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»Herr, mein Gott!« sagte Mrs. Peerybingle. »Wie siehst du aus, bei dem Wetter!«
Man konnte in der Tat nicht leugnen, daß er recht schlimm aussah, – der dicke Nebel hing in großen Tropfen an seinen Augenwimpern wie gefrorener Tau, und das Feuer und die Nässe ließen richtige Regenbogen in seinem Backenbart spielen.
»Ja, siehst du, Dot«, sagte John langsam, während er einen Schal von seinem Halse wickelte und sich die Hände rieb: »ja, ... Sommerwetter haben wir gerade nicht. Da ist's also nicht zu verwundern.«
»Ich bitte dich, John, nenne mich nicht Dot. 13 Wirklich, der Name ist mir unleidlich«, sagte Mrs. Peerybingle und verzog das Mäulchen in einer Weise, die klar zeigte, daß sie ihn im Gegenteil sehr gern leiden mochte. »Na, und was bist du denn sonst?« erwiderte John, indem er lächelnd auf sie herabblickte und ihre Taille so sanft drückte, wie seine große Hand und sein starker Arm zuließen. »Was bist du denn sonst als ein Pünktchen und« – hier blickte er das Kind an – »ein Pünktchen und ein Klexchen ... Aber nein, ich sag's nicht, es würde mir doch nicht gelingen; aber ich war nahe daran, einen Witz zu machen; ich glaube, ich war noch nie so nahe daran.«
Nach seiner Behauptung war er überhaupt oft nahe daran, etwas sehr Gescheites zu sagen, dieser unbeholfene, langsame, ehrliche John; dieser John mit seinem schwerfälligen Kopf und so hellem Herzen, mit so rauher Schale und so mildem Kern; außen so schläfrig und innen so lebhaft, so einfältig und doch so gut! O Mutter Natur, gib deinen Kindern die echte Poesie des Herzens, wie sie die Brust dieses armen Fuhrmanns in sich barg – denn nebenbei gesagt, er war nur ein Fuhrmann – und dann können sie gern in Prosa reden und ein prosaisches Leben führen, wir werden dich doch segnen für solche Gesellschaft!
Es war ein Vergnügen, Dot zu sehen, so klein und so rundlich, mit ihrem Wickelkinde auf den Armen, ein richtiges Püppchen von einem Wickelkinde – wie sie mit koketter Nachdenklichkeit ins Feuer sah und ihr feines Köpfchen grade genug auf die Seite neigte und es in seltsamer, halb natürlicher, halb gezierter, aber ganz anmutiger Weise, gleichsam wie ein kleines Nest an die breite rauhe Gestalt des Fuhrmanns schmiegte. Es war ein Vergnügen zu sehen, wie er in seiner zärtlichen Unbeholfenheit sich bemühte, seine rauhe Stütze ihren leichten Bedürfnissen anzupassen und seine kräftige Männlichkeit zu einem nicht unangemessenen Stabe für ihre blühende Jugend zu machen. Es war ein Vergnügen zu sehen, wie Tilly Tolpatsch, die im Hintergrunde auf das Kind wartete, trotz ihrer angehenden fünfzehn Jahre sich die Gruppe ganz genau ansah und, Mund und Augen weit offen und den Kopf vorgestreckt, dastand – in einer Weise, als ob sie begierig Luft einatme. Nicht weniger erfreulich war es zu sehen, wie John, der Fuhrmann, auf einige Worte, die Dot bezüglich vorerwähnten Kindes sagte, seine Hand in demselben Augenblick zurückzog, als er es berühren wollte, als hätte er Furcht, es zu zerdrücken, und sich damit begnügte, es mit vorgeneigtem Oberkörper aus der Ferne zu betrachten, und zwar mit einer Mischung von Stolz und Verlegenheit – wie wohl ein liebenswürdiger Bullenbeißer dreingeschaut hätte, wenn er eines schönen Tages herausgefunden hätte, daß er Vater eines jungen Kanarienvogels sei.
