hat vielleicht noch schlimmere, sage ich", wiederholte Hee Grimwig. "Woher kommt er? Was ist er? Er hat Fieber gehabt – warum? Fieber ist bei ordentlichen Leuten nicht gewöhnlich. Schlechtes Volk hat bisweilen Fieber. Ich habe einen Menschen gekannt, der in Jamaika gehängt wurde, weil er seinen Herrn umgebracht hatte. Er hatte sechsmal das Fieber und wurde deshalb nicht zur Begnadigung empfohlen."
Im Innern seines Herzens mußte Herr Grimwig aber zugeben, daß Oliver etwas Gewinnendes an sich hatte. Sein starker Hang zum Widersprechen und sein Grundsatz, sich nie von einem andern ein Urteil über das Aussehen eines Jungen vorschreiben zu lassen, hatte ihn bewogen, seinem Freunde Opposition zu machen. Als daher Herr Brownlow zugestand, daß er sich noch nicht eingehend über Oliver erkundigt hätte, kicherte Herr Grimwig bdshaft und fragte mit höhnischem Lächeln, ob die Haushälterin auch abends immer das Silbergeschirr nachzähle, denn er würde sich nicht wundern, wenn einen schönen Tages mal ein paar Löffel fehlten – - usw.
Herr Brownlow, der selbst etwas temperamentvoll war, nahm jedoch all dies gemütlich hin, da er die Eigentümlichkeiten seines Freundes kannte. Als dieser die Keks und den Tee lobte, wurde die Unterhaltung wieder angenehmer, so daß selbst Oliver, der inzwischen zurückgekommen war, freier zu atmen begann.
"Und wann gedenken Sie sich den ausführlichen und wahrhaften Bericht von Oliver Twists Leben und Taten erstatten zu lassen?" fragte Grimwig, nachdem der Tee getrunken war. Er streifte dabei Oliver mit einem Blick.
"Morgen früh", entgegnete Herr Brownlow. "Ich möchte dann allein mit ihm sein. Komm morgen um zehn Uhr zu mir herauf, mein Kind!"
"Ja, Herr Brownlow", sagte Oliver mit einigem Zögern. Er war etwas verwirrt, da ihn Grimwig scharf ansah.
"Ich will Ihnen etwas sagen", flüsterte Herr Grimwig BrownIow zu, "er wird morgen früh nicht zu Ihnen heraufkommen. Haben Sie nicht bemerkt wie er zögerte? Er betrügt Sie, lieber Freund!"
"Ich möchte drauf schwören, daß dies nicht der Fall ist« , erwiderte Herr Brownlow mit Wärme.
,;Wenn es nicht so ist, wie ich sagte, so will ich meinen Kopf – -", damit stieß Grimwig seinen Stock heftig auf die Erde.
"Ich setze mein Leben auf die Wahrhaftigkeit des Jungen", sagte Herr Brownlow und schlug mit. der Hand auf den Tisch.
"Und ich meinen Kopf auf seine Tücke", schrie Herr Grimwig.
"Nun, wir werden ja sehen", sagte Herr Brownlow, seinen Unmut bezwingend.
"Allerdings, wir werden es sehen", sagte Herr Grimwig mit einem herausforderndem Lächeln.
Das Schicksal wollte es, daß in diesem Augenblick Frau Bedwin mit einigen Büchern hereintrat, die Brownlow am Vormittag bei demselben Buchhändler gekauft hatte, der schon einmal in unserer Geschichte eine Rolle spielte. Sie legte sie auf den Tisch und wollte das Zimmer wieder verlassen, als Brownlow sagte:
"Lassen Sie den Boten einen Augenblick warten, er muß noch etwas mitnehmen."
"Er ist bereits fort", versetzte Frau Bedwin.
"Rufen Sie ihm nach, die Sache ist wichtig. Die Bücher sind noch nicht bezahlt, und der Mann braucht sein Geld. Auch will ich ihm einige mir zur Ansicht gesandten Bücher zurückgeben."
