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»Was interessiert das uns, Liebe!« sagte Scrooges Neffe. »Sein Reichtum hat für ihn keinen Nutzen. Er tut nichts Gutes damit. Er gönnt sich ja selbst nicht einmal etwas Gutes. Er hat auch nicht das Vergnügen zu denken – hahaha –, daß er auf diese Art uns am Ende damit eine Freude machen wird.«
»Ich habe kein Mitgefühl mit ihm«, bemerkte Scrooges Nichte. Die Schwester von Scrooges Nichte und all die andern Damen waren der gleichen Ansicht.
»Oh, ich habe es«, sagte Scrooges Neffe. »Ich bedaure ihn; ich könnte nicht böse auf ihn werden, selbst wenn ich's wollte. Wer leidet unter seinen bösen Grillen? Er selber, sonst niemand. Jetzt hat er es sich in den Kopf gesetzt, uns nicht leiden zu können, und will auf unsere Einladung hin nicht zum Mittagessen kommen. Was ist die Folge? Er verliert viel an unserem Gastmahl.«
»Erlaube mal, er verliert ein sehr gutes Essen«, unterbrach ihn seine Frau. Die andern sagten dasselbe, und man mußte sie als kompetente Richter gelten lassen, weil sie eben das Hauptmahl verspeist hatten und jetzt mit dem Dessert beim Lampenlicht um den Kamin saßen.
»Nun, das freut mich zu hören«, sagte Scrooges Neffe, »weil ich kein großes Zutrauen zu diesen jungen Hausfrauen habe. Was meinst du dazu, Tropper?«
Man sah es deutlich, Tropper hatte ein Auge auf eine der Schwestern von Scrooges Nichte geworfen; darum antwortete er, daß er ein Junggeselle sei, ein unglücklicher, ausgestoßener Mensch, der kein Recht habe, eine Meinung über diesen Gegenstand auszusprechen. Bei diesen Worten wurde die Schwester von Scrooges Nichte – die Dicke mit dem Spitzenkragen, nicht die mit den Rosen im Haar – rot.
»Weiter, weiter, Fritz!« sagte Scrooges Nichte, in die Hände klatschend. »Er beendet niemals, was er angefangen hat! Er ist ein so komischer Kerl.«
Scrooges Neffe brach in ein neues Gelächter aus, und es war unmöglich, davon nicht angesteckt zu werden, obgleich die dicke Schwester sogar mit einem Riechfläschchen versuchte, sich dagegen zu wehren; sein Beispiel fand einmütige Nachahmung.
»Ich wollt ja nur sagen«, begann Scrooges Neffe, »daß die Folge seines Ärgers über uns und seiner Weigerung, mit uns vergnügt zu sein, nur die ist, daß er einige heitere Momente verliert, die ihm nicht geschadet hätten. Ich bin sicher, daß er dadurch eine angenehmere Unterhaltung verliert, als ihm seine eigenen Gedanken in seinem modrigen alten Kontor oder in seinen staubigen Wohnzimmern bieten. Ich will ihm jedes Jahr die Gelegenheit dazu bieten, ob es ihm nun paßt oder nicht, denn er tut mir leid. Er mag auf Weihnachten höhnen, bis er stirbt; aber er muß doch endlich besser davon denken, wenn er mich jedesmal in guter Laune zu sich kommen sieht, mit den Worten: Onkel Scrooge, wie geht es Ihnen? Wenn es ihn nur zu dem Vorhaben veranlaßt, seinem armen Diener fünfzig Pfund zu hinterlassen, so ist das doch wenigstens etwas; und ich glaube, ich ergriff ihn doch gestern.«
Es war nun die Reihe zu lachen an ihnen, bei dem Gedanken, daß er Scrooge ergriffen hätte. Aber da der Neffe durch und durch gutartig war und sich nicht sehr darum kümmerte, worüber sie lachten, wenn sie nur überhaupt lachten, so ging er auf ihre Lustigkeit ein und ließ die Flasche fröhlich kreisen.