»Ist er nicht hübsch, John? Sieht er nicht reizend aus, wenn er schläft?«
»Ganz reizend«, sagte John. »Ja, ja, ganz reizend. Er schläft wohl überhaupt die meiste Zeit, nicht wahr?«
»Aber mein Gott, John! Bewahre, nein!«
»Oh!« sagte John nachdenklich. – »Ich dachte, er hätte seine Augen meistens geschlossen. Halloh!«
»Du lieber Gott, John, wie du einen erschreckst!«
»Es ist nicht gut, daß er die Augen so verdreht!« sagte der erschreckte Fuhrmann. »Nicht wahr? Sieh, wie er mit beiden zugleich blinzelt! Und sieh nur den kleinen Mund an! Wie er schnappt, – gerade wie ein Goldfisch!«
»Du verdienst garnicht, Vater zu sein, durchaus nicht«, sagte Dot mit der ganzen Würde einer erfahrenen Matrone. »Aber wie solltest du auch wissen, John, wieviel kleine Schmerzen so ein Kindchen leiden muß! Du weißt nicht einmal ihren Namen, du dummer Mann!«
Und nachdem sie das Kind auf den linken Arm genommen und ihm als eine Art Herzstärkung den Rücken geklopft hatte, zupfte sie lachend ihren Mann am Ohr.
»Nein«, sagte John, indem er seinen Überrock auszog. »Du hast Recht, Dot, ich verstehe mich nicht besonders auf dergleichen. Ich weiß nur, daß ich heut abend tüchtig mit dem Wind habe kämpfen müssen. Er kam von Nordost gerade in den Wagen herein, auf dem ganzen Heimweg.«
»Ach ja, mein armer, guter Mann!« rief Mrs. Peerybingle und wurde sofort außerordentlich beweglich. »Da, nimm den kostbaren Schatz, Tilly, während ich etwas Nützliches tue. Du lieber Gott, ich glaube, ich könnt' ihn schier totküssen! Kusch dich, gutes Tier. Kusch dich, Boxer! Erst sollst du deinen Tee haben, John, und dann will ich dir bei den Paketen helfen, wie eine fleißige Biene: ›Wie das kleine Bienchen‹ 14 – und so weiter: du weißt ja, John. Hast du je ›Wie das kleine Bienchen‹ gelernt, John, als du in die Schule gingst?«
»Nicht alle Verse«, antwortete John. »Ich war einmal sehr nahe daran, sie alle zu lernen. Aber ich hätte es doch nur verdorben.«
»Ha, ha, ha!« lachte Dot. Es war das lustigste Lachen von der Welt. »Was für ein guter, lieber, alter Dummkopf du doch bist, John!«
Ohne auf diese Behauptung irgend etwas einzuwenden, ging John hinaus, um nach dem Jungen mit der Laterne zu sehen, die wie ein Irrlicht vor Tür und Fenster hin und her hüpfte, ob er auch ordentlich für das Pferd sorge – und dieses Pferd war dicker und fetter, als ihr glauben würdet, wenn ich euch seinen Umfang angäbe, und so alt, daß sein Geburtstag sich in der grauen, dunklen Vorzeit verlor. Boxer, welcher wußte, daß die ganze Familie auf seine Aufmerksamkeit Anspruch hatte, und diese unparteiisch unter die einzelnen Mitglieder derselben verteilen wollte, stürmte überall beunruhigend ein und aus – bald bellte er rund um das Pferd herum, während dieses an der Stalltür gestriegelt wurde, bald stellte er sich, als wolle er sich wie toll auf seine Herrin stürzen, und machte dann plötzlich in ergötzlicher Weise halt, dann wieder der Tilly Tolpatsch, die auf einem Schemel am Feuer saß, einen Schrei entlockte, indem er ihr mit seiner feuchten Schnauze unvermutet im Gesicht herumfuchtelte; bald ein aufdringliches Interesse für das Wickelkind zeigte; bald rund um den Herd ging und sich niederlegte, als wolle er sich für die Nacht niederlassen; bald wieder aufstand und sein bißchen Schwanz in die Nacht hinaustrug, als habe er sich gerade eines Stelldicheins erinnert, und fort war er im raschen Trabe, um es nicht zu versäumen.