Man lief dem Boten nach, dieser war aber nirgends mehr zu sehen.
"Schicken Sie doch Oliver damit hin", sagte Grimwig mit ironischem Lächeln. "Sie wissen, er wird sie sicher abliefern."
"Ja, lassen Sie sie mich hintragen", sagte Oliver. "Ich renne schnell hin."
Der alte Herr wollte gerade erklären, daß Oliver auf keinen Fall gehen sollte, als ein boshaftes Husten Grimwigs ihn bestimmte, den Jungen doch zu schicken. Sein Freund sollte die Ungerechtigkeit seines Argwohnes einsehen lernen.
"Du kannst gehen, Oliver. Die Bücher liegen auf dem Stuhle neben meinem Tische. Bringe sie her!"
Oliver war froh, sich nützlich machen zu können. Die Bücher unterm Arm und die Mütze in der Hand, erwartete er den Auftrag.
"Sage also dem Buchhändler", sprach Brownlow und sah dabei Grimwig scharf an, "du brächtest die Bücher wieder zurück und wolltest die vier Pfund und zehn Schillinge, die ich ihm schuldig bin, bezahlen. – -Hier ist eine Fünfpfundnote; er wird dir zehn Schillinge herausgeben."
"In zehn Minuten bin ich wieder zurück", sagte Oliver lebhaft, verbeugte sich und verließ das Zimmer. Frau Bedwin folgte ihm zur Haustür und bezeichnete ihm den Weg zum Buchhändler. "Gott sei mit dir", murmelte sie, als sie ihm nachblickte. Es tut mir leid, daß ich ihn aus den Augen lassen soll."
In diesem Augenblick sah sich Oliver um und winkte ihr zu, ehe er um die Ecke bog. Frau Bedwin erwiderte seinen Gruß und ging dann nach ihrem Zimmer zurück.
"Nun wollen wir sehen, in spätestens zwanzig Minuten wird er wieder zurück sein", sagte Herr Brownlow und zog seine Uhr aus der Tasche, die er auf den.Tisch legte. "Inzwischen wird es dunkel geworden sein."
"Sie glauben also wirklich, daß er wiederkommt?" fragte Grimwig ironisch.
"Sie nicht?" fragte Brownlow lächelnd zurück.
"Nein", sagte er, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug. "Der Junge hat einen neuen Anzug auf dem Leibe, einen Packen wertvoller Bücher unter dem Arme und eine Fünfpfundnote in der Tasche. Er wird wieder zu seinen alten Freunden, den Langfingern, gehen und Sie auslachen. Wenn der Junge je wieder hierher zurückkehrt, will ich meinen Kopf aufessen."
Mit diesen Worten rückte er seinen Stuhl näher an den Tisch und so saßen die beiden Freunde, die Uhr vor sich, in schweigender Erwartung da. – -
Es wurde so dunkel, daß man die Zahlen der Uhr nicht mehr erkennen konnte, aber die beiden alten Herren saßen immer noch schweigend da – und warteten.
Fünfzehntes Kapitel
Zeigt, wie lieb der alte Jude und Fräulein Nancy Oliver Twist hatten
In einer armseligen Kneipe einer finsteren Straße in der Gegend von Little Saffron Hill, saß über einer kleinen Kanne und einem Schnapsglase brütend Herr William Sikes. Zu seinen Füßen lag ein weißer, rotäugiger Hund, der bald seinem Herrn zublinzelte, bald eine an der Seite seiner Schnauze befindliche große, frische Wunde leckte.