Nach dem Tee wurde etwas musiziert. Denn sie waren eine musikalische Familie und wußten, was es auf sich hatte, wenn sie mehrstimmig ein Lied oder einen Choral sangen, dessen könnt ihr sicher sein. Topper zumal konnte den Baß brummen nach Noten, ohne daß die Adern auf seiner Stirn anschwollen oder sein Gesicht rot wurde. Scrooges Nichte spielte gut die Harfe, und sie spielte unter andern Stücken auch ein kleines Liedchen (eine reine Nichtigkeit, man hätte es in zwei Minuten pfeifen gelernt), das das Kind, von dem Scrooge aus der Schule geholt worden war, wie es der Geist der vergangenen Weihnacht vorgeführt, oft gesungen hatte. Als Scrooge dieses Liedchen hörte, empfand er alles, was ihm der Geist gezeigt hatte, wieder aufs deutlichste in seinem Innern. Er wurde weicher und milder und dachte, wenn er es vor Jahren oft hätte hören können, so hätte er die gemütlichen Seiten des Lebens genießen können, ohne erst flüchten zu müssen zu des Totengräbers Spaten, der Jakob Marley beerdigt hatte.
Aber sie beließen nicht den ganzen Abend der Musik. Nach einer Weile begannen sie mit Pfänderspielen, denn es ist doch zu schön, zuweilen Kind zu sein, und vorzüglich zu Weihnachten, da sein mächtiger Begründer selbst ein Kind war. Halt! Vorerst spielten sie noch Blindekuh. Das war das Richtige. Und ich glaube ebensowenig, daß Topper wirklich blind war, wie ich glaube, er habe Augen in seinen Stiefeln gehabt. Ich vermute, es war zwischen ihm und Scrooges Neffen abgemachtes Spiel, und der Geist der diesjährigen Weihnacht wußte darüber Bescheid. Die Art, wie Topper die dicke Schwester im Spitzenkragen verfolgte, war eine übertriebene Forderung an die menschliche Leichtgläubigkeit. Ob er das Schüreisen umstieß, über Stühle fiel, das Piano anrannte und sich in den Vorhängen verwirrte – überall folgte er ihr und wußte, wo sie zu finden war. Wenn jemand ihm in den Weg getreten wäre, wie einige taten, oder sich vor ihn hingestellt hätte, würde er sich gestellt haben, als mühe er sich, ihn zu greifen, hätte sich aber augenblicklich umgewandt, der dicken Schwester nach. Sie rief oft, das sei kein ehrliches Spiel, und wirklich, so war es auch. Aber endlich hatte er sie erwischt; und trotz ihres Sträubens sperrte er sie in eine Ecke, wo keine Flucht möglich war; und da wurde seine Aufführung höchst bedenklich. Denn sein Vorgeben, er wisse nicht, wer sie sei, er müsse ihren Kopfputz betasten und, um sie zu erkennen, einen gewissen Ring an ihrem Finger und eine bestimmte Kette um ihren Hals befühlen, war abscheulich unerhört. Und sicherlich sagte sie ihm auch ihre Meinung darüber; denn als eine andere Blindekuh an der Reihe war, waren sie hinter den Gardinen sehr freundlich miteinander.
Scrooges Nichte war keine Teilhaberin an dem Blindekuhspiel, sondern saß behaglich in einer bequemen Ecke in einem Lehnstuhle mit einem Fußbänkchen davor. Der Geist und Scrooge standen dicht hinter ihr. Aber Pfänderspiele spielte sie mit und bekundete die Liebe zu ihren Angebeteten fabelhaft mit allen Buchstaben des Alphabets. Auch in dem Spiele: Wie, wann und wo, war sie obenan und stellte zur geheimen Freude von Scrooges Neffen ihre Schwestern gar sehr in den Schatten, obgleich diese auch ganz gescheite Mädchen waren, wie uns Topper hätte sagen können. Es mochten ungefähr zwanzig Personen zugegen sein, junge und alte; aber sie spielten alle, und auch Scrooge spielte mit, denn in seiner Hingabe an das Fest vergaß er ganz, daß seine Stimme für sie nicht hörbar war. Er sagte oft seine Antwort auf Fragen ganz laut und riet auch oft sehr richtig, denn die schärfste spitzeste englische Nähnadel, und zwar von dem bekannten Whitechapeler Fabrikat, konnte nicht mit Scrooges Scharfsinn und Spitzfindigkeit konkurrieren, zumal wenn ihm mal der Sinn danach stand.
