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bis Euch Eure Augen weh tun: Ihr findet kein Loch darin und
keine dünne Stelle. Es ist das beste, was er hatte, und sein ist's
auch. Sie hätten's verdorben, wenn ich nicht gewesen wäre.«
»Was meint Ihr mit Verderben?« fragte der alte Joe.
»Nun, ihm das Hemd in das Grab mitgeben, was sonst?«
erwiderte die Frau lachend. »Es war da einer dumm genug, es
ihm anzuziehen, aber ich zog's ihm wieder aus. Wenn Kattun zu
so etwas nicht gut genug ist, weiß ich nicht, zu was er sonst gut
wäre. Er steht einer Leiche ebensogut. Er kann nicht häßlicher
aussehen, als er darin aussah.«
Scrooge hörte das Gespräch mit Grausen an. Wie sie da um
ihren Raub herum in dem kärglichen Lampenlicht des Alten
saßen, betrachtete er sie mit einem Ekel und einem Abscheu, der
nicht größer hätte sein können, wenn es scheußliche Dämonen
gewesen wären, die um die Leiche selbst feilschten.
»Ha, ha!« lachte dieselbe Frau, als der alte Joe, einen alten
flanellnen Geldbeutel herauslangte und jedem den Preis des
Raubes auf den Fußboden hinzählte. »Das ist das Ende von der
Geschichte, seht Ihr! Er scheuchte jeden von sich, solange er
lebte, um uns zu nützen, da er tot ist! Hahaha!«
lebte, um uns zu nützen, da er tot ist! Hahaha!«
58
»Geist«, sagte Scrooge, vom Fuß bis zum Scheitel zitternd. »Ich
verstehe dich.
Das Los dieses Unglücklichen könnte das meinige sein. Mein
Leben geht jetzt auf dieses Ziel zu. Gnädiger Himmel, was ist
das?«
Er fuhr entsetzt zurück, denn die Szene hatte sich verändert, und
er stand dicht vor einem Bett, einem einsamen, unverhängten
Bett, in dem unter einer groben Decke etwas Verhülltes lag, das,
obgleich stumm, in einer grauenerregenden Sprache verkündete,
was es war.
Das Zimmer war sehr dunkel, zu dunkel, um etwas sicher
erkennen zu können, obgleich sich Scrooge, einem geheimen
Gefühl folgend, voll Begier umsah, um zu wissen, was für ein
Zimmer es sei. Ein bleiches Licht, das von draußen
hereinströmte, fiel gerade aufs Bett; und auf diesem, geplündert
und beraubt, unbewacht und unbeweint, lag die Leiche dieses
Mannes.
Scrooge blickte die Erscheinung an. Ihre regungslose Hand wies
auf das Haupt des Leichnams. Die Decke war so sorglos
zurechtgelegt, daß das geringste Verschieben, die leiseste
Berührung von Scrooges Fingern das Antlitz enthüllt hätte. Er
dachte daran, empfand, wie leicht es geschehen könnte, und
sehnte sich, es zu tun; aber er hatte ebensowenig die Kraft, die
Hülle wegzuziehen, wie den Geist von seiner Seite zu entlassen.
Oh, kalter, starrer, schrecklicher Tod, hier richte deinen Altar auf
und umgib ihn mit den Schrecken, über die du verfügst, denn
dies ist dein Reich! Aber dem geliebten und verehrten Haupt
kannst du kein Haar krümmen, von ihm kannst du keinen Zug
widerlich machen. Auch wenn die Hand schwer ist und
herabsinkt, wenn man sie fallen läßt, auch wenn das Herz und
der Puls schweigen; die Hand war offen und barmherzig, das
Herz war offen und warm und gut und der Puls ein menschlicher.
Töte, Schatten, töte! Und sieh, wie seine guten Taten aus der
Todeswunde hervorströmen, um in der Welt ein unsterbliches
Leben auszusäen!
Es war nicht etwa eine Stimme, die diese Worte in Scrooges
Ohren flüsterte, aber doch hörte er sie, während er auf das Bett
starrte. Er dachte, wenn dieser Mann jetzt wieder erweckt
werden könnte, was würde wohl sein erster Gedanke sein? Nur
Geiz, Hartherzigkeit, habgierige Sorge. - Ein schönes Ende
haben sie ihm bereitet!
Er lag in dem düstern leeren Haus, und kein Mann, kein Weib,
kein Kind war da, um zu sagen: »Er war gütig gegen mich in dem
und in jenem, und dieses einen gütigen Wortes gedenkend will
ich seiner warten.« Eine Katze kratzte an der Tür, und die Ratten
ich seiner warten.« Eine Katze kratzte an der Tür, und die Ratten
nagten und raschelten unter dem Kamin. Was sie in dem
Gemach des Todes wol ten und warum sie so unruhig waren,
wagte Scrooge nicht auszudenken.
»Geist«, sagte er, »dies ist ein schrecklicher Ort. Wenn ich ihn
verlasse, werde ich nicht seine Lehre vergessen, glaube mir. Laß
uns gehen.«
Immer noch wies der Geist mit regungslosem Finger auf das
Haupt der Leiche.