"Ruhig, Biest!" rief plötzlich Herr Sikes und gab dem Hunde einen Fußtritt. Dieser biß ihn dafür in den Stiefel und zog sich dann knurrend unter eine Bank zurück. Dies entflammte Herrn Sikes Zorn mächtig. Er kniete nieder und begann das Tier mit einem Feuerhaken aufs wütendste anzugreifen. Der Hund sprang,schnappend und knurrend bald nach rechts, bald nach links. Der Kampf schien eben für den einen oder den anderen der beiden Kämpfer eine bedenkliche Wendung nehmen zu wollen, als plötzlich die Tür aufging. Der Hund schoß sofort hinaus und ließ Herrn Sikes allein.
Zu einem Streite gehören wenigstens zwei, sagt das Sprichwort, und da der Hund entkommen war, band Herr Sikes mit dem Eintretenden an.
"Was zum Teufel brauchst du zwischen mich und meinen Hund zu treten?" fragte Sikes grob.
"Das hab ich doch nicht gewußt, wirklich nicht", antwortete Fagin demütig – denn der neue Gast war niemand anders als der Jude.
"Nicht gewußt, Spitzbube?" brummte Sikes unwirsch. "Hast du denn den Radau nicht gehört?"
"Keinen Ton, so wahr ich lebe", entgegnete der Jude.
"Ja, ja, du hörst nie etwas", sagte Sikes mit Hohnlachen, "ebensowenig wie man dich hört, wenn du rein und raus schleichst. Ich wünschte nur, du wärst vor einer Minute der Hund gewesen!"
"Warum?" fragte der Jude mit gezwungenem Lächeln. "Darum, weil das Gesetz einem nicht verbietet, seinen Hund abzumurksen, während es um das Leben von Leuten deines Schlages besorgt ist, die nicht halb so viel wert sind als ein Köter", entgegnete Sikes grimmig.
Der Jude rieb sich die Hände und setzte sich an den Tisch nieder. Obgleich ihm nicht besonders wohl zumute war, zwang er sich doch zu einem Lächeln über den "Scherz" des Freundes.
"Ja, grinse nur", sagte Sikes, "grinse nur immerzu. Über mich wirst du nicht lachen, ich habe dich in der Hand, Fagin, und der Teufel soll mich holen, wenn ich dich aus den Fingern lasse. Geh' ich verschütt, so gehst du auch. Also paß gut auf, daß sie mich nicht kriegen!"
"Schon gut, mein Lieber", entgegnete der Jude, "wir haben das gleiche Interesse, ich weiß das ganz genau, Bill, dasselbe Interesse."
"Na schön", sagte Sikes, dem es so vorkam, als sei das Interesse mehr auf Seite des Juden, "was hast du mir eigentlich zu sagen?"
"Es ist alles glücklich durch den Schmelztiegel gewandert", antwortete der Jude, "und dies ist Euer Anteil. Es ist zwar etwas mehr, als Euch zusteht, Bill, aber da, ich weiß, daß Ihr mir ein andermal wieder gefälfig sein werdet, so-"
"Hör bloß mit dem Geschmuse auf", fiel der Dieb ungeduldig ein. "Wo ist's? Rück heraus!"
"Ja doch, Bill, einen Augenblick", versetzte der Jude begütigend. "Hier ist's – bei Heller und Pfennig." Er brachte ein kleines, in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen zum Vorschein, das ihm Sikes aus den Händen riß und hastig öffnete. Nachdem er die darin befindlichen Goldstücke gezählt hatte, fragte der Dieb:
"Ist das alles?"
"Jawohl", antwortete der Jude.
"Hast du auch unterwegs das Päckchen nicht aufgemacht und ein paar Stücke verdrückt?" fuhr Sikes argwöhnisch fort. "Stell dich nur nicht beleidigt, es wäre nicht das erstemal. Klingle mal."
Fagin setzte den Klingelzug in Bewegung, und kurz darauf trat ein anderer Jude ein. Jünger zwar als Fagin, aber ebenso spitzbübisch und abstoßend in seinem Äußern.