»Da, da ist der Tee, die Kanne steht auf dem Herdrand«, sagte Dot mit der ernsten Geschäftigkeit eines Kindes, das Hausfrau spielt. »Und da ist der kalte Schinken und da Butter und da Brot und all das andere! Hier ist ein Waschkorb für die kleinen Pakete, John, wenn du welche hast – aber wo bist du denn, John? Tu, was du tust, aber laß das liebe Kind nicht auf den Rost fallen, Tilly!«
Es muß hier bemerkt werden, daß Fräulein Tolpatsch trotz des Protestes, den sie gegen diese Möglichkeit einlegte, ein seltenes und ganz überraschendes Talent dafür besaß, das Wickelkind in allerlei Gefahren zu bringen, und mehr als einmal sein junges Leben mit einer nur ihr eigentümlichen Kaltblütigkeit aufs Spiel gesetzt hatte. Sie war von schmächtiger, hoher Gestalt, diese junge Dame, so, daß ihre Kleider in beständiger Gefahr zu sein schienen, von ihren spitzen Schultern, an denen sie nur lose hingen, herabzugleiten. An ihrem Kostüm war das Merkwürdige, daß es an allen möglichen Stellen gewisse Stückchen Flanell sehen ließ, und in der Gegend des Rückens ein Korsett von verschossenem Grün sichtbar wurde. Da Fräulein Tolpatsch stets in einem Zustande war, wo sie alles Denkbare begaffte und bewunderte und zudem in fortwährende Betrachtung der Vollkommenheiten ihrer Herrin und des Wickelkindes versunken war, so kann man wohl sagen, daß die kleinen Irrtümer ihres Verstandes ebensosehr ihrem Kopfe wie ihrem Herzen Ehre machten; und obgleich sie dem Köpfchen des Wickelkindes weniger Ehre machten, das sie gelegentlich in Berührung brachten mit Türkanten, Tischecken, Treppengeländern, Bettpfosten und andern fremdartigen Gegenständen, so waren sie doch nur das ehrliche Resultat von Tillys beständigem Erstaunen darüber, daß man sie so freundlich behandelte und sie in einem so behaglichen Hause untergebracht war. Denn die Tolpatsch, Vater und Mutter, waren der Fama beide gleich unbekannt. Tilly war durch öffentliche Barmherzigkeit aufgezogen worden, da sie ein Findling war, und dieses Wort, obgleich es grad so viel Buchstaben besitzt wie Liebling, hat doch einen ganz anderen Sinn und bezeichnet etwas durchaus anderes. –
Es würde euch fast ebensosehr ergötzt haben wie John, wenn ihr selbst die kleine Mrs. Peerybingle mit ihrem Manne hättet zurückkommen sehen, wie sie an dem Waschkorbe zog und die tapfersten Anstrengungen machte, nichts zu tun – denn er trug ihn ja. Und soviel ich weiß, amüsierte es auch das Heimchen, wenigstens fing es jetzt mit einer gewissen Heftigkeit wieder zu zirpen an.
»Hallo!« sagte John in seiner langsamen Weise, »'s ist heut abend lustiger als je, scheint mir.«
»Und es bringt uns sicherlich Glück, John! Das hat's immer getan. Ein Heimchen am Herd zu haben, ist das größte Glück von der Welt!«
John sah sie an, als wäre er nahe daran, auf den Gedanken zu kommen, sie sei sein Oberheimchen, und war vollständig mit ihr einverstanden. Aber es war vermutlich wieder eine jener Gelegenheiten, wo er nahe daran war, einen Witz zu machen, denn er sagte nichts.
»Das erstemal, daß ich seinen munteren lieben Gesang hörte, das war an jenem Abend, John, da du mich in dein Haus – in mein neues Heim brachtest, als seine kleine Herrin. Es ist nahezu ein Jahr her. Du erinnerst dich doch, John!«
O ja, John erinnerte sich! »Das sollt' ich meinen!«
»Sein Zirpen war mir ein so lieblicher Willkommensgruß! Es schien so voller Verheißung und Ermutigung! Es war, als wolle es mir sagen, du würdest gut und freundlich gegen mich sein und nicht erwarten – das fürchtete ich damals, John – einen alten Kopf auf den Schultern deiner dummen kleinen Frau zu finden.«
John klopfte nachdenklich eine dieser Schultern und streichelte dann ihren Kopf, als wollte er sagen: »Nein, nein, ich hatte so etwas nicht erwartet; ich bin mit diesem Kopf und diesen Schultern ganz zufrieden.« Und er hatte durchaus recht: sie waren allerliebst.