Dem Geiste gefiel es sehr, ihn in dieser Stimmung zu sehen, und er blickte ihn so freundlich an, daß Scrooge ihn wie ein Junge bat, noch bleiben zu dürfen, bis die Gäste fortgingen. Aber der Geist sagte, dies wäre nicht möglich!
»Hier fängt gerade ein neues Spiel an«, sagte Scrooge. »Nur noch eine halbe Stunde, Geist, eine halbe, bitte!«
Es war ein Spiel, das heißt »Ja und Nein«, bei dem Scrooges Neffe sich etwas auszudenken hatte, während die andern es erraten mußten, was es war. Auf ihre Fragen brauchte er bloß mit Ja oder Nein zu antworten. Das Kreuzfeuer der nun einsetzenden Fragen, die ihm vorgelegt wurden, stellten fest, daß er sich ein Tier dachte, ein lebendiges Tier, ein unsympathisches Tier, ein wildes Tier, ein Tier, das zuweilen raunzte und grunzte, in London lebte, in den Straßen herumlief und nicht für Geld gezeigt und nicht herumgeführt wurde, sich nicht in einer Menagerie befinde und nicht beim Schlächter geschlachtet werde; es sei weder ein Pferd, noch ein Esel, noch eine Kuh, noch ein Ochs, noch ein Tiger, noch ein Hund, noch ein Schwein, noch eine Katze, noch ein Bär. Bei jeder neuen Frage, die ihm gestellt wurde, brach Scrooges Neffe von neuem in ein Gelächter aus und konnte gar nicht wieder aufhören, so daß er vom Sofa aufstehen und mit den Füßen stampfen mußte. Endlich rief die dicke Schwester, in ein ebenso unauslöschliches Gelächter verfallend: »Ich habe es gefunden, ich weiß es, Fred, ich weiß es.«
»Was ist es?« rief Fred.
»Es ist Onkel Scro-o-o-o-ge!«
Und sicherlich, der war es auch. Überraschung war das allgemeine Gefühl, obgleich einige meinten, die Frage: Ist es ein Bär? hätte müssen durch »Ja« beantwortet werden, denn eine verneinende Antwort sei schon genügend gewesen, um ihre Gedanken von Scrooge abzulenken, selbst wenn sie auf der Spur daraufhin gewesen wären.
»Nun, er ist uns ein Born des Vergnügens gewesen«, sagte Fritz, »und so wäre es undankbar, nicht auf seine Gesundheit zu trinken. Da haben wir auch ein Glas Glühwein zur Hand. Also auf Onkel Scrooge!«
»Schön, auf Onkel Scrooge!«
»Eine fröhliche Weihnacht und ein glückliches Neujahr dem alten Herrn, wie er auch sei!« sagte Scrooges Neffe. »Er wollte das zwar nicht von mir annehmen, aber er möge es doch haben. Also, Onkel Scrooge, sollst leben!« Onkel Scrooge war, ohne es zu merken, so fröhlich und aufgeräumt geworden, daß er der von seiner Gegenwart nichts ahnenden Gesellschaft ihr Hoch erwidert und ihr mit einer allerdings unvernehmbaren Rede gedankt haben würde, wenn der Geist ihm Zeit gelassen hätte. Aber alles verschwand in dem Hauche der letzten Worte des Neffen, und er und der Geist waren wieder auf Wanderschaft. Sie sahen viel und schritten weit umher und besuchten manches Heim. Aber immer verbreiteten sie Glück. Der Geist stand neben Kranken, und sie wurden voll freudiger Zuversicht; er trat in ferne Länder, und die Menschen träumten von der Heimat; er trat zu solchen, die mit dem Leben rangen, und sie wurden geduldig; er trat zu den Armen, und sie empfanden sich als reich. Im Armenhause und im Spital, im Kerker und in jedem Zufluchtsorte des Jammers, wo der Mensch in seiner kleinen ärmlichen Größe dem Geiste die Tür verschlossen hatte, spendete er seinen Segen und lehrte Scrooge seine Weisheit.