Bill zeigte nur auf die leere Kanne, worauf der Jude, der den Wink verstand, sich entfernte, um sie wieder zu füllen. Beim Herausgehen hatte er jedoch Fagin einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen, den dieser mit einem leichten Kopfschütteln beantwortete. Diese Zeichensprache ging Sikes verloren, da er sich gerade zufällig bückte. Hätte er sie bemerkt, würde er wohl wenig Gutes für sich selber daraus gefolgert haben.
"Ist jemand hier, Barney?" fragte Fagin den wieder eintretenden Juden.
"Nur Fräulein Nancy", erwiderte dieser.
"Nancy?" rief Sikes. "Ein patentes Mädel."
"Ja, sie ist drinnen am Büfett und hat sich einen Teller Rindfleisch geben lassen", bemerkte Barney.
"Schick sie her! Schnell!" rief Sikes.
Barney warf einen fragenden Blick auf Fagin, da ihm dieser aber kein Zeichen gab, so entfernte er sich und kehrte bald mit Nancy zurück.
"Du bist ihm auf der Spur, Nancy, nicht wahr?" fragte Sikes und bot ihr ein Glas Schnaps an.
"Ja, Bill", entgegnete die junge Dame und leerte das Glas mit einem Zuge. "Mühe genug hat es gekostet. Der Junge ist krank gewesen und mußte das Bett hüten, dann –"
"Sie sind ein Prachtmädel, Nancy!" sagte Fagin. Ein Augenblinzeln des Juden warnte das Mädchen vor allzu großer Offenheit. Sie lenkte deshalb das Gespräch mit Herrn Sikes auf andere Gegenstände und erklärte nach ungefähr zehn Minuten, gehen zu müssen. Herr Sikes bemerkte, daß er denselben Weg habe, und sie gingen zusammen fort. Der Hund folgte in einiger Entfernung seinem Herrn. Nachdem Sikes das Zimmer verlassen hatte, schüttelte Fgin die geballte Faust hinter ihm her und murmelte einen schweren Fluch. Dann setzte er sich wieder an den Tisch und vertiefte sich in die Lektüre des Londoner Kriminalanzeigers.
Inzwischen eilte Oliver Twist dem Bücherladen zu und dachte darüber nach, wie glücklich und zufrieden er jetzt sei. Aus diesen Träumereien wurde er durch den Ruf geschreckt: "oh, mein lieber Bruder". und fühlte gleichzeitig seinen Hals von einem Paar weiblichen Armen umschlungen.
."Lassen Sie mich los", rief Oliver sich wehrend. "Was wollen Sie denn von mir? Warum halten Sie mich auf?"
Die einzige Antwort hierauf war seitens des Mädchens:
"Gott sei Dank, ich habe ihn gefunden! O Oliver, böser Junge, wieviel Kummer hast du mir bereitet. Komm nach Hause, Liebling, komm! Ich bin ja so froh, ihn gefunden zu haben."
Das junge Mädchen brach in Tränen aus und bekam so schreckliche Krämpfe, daß ein paar dabeistehende Weiber einen vorübergehenden Schlächterlehrling fragten, ob er es nicht für richtiger hielte, zum Arzt zu laufen. Der Lehrling, wenn auch nicht gerade gefühllos, schien aber ein ziemlich träger Bursche zu sein, denn er erwiderte, seiner Ansicht nach wäre das nicht nötig.
"Mir ist schon wieder besser", sagte das Mädchen und nahm Oliver bei der Hand. "Aber nun komm schnell mit mir nach Hause, du böser, böser Junge, du!"
"Was ist denn los?" fragte eine der Frauen.
"Ach, er ist vor ungefähr vier Wochen seinen Eltern, arbeitsamen und achtbaren Leuten, entlaufen und hat sich einer Diebesbande angeschlossen. Der armen Mutter ist darüber fast das Herz gebrochen."
"Geh nach Hause, Bösewicht", schrien die Weiber.
"Solch ein verdammter Bengel."
"Das ist nicht wahr", rief Oliver in großer Angst , "Ich kenne sie gar nicht. Ich habe weder Schwester noch Vater, noch Mutter. Ich bin eine Waise und wohne zu Pentonville."