»Es sagte die Wahrheit, John, als es zu sprechen schien; denn du bist mir immer der beste, der nachsichtigste, der liebevollste Gatte gewesen. Du hast mir dieses Haus zu einem glücklichen Heim gemacht, John, und ich liebe das Heimchen darum.«
»Na, dann ich auch«, sagte der Fuhrmann. »Dann ich auch, Dot.«
»Ich liebe es, weil ich es so oft gehört habe und wegen der vielen guten Gedanken, die seine unschuldige Musik in mir angeregt hat. Wenn ich mich abends in der Dämmerung bisweilen ein wenig verlassen und niedergeschlagen fühlte, John, – nämlich ehe das Kindchen kam, um mir Gesellschaft zu leisten und es fröhlich im Hause zu machen – wenn ich bedachte, wie einsam du sein würdest, wenn ich stürbe, wie trostlos ich sein würde, wenn ich es wissen könnte, daß du mich verloren hättest, Liebster: da schien sein Zirp – zirp – zirp auf dem Herde mir von einem andern Stimmchen zu erzählen, von einem so süßen, meinem Herzen so teuren Stimmchen, daß dessen zukünftiger Klang meinen Kummer bald wie einen Traum verschwinden ließ. Und wenn ich sonst fürchtete – und ich fürchtete es anfangs wirklich, John, denn du weißt ja, ich war noch sehr jung! – wir könnten als ein schlechtes Ehepaar zusammenleben, da ich fast nur ein Kind war und du mehr aussahst wie mein Vormund als wie mein Mann – und daß du, welche Mühe du dir gäbest, doch nicht imstande wärest, mich so lieben zu lernen, wie du hofftest und wünschtest; dann heiterte sein Zirp-zirp-zirp mich wieder auf und gab mir frischen Mut und neues Vertrauen. An all diese Dinge dacht' ich heute abend, Lieber, als ich dasaß und dich erwartete; und das ist's, warum ich das Heimchen so lieb habe!«
»Dann ich auch«, wiederholte John. »Aber Dot ... ich erst hoffen und wünschen, daß ich dich lieben lernte! Wie du nur reden magst! Das hatte ich längst gelernt, eh' ich dich hierher brachte, damit du des Heimchens kleine Herrin seist, Dot!«
Sie legte ihre Hand einen Augenblick auf seinen Arm und schaute mit erregtem Gesicht zu ihm auf, als hätte sie ihm etwas sagen wollen. Am nächsten Augenblick jedoch lag sie vor dem Korbe auf den Knien, plauderte mit ihrer angenehmen Stimme fröhlich und eifrig, während sie sich mit den Paketen beschäftigte.
»Es sind heute abend nicht viele, John; aber ich habe soeben hinten auf dem Wagen einige Ballen gesehen, und wenn sie auch mehr Arbeit machen, so bringen sie doch auch mehr ein; wir haben also nichts, worüber wir uns zu beklagen hätten, nicht wahr? Und zudem hast du gewiß auf dem Heimweg schon einiges abgeliefert, nicht?«
»Jawohl«, sagte John. »Eine recht hübsche Anzahl.«
»Aber was ist dies für eine runde Schachtel? Du meine Güte, John, das ist ja ein Hochzeitskuchen!« 15
»Sowas kann nur eine Frau erraten!« sagte John voll Bewunderung. »Ja, ein Mann wäre gar nicht auf solche Gedanken gekommen! Man packe nur einen Hochzeitskuchen in eine Teekiste, in eine auseinandergenommene Bettstelle, in ein Lachsfäßchen oder in irgendein anderes unwahrscheinliches Ding, ich wette, eine Frau findet ihn sofort heraus ... Ja, das ist richtig, ich habe ihn von dem Konditor mitgebracht.« »Und er wiegt, ich weiß nicht wie viele ... ganze hundert Pfund!« rief Dot, indem sie große Anstrengungen machte, ihn aufzuheben. »Für wen ist er, John? Wo soll er hin?«
»Lies die Adresse auf der anderen Seite«, erwiderte John.
»Wie, John! Du meine Güte, John!«
»Ja, wer hätte das gedacht!« versetzte John.
»Du meinst doch nicht etwa«, fuhr Dot fort, indem sie sich auf den Boden setzte und den Kopf schüttelte, »daß er für Gruff und Tackleton, den Spielwarenhändler, ist!«
John nickte.