Es war eine lange Nacht, wenn es nur eine Nacht war; aber Scrooge hatte seine Zweifel daran; denn die Weihnachtsfeiertage schienen in den Zeitraum, den sie miteinander zubrachten, zusammengedrängt zu sein. Es war auch seltsam, daß, während Scrooge äußerlich ganz unverändert blieb, der Geist ersichtlich alterte. Scrooge hatte diese Veränderung bemerkt, sprach aber nie davon, bis sie von einer Kinderweihnachtsgesellschaft schieden, wo er bemerkte, daß des Geistes Haar ergraut war.
»Ist das Leben der Geister so kurz?« fragte Scrooge.
»Mein Leben auf dieser Erde ist sehr kurz«, antwortete der Geist, »es endet noch heute nacht.«
»Heute nacht noch!« rief Scrooge.
»Heute um Mitternacht. Horch, die Stunde naht.«
Die Glocke schlug drei Viertel zwölf.
»Verzeih es mir, wenn ich nicht recht tue zu fragen«, sagte jetzt Scrooge, scharf des Geistes Gewand betrachtend, »aber ich sehe etwas Seltsames, was nicht zu dir gehört, unter deinem Mantel hervorlugen. Ist es ein Fuß oder eine Klaue?«
»Nach dem wenigen Fleisch, was sich daran befindet, könnte es Wohl eine Klaue sein«, gab der Geist betrübt zur Antwort.
»Sieh hier.«
In den weiten Falten seines Gewandes wurden jetzt zwei Kinder sichtbar, elend abgemagert, erbarmungswürdig. Sie knieten vor ihm nieder und klammerten sich fest an den Saum seines Gewandes.
»O Mensch, schau hier. Schau hier, schau hier!« rief der Geist.
Es war ein Junge und ein Mädchen. Gelb, krank, zerlumpt und mit scheuem, bösen Blick; aber doch demütig. Wo die Schönheit der Jugend ihre Züge hätte füllen und mit ihren heitersten Farben schmücken sollen, hatte eine verschrumpfte, abgelebte Hand, gleich der des Alters, sie berührt und kränkeln gemacht. Wo Engel hätten thronen dürfen, harrten Teufel mit grimmiger, drohender Miene. Keine Änderung, keine Entwertung der Menschheit in allen Geheimnissen der Schöpfung hat so schreckliche und grauenhafte Ungeheuer vorzuweisen.
Scrooge prallte entsetzt zurück. Weil aber der Geist sie ihm in dieser Weise gezeigt hatte, versuchte er zu sagen, es wären schöne Kinder; aber die Worte erstarben ihm selbst im Munde, als wollten sie nicht teilhaben an einer so ungeheuerlichen Lüge.
»Geist, sind das deine Kinder?« Scrooge vermochte nichts weiter zu fragen.
»Es sind des Menschen Kinder«, sagte der Geist, auf sie herniederschauend. »Und sie klammern sich an mich, ihre Väter anklagend. Dieses Mädchen ist die Unwissenheit. Dieser Knabe ist die Not. Präge sie dir beide gut ein, vor allem aber diesen Knaben; denn auf seiner Stirn seh' ich geschrieben, was die verhängnisvolle Folge sein wird, wenn die Schrift nicht verlöscht wird. Leugnet es nur«, rief der Geist, seine Hand nach der Stadt erhebend, »verleumdet die, die auch darauf hinweisen! Gebt es zu um eurer Privatinteressen willen und macht es noch schlimmer! Und erwartet das Ende!«
»Haben sie keine Stütze, keine Zufluchtsstätte?« rief Scrooge.
»Gibt es keine Gefängnisse?« sagte der Geist, jetzt zu guter Letzt, Scrooges eigene Worte gegen ihn gebrauchend. »Gibt es keine Armenhäuser?«
Die Glocke schlug zwölf.
Scrooge schaute nach dem Geist um, aber er war verschwunden. Als der letzte Schlag verklungen war, erinnerte er sich an die Prophezeiung des alten Jakob Marley, und als er den Blick erhob, sah er ein grauenvolles, tief verhülltes Gespenst sich ihm nahen, wie ein Nebel auf dem Boden daherwallt.
Eine Art Backäpfel.Eine Art Brosche.Schillinge.
Viertes Kapitel
Der letzte der drei Geister.