"Lieber Gott, wie frech er schon geworden ist", schluchzte das junge Mädchen.
"Ach, Nancy!" schrie Oliver, entsetzt zurückfahrend, als er ihr ins Gesicht sah.
"Ihr seht, er kennt mich", sagte Nancy zu den Umstehenden. "Er kann es nicht leugnen. Helft mir, gute Leute, ihn nach Hause bringen, sonst sterben seine armen Eltern noch vor Kummer und Sorge, und mir bricht er das Herz."
"Donnerwetter, was ist los?" rief ein Mann, der aus einer Kneipe stürzte. "Ach, der junge Oliver, komm nach Hause zu deiner armen Mutter, du Galgenstrick. Sofort gehst du mit!"
"Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich kenne sie nicht. Hilfe! Hilfe!" brüllte Oliver und wehrte sich verzweifelt gegen den festen Griff des Mannes.
"Hilfe!" wiederholte der Mann. "Ich will dir gleich helfen, Lümmel! Was sind das für Bücher? Wahrscheinlich gestohlen! Gib mal her."
Mit diesen Warten entriß er ihm die Bände und gab ihm einen heftigen Schlag auf den Kopf.
"So ist's recht, der einzige Weg, ihn wieder zur Vernunft zu bringen", riefen die Zuschauer.
"Er kann noch mehr haben", sagte Sikes, indem er Oliver einen zweiten Schlag versetzte und dann beim Kragen packte. "Marsch, du Taugenichts, und nimm dich vor meinem Hund dort in acht."
Noch schwach von der eben erst überstandenen Krankheit, betäubt durch die Schläge und das Plötzliche des Angriffs, was konnte da wohl ein armes Kind machen? Es war dunkel geworden, nirgends Hilfe, so war jeder Widerstand fruchtlos. Oliver wurde in aller Eile durch ein Labyrinth enger, finsterer Höfe geschleppt und zu so schnellen Schritten gezwungen, daß die wenigen Hilferufe ungehört verhallten.
Die Gaslampen wurden angezündet. Frau Bedwin wartete besorgt an der offenen Haustür, und das Dienstmädchen war wohl zwanzigmal die Straße hinabgelaufen, ohne eine Spur von Oliver zu entdecken. Die beiden alten Herren saßen beharrlich im dunklen Zimmer, zwischen sich die Uhr auf dem Tische – und warteten.
Sechzehntes Kapitel
Erzählt von Olivers Schicksalen nach seiner Begegnung mit Nancy
Die engen Straßen und Gassen endeten an einem großen Platz, der als Viehmarkt benutzt wurde. Sikes ging jetzt langsamer, da das Mädchen ganz außer Luft und Atem war. Er herrschte Oliver mit rauher Stimme an, Nancys Hand zu fassen.
"Hast du gehört?" brüllte Sikes, als Oliver zögerte und sich umblickte.
Sie befanden sich in einem dunkeln, abgelegenen Teil der Stadt und Oliver erkannte, daß jeder Widerstand vergeblich sein würde. Er streckte daher seine Hand aus, die Nancy sofort mit der ihrigen erfaßte.
"Gib mir die andere", sagte Sikes und packte ihn bei der noch freien Hand.
Sie kamen jetzt zum Smithfieldmarkt. Die Nacht war finster und neblig. Es schlug acht.
"Acht Uhr, Bill!" sagte Nancy, als die Uhr ausgeschlagen hatte.
"Das brauchst du mir nicht zu erzählen, ich hab' ja Ohren", erwiderte Sikes.
"Ob sie die Uhr auch schlagen hören?" meinte Nancy.
"Natürlich", versetzte Sikes. "Es war so um Bartholomae, als ich im Kittchen saß, und da war keine Pfennigtrompete auf dem ganzen Markt, die ich nicht quäken hörte.