Mrs. Peerybingle nickte ebenfalls, wenigstens fünfzigmal. Nicht zum Zeichen der Zustimmung, sondern in stummer, mitleidiger Überraschung, und inzwischen zog sie mit all ihrer geringen Kraft ihre Lippen spitz zusammen – sie waren gar nicht für das Spitzzusammenziehen geschaffen, das ist mir klar – und blickte in Gedanken verloren den guten Fuhrmann gleichsam durch und durch an. Inzwischen fragte Fräulein Tolpatsch, die ein ungeheures Talent dafür hatte, aus dem Fluß der Unterhaltung einige Brocken zum Vergnügen des Wickelkindes herauszufischen, wobei sie sie jedoch alles Sinnes beraubte und fast sämtliche Wörter ins Diminutiv verwandelte, um sie diesem jungen Geschöpfchen anzupassen: »Wirklich für Gruffchen und Tapletonchen, das Spielwarenhändlerchen? Wollte bei dem Pastetenbäckerchen Hochzeitküchelchen holen? Und Mütterchen wirklich Schächtelchen sofortchen erkanntchen, als Väterchen sie heimchen gebracht!« und so weiter.
»Und die Heirat soll also wirklich zustande kommen!« sagte Dot. »Gott, wir sind zusammen in die Schule gegangen, John.«
John dachte ohne Zweifel an sie, oder war vielleicht nahe daran zu denken, wie sie in jener Schulzeit ausgesehen habe. Er sah sie mit nachdenklichem Wohlgefallen an, ohne jedoch zu antworten.
»Und er ist so alt – ! Ihr so ungleich – ! ... Sag doch mal, John, wie viel Jahre ist Gruff und Tackleton wohl älter als du?«
»Wieviel Tassen Tee soll ich heute abend in einer Sitzung wohl mehr trinken als Gruff und Tackleton je in vier Sitzungen getrunken hat?« versetzte John gutgelaunt, indem er einen Stuhl an den runden Tisch rückte und den kalten Schinken in Angriff nahm. »Was das Essen anbelangt, Dot, so esse ich nur wenig, aber dieses Wenige lass' ich mir schmecken.«
Selbst dieser sein gewöhnlicher Trinkspruch, eine seiner unschuldigen Selbsttäuschungen, – denn sein Appetit war stets hartnäckig und strafte ihn augensichtlich Lügen – rief kein Lächeln auf das Gesicht seines kleinen Weibchens, das zwischen den Paketen stand und die Kuchenschachteln langsam mit dem Fuße von sich stieß, ohne ihrem zierlichen Schuh, dem sie sonst so viel Beachtung schenkte, auch nur einen Blick zu gönnen, obgleich ihre Augen ebenfalls niedergeschlagen waren. In Gedanken verloren stand sie da, dachte ebensowenig an den Tee wie an John – obwohl er sie anrief und mit dem Messer auf den Tisch klopfte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen – bis er endlich aufstand und ihren Arm berührte. Da schaute sie ihn einen Augenblick an und eilte, über ihre Nachlässigkeit lachend, auf ihren Platz hinter dem Teebrett. Aber sie lachte nicht wie früher. Die Art und Weise sowohl wie der Klang hatten sich ganz verändert.
Auch das Heimchen war verstummt. Das Zimmer war irgendwie nicht mehr so gemütlich wie früher. Gar nicht mehr.
»Dies sind also sämtliche Pakete, John?« sagte sie und unterbrach ein langes Schweigen, das der ehrliche Fuhrmann der praktischen Illustration des einen Teils seines beliebten Trinkspruches gewidmet hatte – indem er in der Tat bewies, daß er mit Appetit aß, wenn auch nicht zugegeben werden konnte, daß er nur wenig aß. »Dies sind also sämtliche Pakete, John?«
»Das ist alles«, versetzte John. »Aber – nein – ich –« setzte er hinzu, indem er Messer und Gabel niederlegte und tief ausatmete. »In der Tat, ich habe den alten Herrn rein vergessen!«
»Den alten Herrn?«
»Im Wagen«, sagte John. »Er war im Stroh eingeschlafen, als ich ihn zum letztenmal sah. Ich bin zweimal ganz nahe daran gewesen, mich seiner zu erinnern, seit ich hier bin; aber er ist mir wieder aus dem Kopfe gekommen. Holla! Heda, Ihr dort! Aufgestanden, guter Freund!«
John sagte diese letzten Worte vor der Tür, wohin er mit dem Licht in der Hand geeilt war.