Die Erscheinung schwebte langsam, feierlich und schweigend auf ihn zu. Als sie sich ihm nahte, fiel Scrooge auf die Knie; denn selbst die Luft, durch die sich der Geist bewegte, schien geheimnisvolles Grauen zu erwecken. –
Die Erscheinung war in einen schwarzen, weiten Mantel gehüllt, durch den nichts von ihr sichtbar wurde, als eine ausgestreckte Hand. Wäre diese nicht gewesen, so würde es schwer gefallen sein, die Gestalt von der Nacht zu trennen, die sie umwob.
Als sie neben ihm stand, spürte er, daß sie groß und mächtig war und daß ihr geheimnisvolles Dasein ihn mit Furcht, die ans Gefühl des Erhabenen grenzte, erfüllte. Er erkannte nicht mehr; denn der Geist sprach und rührte sich nicht.
»Habe ich vor mir den Geist der künftigen Weihnachten?« fragte Scrooge.
Der Geist antwortete nicht, sondern deutete mit der Hand auf die Erde.
»Du willst mir die Schatten der Dinge dartun, die noch nicht erfolgt sind«, fuhr Scrooge fort. »Willst du das, Geist?«
Die Spitze der verhüllten Erscheinung legte sich für einen Augenblick in Falten, als ob der Geist sein Haupt neigte; das war die einzige Antwort, die Scrooge empfing.
Obwohl er doch ziemlich an gespenstische Gesellschaft gewöhnt war, graute es Scrooge doch vor der stummen Erscheinung so sehr, daß seine Knie wankten und er kaum mehr zu stehen vermochte, als er sich anschickte, ihr zu folgen. Der Geist hielt für einen Augenblick an, als bemerkte er seine Furcht und wollte ihm Zeit lassen, sich zu beruhigen.
Aber Scrooge erging es dadurch noch schlechter. Ein leeres unbestimmtes Grausen durchzitterte ihn bei dem Gedanken, daß sich hinter diesem schwarzen Schleier gespenstische Augen fest auf ihn hefteten, während er, wiewohl er seine Augen heftig anstrengte, doch nichts sehen konnte als eine gespenstische Hand und einen großen, dunklen faltigen Mantel.
»Geist der Zukunft!« rief er, »ich fürchte dich mehr als die Erscheinungen, die ich schon wahrgenommen habe. Aber weil ich weiß, daß es Absicht ist, mir Gutes zu tun, und da ich hoffe weiter zu leben, um ein anderer Mensch zu werden, als ich es früher war, bin ich bereit, dich zu begleiten, und ich tue das mit dankbarem Sinn. Willst du nicht mit mir reden?«
Die Gestalt antwortete ihm nicht. Die Hand wies gerade in die Ferne vor ihnen.
»Führe mich«, rief Scrooge. »Führe mich, die Nacht geht schnell dahin, und die Zeit ist kostbar für mich. Führe mich, Geist.«
Die Erscheinung bewegte sich von ihm fort, ebenso, wie sie auf ihn zugekommen war. Scrooge folgte dem Schatten ihres Gewandes, der, wie es ihm dünkte, ihn emporhob und davontrug.
Es war kaum so, als ob sie in das Stadtzentrum von sich aus hineingelangten; denn das Stadtzentrum schien eher rund um sie in die Höhe zu schießen und sie zu umzingeln. Aber sie waren doch im Herzen desselben, auf der Börse unter den Kaufleuten, die hin und her eilten, mit dem Geld in ihren Taschen klapperten, in Gruppen miteinander sprachen, nach der Uhr blickten und gedankenvoll mit den großen, goldenen Uhranhängern spielten, wie Scrooge dies oft bemerkt hatte.
Der Geist blieb bei einer Schar von Kaufleuten stehen. Scrooge sah, daß die Hand der Erscheinung dahinwies, und so näherte er sich ihnen, um ihr Gespräch mit anzuhören.
»Nein«, sagte ein großer, korpulenter Herr mit einem mächtigen Unterkinn, »ich kann nicht viel darüber sagen. Ich weiß nur, daß er tot ist.«
»Wann starb er denn?« fragte ein anderer.
»Vorige Nacht, wenn ich recht unterrichtet bin.«
»Nun, wie geht das zu?« fragte ein Dritter und nahm eine gewaltige Prise aus einer sehr großen Dose. »Ich dachte, er würde nie sterben.«
»Weiß Gott, wie es kam«, sagte der erste gähnend.