"Die armen Jungens!" seufzte Nancy. "Ach, Bill, was es für schneidige junge Kerle sind!"
"Ja, ja, so sind die Weiber, an etwas anderes denken sie nicht", entgegnete Sikes. "Schneidige Kerle, meinetwegen; sie sind so gut wie tot, also kann's mir gleichgültig sein."
Mit diesem Trost schien Sikes eine Anwandlung von Eifersucht niederzukämpfen. Er faßte Olivers Handgelenk fester und eilte weiter. Nach einer halben Stunde bogen sie in eine enge, schmutzige Gasse, in der fast nur Trödler zu wohnen schienen. Vor einem anscheinend unbewohnten Laden machten sie halt.
"Gott sei Dank", sagte Sikes und sah sich vorsichtig um.
Nancy bückte sich, und Oliver hörte eine Klingel. Sie gingen nun auf die andere Seite der Straße und stellten sich für einen Augenblick unter eine Laterne. Jetzt wurde geräuschlos die Haustür geöffnet, und Sikes packte Oliver ohne weitere Umstände am Kragen. In einer Sekunde befanden sich alle drei im Innern des Hauses. Sie warteten im dunklen Hausflur, bis die Person, die sie eingelassen, die Tür wieder verschlossen und verriegelt hatte.
"Ist jemand hier?" fragte Sikes.
"Nein", antwortete eine Stimme, die Oliver schon früher gehört zu haben glaubte.
"Ist der Alte da?" fuhr der Spitzbube fort.
"Ja", entgegnete die Stimme, "er geht aber mächtig sparsam mit seinen Worten um. Glaube nicht, daß er sehr erfreut ist, Sie zu sehen. Sicher nicht."
"Bring eine Funzel!", sagteSikes, "sonst brechen wir uns noch den Hals oder treten den Hund, und das ist gefährlich."
"Einen Augenblick, werde sofort Licht bringen", erwiderte eine Stimme. Nach einer Minute zeigte sich die Gestalt des Herrn John Dawkins, sonst auch der Gannef geheißen, in der rechten Hand eine brennende Kerze haltend. Der junge Herr gab Oliver kein anderes Zeichen des Wiedererkennens als ein höhnisches Grinsen, dann winkte er den Dreien, ihm zu folgen. Sie kamen durch eine leere Küche, und als sie die Tür eines niedrigen, dumpfen Gemaches öffneten, wurden sie mit einem schallenden Gelächter empfangen.
"Wer kommt denn da?" brüllte Karl Bates, indem er sich vor Lachen die Seiten hielt. "Das ist er ja. Gucken Sie ihn an, Fagin. Sehen Sie ihn sich bloß mal an. Das ist ein Hauptspaß! Ich kann nicht mehr! Ich sterbe vor Lachen!' Damit legte er sich der Länge nach mit dem Rücken auf die Erde und strampelte minutenlang mit den Beinen. Dann sprang er auf, entriß dem Gannef die Kerze, und beleuchtete Oliver von allen Seiten. Zu gleicher Zeit machte der Jude, seine Nachtmütze abnehmend, unserm verwirrten Helden tiefe Verbeugungen. Der Gannef, ernster veranlagt und beim Geschäft keinen Spaß kennend, durchsuchte inzwischen eifrig Olivers Taschen.
"Ein vornehmer Herr", sagte Bates. "Sehen Sie sich nur seine Klamotten an. Das feinste Tuch und der modernste Schnitt, Fagin! Und dann noch seine Bücher!"
"Entzückt Sie so wohl zu sehen, mein Herr",. begann der Jude, indem er sich mit ironischer Höflichkeit vor Oliver verbeugte. Der Gannef wird Ihnen geben einen, anderen Anzug, damit Sie sich nicht gleich verderben Ihren Sonntagsstaat. Warum haben Sie uns nicht geschrieben, daß Sie kommen würden? Wir hätten Ihnen dann etwas Warmes zum Abendessen aufgehoben."