Fräulein Tolpatsch, überzeugt, daß hinter dem Namen »alter Herr« irgendein Geheimnis stecke, und die in ihrer verworrenen Phantasie gewisse Vorstellungen religiöser Natur mit diesem Ausdruck verband 16, geriet so in Aufregung, daß sie hurtig von ihrem Schemel am Feuer aufstand, um Schutz hinter der Schürze ihrer Herrin zu suchen. Aber in dem Augenblick, als sie an der Tür vorübereilte, kam sie in Berührung mit einem unbekannten Greise und machte sofort instinktiv einen Angriff auf ihn mit der einzigen Waffe, die ihr gerade zu Gebote stand. Da diese Waffe zufällig das Wickelkind war, so entstand große Aufregung und Bestürzung, die Boxers Scharfsinn nur noch vermehrte; denn dieser brave Hund, achtsamer als sein Herr, hatte allem Anschein nach den alten Herrn in seinem Schlaf bewacht, damit er sich nicht mit ein paar jungen Pappeln davonmachte, die hinten auf den Wagen gebunden waren, und auch jetzt noch blieb er ihm hart auf den Fersen, zauste beständig an seinen Gamaschen und machte verzweifelte Angriffe auf seine Knöpfe.
»Na, Herr, Ihr versteht das Schlafen, das kann man nicht anders sagen«, sprach John, als die Ruhe wieder hergestellt war.
Während dieser Zeit hatte der alte Herr barhaupt und regungslos mitten im Zimmer gestanden.
»So ausgezeichnet versteht Ihr's, daß ich Euch fast fragen möchte, wo denn die andern sechs sind. Aber das gäbe ja beinahe einen Witz und ich würde ihn gewiß nur verderben. Übrigens nahe daran«, murmelte der Fuhrmann lachend: »ganz nahe daran!«
Der Fremde, der langes weißes Haar, schöne und für einen Greis merkwürdig stolze und ausdrucksvolle Züge und glänzende durchdringende dunkle Augen hatte, sah sich freundlich lachend um und grüßte des Fuhrmanns Frau mit würdevollem Kopfnicken.
Sein Anzug war zwar einfach, aber sehr komisch – er war schon längst aus der Mode gekommen. Er war ganz von brauner Farbe. In der Hand hielt er einen großen ebenfalls braunen Knüttel oder eine Art Spazierstock. Da geschah etwas Merkwürdiges: als er damit auf den Boden stieß, fiel er auseinander 17 und wurde ein Stuhl, auf den er sich mit der größten Gelassenheit setzte.
»Sieh nur!« sagte der Fuhrmann, indem er sich zu seiner Frau umwandte. »Gerade so fand ich ihn am Wege sitzend. Aufrecht wie ein Meilenzeiger. Und beinahe ebenso taub!«
»Er saß im Freien, John?«
»Ganz im Freien«, erwiderte der Fuhrmann; »just als die Nacht hereinbrach. ›Fahrgeld‹, sagte er und gab mir einundeinenhalben Schilling. Dann stieg er ein. Und jetzt ist er da.«
»Er wird doch wohl bald gehen wollen, John?«
Aber nein. Er wollte nur reden.
»Mit eurer Erlaubnis«, sagte der Fremde sanft, »ich soll abgeholt werden. Tut, als wenn ich gar nicht da wäre.«
Damit nahm er aus einer seiner weiten Taschen eine Brille und aus einer andern ein Buch und begann behäbig zu lesen, wobei er sich um Boxer nicht mehr kümmerte, als wäre er ein Lämmchen gewesen.
Der Fuhrmann und seine Frau wechselten einen bestürzten Blick. Der Fremde erhob sein Haupt, blickte von der letzteren auf den ersteren, und sagte:
»Eure Tochter, guter Freund?«
»Frau«, erwiderte John.
»Nichte?« fragte der Fremde.
»Frau!« schrie John.