»Was hat er mit seinem Gelde begonnen?« fragte ein Herr mit einem roten Gesicht und mit einem Gewächs auf der Nasenspitze, das hin und her wackelte wie der Lappen eines Hahns.
»Ich habe darüber nichts vernommen«, sagte der Mann mit dem großen Unterkinn, abermals gähnend. »Er hat es wahrscheinlich seiner Sippschaft hinterlassen. Mir hat er es nicht vermacht. Soviel weiß ich.«
Dieser geistreiche Scherz wurde mit allgemeinem Gelächter aufgenommen.
»Es wird wohl ein sehr billiges Begräbnis werden«, fuhr derselbe Unterhalter fort; »denn so wahr ich lebe, ich kenne niemanden, der folgen sollte. Wenn wir nun zusammenträten und freiwillig folgten?«
»Ich bin dabei, wenn für einen Lunch gesorgt wird«, bemerkte der Herr mit dem Gewächs auf der Nasenspitze. »Aber ich muß wohl bewirtet werden, wenn ich dabei sein soll.«
Ein erneutes Gelächter.
»Nun, da bin ich doch wohl der Uneigennützigste von euch«, sagte der erste Redende wieder, »denn ich trage nie schwarze Handschuhe und esse keinen Lunch. Aber ich gehe mit, wenn sich noch andere finden. Wenn ich mir's recht überlege, war ich am Ende sein nächster Freund, wenn wir uns auf der Straße trafen. Guten Morgen, guten Morgen!«
Die Redenden und Zuhörenden trennten sich und mischten sich unter andere Gruppen. Scrooge kannte die Leute und blickte den Geist fragend an.
Der Geist schwebte weiter die Straße entlang.
Seine Hand wies auf zwei sich treffende Personen.
Scrooge hörte wieder zu, hoffend, daß er hier die Erklärung vernehmen werde.
Auch diese beiden kannte er genau. Es waren Kaufleute, sehr reich und von großem Ansehen. Er war immer bemüht gewesen, sich ihrer Achtung zu versichern, das heißt in Geschäftssachen, bloß in Geschäftssachen.
»Wie geht es?« fragte der eine.
»Wie geht es Ihnen?« fragte der andere.
»Gut«, sagte der erste. »Der alte Geizhals ist endlich tot, wissen sie es schon?«
»Ich hörte es«, erwiderte der zweite. »Es ist kalt, nicht wahr?«
»Wie sich das zu Weihnachten gebührt. Sie sind wohl kein Schlittschuhläufer?«
»Nein, nein. Ich habe an andere Dinge zu denken. Guten Morgen!«
Kein Wort weiter. So begegneten sie sich, so schieden sie.
In Scrooge regte sich erst Erstaunen, weil der Geist auf anscheinend so unbedeutende Gespräche Wert zu legen schien. Aber sein Gefühl sagte ihm, daß sie eine geheime Bedeutung haben müßten, und er grübelte darüber nach, was diese wohl sein möge. Sie konnten nicht auf den Tod Jakobs, seines alten Kompagnons, Bezug haben, denn dieser gehörte in die Vergangenheit, und sein Führer war der Geist der Zukunft ... Auch konnte er sich niemand von seinen näheren Bekannten denken, auf den er sie hätte beziehen können. Aber in der Gewißheit, daß, auf wen sie sich auch beziehen möchten, doch darinnen für ihn eine wichtige Mahnung liege, beschloß er, jedes Wort, das er vernahm, und jede Szene, die er schaute, getreulich in seinem Herzen zu behalten und namentlich seinen Schatten zu beobachten, wenn er erschien. Denn er erwartete von dem Benehmen seines künftigen Selbst die fehlende Aufklärung und die Lösung der Rätsel, die ihm jetzt so schwierig vorkamen.
Schon auf der Börse sah er sich nach seinem Ich um; aber ein anderer stand an seiner gewohnten Stelle, und obgleich die Uhr die Stunde angab, in der er gewöhnlich dort sich befand, erblickte er sich doch auch nicht unter dem Publikum, das sich durch den Eingang hereindrängte. Dieses überraschte ihn indessen wenig; denn er hatte schon lange die Absicht, sein Geschäft aufzugeben, und glaubte und hoffte in diesen zu sehen, wie sein Plan in der Zukunft verwirklicht sei.