»Wirklich?« versetzte der Fremde. »In der Tat, sehr jung!«
Dann schlug er gemütlich einige Blätter um und setzte seine Lektüre fort. Aber kaum hatte er zwei Zeilen gelesen, da unterbrach er sich wieder und fragte:
»Und das Kind – Euer?«
John machte mit dem Kopfe ein gar nicht mißzuverstehendes Zeichen der Bejahung – mit Hilfe eines Sprachrohrs hätte er nicht verständlicher antworten können.
»Mädchen?«
»Kna-a-be!« schrie John.
»Auch noch sehr jung, he?«
Sofort meldete sich Mrs. Peerybingle zum Wort.
»Zwei Monat und drei Ta-a-ge! Vor sechs Wochen wurde er gerade gei-i-mpft! Pocken sehr schön bekommen! Doktor sagte, ein merkwürdig schönes Ki-i-nd! So kräftig wie sonst nur Kinder von fünf Mo-o-nden! Seine Klugheit ganz wu-un-derbar! Wird Ihnen unglaublich scheinen, aber kann schon auf seinen Beinchen ste-e-hen!« Hier hielt die atemlose kleine Mutter, die diese kurzen Sätze dem Greise ins Ohr geschrien, bis ihr hübsches Gesicht feuerrot geworden, das Kindchen vor ihn hin, als einen unumstößlichen triumphierenden Beweis ihrer Behauptung, während Tilly mit dem melodischen Rufe »Ätsch, ätsch«, die geheimnisvollen Worte wie das Niesen eines kräftigen Mannes klangen – wie ein junges Kalb um das unschuldige Kindchen herumtanzte. –
»Horch! Da wird er gewiß abgeholt«, sagte John. »Da ist jemand an der Tür. Mach' auf, Tilly!«
Eh' sie jedoch die Tür erreicht hatte, wurde sie von außen geöffnet; denn es war eine jener altmodischen Türen mit Klinke, die jeder öffnen konnte, der Lust hatte – und gar mancher hatte Lust dazu; denn alle möglichen Nachbarn wechselten gern ein paar gemütliche Worte mit dem Fuhrmann, obgleich er gerade nicht sehr redselig war. Es trat ein kleiner dummer Mann mit nachdenklichem braunen welken Gesicht herein, der sich aus Packleinwand, in die wohl mal eine alte Kiste eingenäht worden war, selbst einen Überrock gemacht zu haben schien; denn als er sich umwandte, um die Tür zu schließen, damit das Wetter nicht hereinschlage, zeigte er auf der Rückseite seines Rocks in großen schwarzen Buchstaben die Aufschrift »G. & T.«, sowie in energischen Schriftzügen das Wort »Glas!«
»Guten Abend, John«, sagte der kleine Mann. »Guten Abend, junge Frau. Guten Abend, Tilly. Guten Abend, Unbekannter. Was macht das Kindchen, junge Frau? Und Boxer hoffentlich gesund?«
»Alles bei bestem Wohlsein, Kaleb.« antwortete Dot. »Um Euch davon zu überzeugen, braucht Ihr nur unseren lieben Jungen anzusehen.«
»Und Euch, dann weiß ich's noch mal«, versetzte Kaleb.
Er sah sie jedoch nicht an; denn er hatte ein unruhiges, nachdenkliches Auge, das immer in einer andern Zeit und einem andern Raume schien, wie denn seine Stimme auch niemals bei der Sache zu sein schien.
»Oder John, dann weiß ich's nochmal«, sagte Kaleb.
»Oder Tilly, soweit das möglich; oder auch Boxer.«
»Gerade viel zu tun, Kaleb?« fragte der Fuhrmann.
»O ja, ziemlich viel, John«, erwiderte dieser mit der zerstreuten Miene eines Mannes, der nicht weniger als den Stein der Weisen sucht. »Ja, ziemlich viel. Es ist jetzt starke Nachfrage nach Noahs Archen. Ich möchte die Noahsche Familie gern vollkommener machen, aber ich weiß nicht, wie es bei dem Preise möglich ist. Es würde mir Freude machen, wenn die Sems von den Hams, und die Männer von den Weibern deutlicher unterschieden werden könnten. Die Fliegen haben auch nicht das richtige Maß – wißt Ihr, wenn man sie mit den Elefanten vergleicht! Was ich sagen wollte, John, habt Ihr etwas unter den Paketen für mich?«