Dunkel und bewegungslos ragte neben ihm das Gespenst mit seiner ausgestreckten Hand. Als er wieder in seiner nachdenklichen Haltung die Augen erhob, glaubte er der Richtung der Hand nach, daß die unsichtbaren Augen sich starr auf ihn richteten. Bei diesem Gedanken befiel ihn ein kalter Schauer.
Sie verließen das Geschäftsviertel und eilten nach einem abgelegenen Teil der Stadt, wo Scrooge nie vorher gewesen war, dessen Lage und schlechter Ruf ihm aber bekannt waren. Die Straßen waren schmutzig, schmal und krumm; die Läden und Häuser ärmlich; die Menschen verlumpt, betrunken, barfuß, häßlich. Gäßchen und Torwege strömten wie ebensoviele Kloaken Übelkeit erregende Dünste, Schmutz und Menschen in den Straßen; und das ganze Viertel schien erfüllt von Verbrechen, von Verkommenheit und Elend.
In einem der tiefsten Winkel dieser Heimat der Sünde und Schande war ein niedriger, dunkler Laden unter einem Wetterdach, wo Eisen, Lampen, Flaschen, Knochen und schmutzige Abfälle jeder Sorte verkauft wurden. Auf dem Fußboden innerhalb lagen ein Haufen verrosteter Schlüssel, Nägel, Ketten, Türangeln, Feilen, Geschäftswagen, Gewichte und altes Eisen in buntem Durcheinander. Geheimnisse, nach deren Lüftung wenige verlangen würden, wurden hier erzeugt und verborgen in Bergen widriger Lumpen, Massen ranzigen Fettes und ganzen Beinhäusern von Knochen. Mitten unter den Waren, womit er handelte, saß neben einem aus alten Ziegeln zusammengesetzten Kamin ein grauhaariger, fast siebzig Jahre alter Spitzbube, der sich vor der Kälte draußen durch einen faltigen Vorhang aus allerlei Lumpen, die auf eine Leine gehängt waren, geschützt hatte und seine Pfeife im ausgiebigen Behagen rauchte.
Scrooge und die Erscheinung gesellten sich zu diesem Mann, gerade als eine Frau mit einem schweren Bündel in die Trödlerei schlich. Aber sie war kaum eingetreten, als eine zweite Frau, auch mit einem Bündel, ihr folgte. Auf diese wieder kam dicht ein Mann hinterdrein in einem alten, abgetragenen schwarzen Anzug. Dieser Mann fuhr bei ihrem Anblick nicht weniger zusammen, als sie voreinander erschrocken waren. Nach einigen Augenblicken schweigenden Staunens, an dem auch der Alte mit der Pfeife beteiligt war, brachen sie alle drei in ein lautes Gelächter aus.
»Nun sage einer, die Leichenwäscherin würde die erste sein«, sagte die zuerst Eingetretene. »Sage einer, die Wärterin würde die zweite sein; und nenne jemand des Leichenbesorgers Gehilfen als den dritten. Sich mal, alter Joe, wie sich das trifft. Wie wir uns nicht alle drei hier begegnet sind, ohne daß wir die Absicht hatten.«
»Ihr hättet euch an keinem besseren Platz begegnen können«, sagte der alte Joe, die Pfeife aus dem Munde nehmend. »Kommt in die gute Stube, Ihr habt schon lange das Recht der Niederlassung dort, das wißt Ihr; und die beiden anderen sind auch keine Unbekannten. Wartet, bis ich die Ladentür geschlossen habe. Wie sie knarrt! Ich glaube, es gibt kein so rostiges Stück Eisen im ganzen Laden, wie die Türangeln; und ich weiß, es gibt keine so alten Knochen hier, wie meine. Hihi, wir passen alle zu unserem Geschäft. Kommt in die gute Stube.«
Die gute Stube war der Raum hinter dem Lumpenvorhang. Der Alte scharrte das Feuer mit einem alten Jalousiestabe, rückte den Docht seiner rauchigen Lampe (denn es war am Abend) mit dem Stiel seiner Pfeife empor und steckte diese wieder in den Mund.