»Ich verstehe dich«, antwortete Scrooge, »und ich täte es, wenn
ich könnte.
Aber ich habe die Kraft nicht dazu, Geist. Ich habe die Kraft
nicht dazu.«
Wieder schien ihn der Geist anzublicken.
59
»Wenn irgend jemand in der Stadt ist, der bei dieses Mannes
Tod etwas fühlt«, bat Scrooge ganz erschüttert, »so zeige mir
ihn, Geist, ich flehe dich an.«
Die Erscheinung breitete ihren dunklen Mantel einen Augenblick
vor ihm aus wie einen Fittich; und wie s ie ihn wieder wegzog,
sah er ein taghelles Zimmer, in dem sich eine Mutter mit ihren
sah er ein taghelles Zimmer, in dem sich eine Mutter mit ihren
Kindern befand.
Sie wartete auf jemandes Kommen in ängstlicher Hoffnung, denn
sie ging im Zimmer auf und ab, erschrak bei jedem Geräusch,
sah zum Fenster hinaus, blickte nach der Uhr, versuchte
umsonst, sich zu beschäftigen und konnte kaum die Stimmen der
spielenden Kinder ertragen.
Endlich vernahm s ie das langersehnte Klopfen an der Haustür,
und als sie hinausgehen wol te, kam ihr der Gatte entgegen. Sein
Gesicht war abgehärmt und bekümmert, obgleich er noch jung
war! Es zeigte sich jetzt ein merkwürdiger Ausdruck darin: eine
Art ernster Freude, deren er sich schämte und die er zu
verbergen bestrebt war.
Er setzte sich zum Essen nieder, das man ihm am Feuer
aufgehoben hatte; und als die Gattin ihn erst nach langem
Schweigen fragte, was er für Nachrichten bringe, schien er um
Antwort verlegen zu sein.
»Sind es gute«, fragte sie, »oder schlechte?«
»Schlechte«, gab er zur Antwort.
»Sind wir ganz zugrunde gerichtet?«
»Nein, noch ist Hoffnung vorhanden, Caroline.«
»Wenn er sich erweichen läßt«, rief sie erstaunt, »dann ist noch
Hoffnung da!
Nichts ist hoffnungslos, wenn ein solches Wunder geschehen ist.«
»Für ihn ist es zu spät, Erbarmen zu zeigen«, sagte der Gatte. »Er
ist tot.«
Wenn ihr Gesicht Wahrheit sprach, so war sie ein mildes und
geduldiges Wesen; aber sie war doch dankbar dafür in ihrem
Herzen und sprach es mit gefalteten Händen aus. Doch schon im
nächsten Augenblick bat sie Gott, daß er ihr verzeihen möge,
und bereute es; aber das erste Gefühl war die Stimme ihres
Herzens gewesen.
»Was mir die halbbetrunkene Frau gestern abend meldete, als
ich ihn sprechen und um eine Woche Aufschub bitten wol te, und
was ich nur für einen bloßen Vorwand hielt, um mich
abzuweisen, erweist sich jetzt als die reine Wahrheit.
Er war nicht nur sehr krank, er lag schon im Sterben.«
»Auf wen wird unsere Schuld übergehen?«
»Ich weiß es nicht. Aber noch vor dieser Zeit werden wir das
Geld haben; und selbst, wenn dies nicht einträfe, wär' es fast
unwahrscheinlich großes Pech, in seinem Erben einen ebenso
unbarmherzigen Gläubiger zu finden. Wir können heut' nacht
leichteren Herzens schlafen, Caroline.«
Ja, sie mochten es verhehlen, wie sie wollten: ihre Herzen waren
leichter. Die Gesichter der Kinder, die s ich still um die Eltern
drängten, um zu hören, was sie so wenig verstanden, erhel ten
sich, und al e wurden glücklicher durch dieses Mannes Tod. Das
einzige von diesem Ereignis hervorgerufene Gefühl, das ihm der
Geist zeigen konnte, war also eins der Freude.
60
»Laß mich ein zärtliches, bei einem Todesfall empfundenes
Gefühl sehen«, bat Scrooge, »oder mir wird dies dunkle Zimmer,
das wir soeben verlassen haben, immer vor Augen bleiben.«
Nun führte ihn der Geist durch mehrere Straßen, die er oft
gegangen war; und indem s ie vorüberschwebten, hoffte Scrooge
sich hier und da zu erblicken, aber nirgends war er zu sehen. Sie
traten in Bob Cratchits Haus, dessen Wohnung sie schon früher
besucht hatten, und fanden dort die Mutter mit den Kindern um
das Feuer sitzen.
Alles war ruhig, alles war still, sehr still. Die lärmenden kleinen
Cratchits saßen stumm, wie steinerne Bilder, in einer Ecke und
sahen auf Peter, der ein Buch vor sich hatte. Mutter und Töchter
nähten. Aber auch sie waren stil , sehr still.
»Und er nahm ein Kind und stellte es in ihre Mitte.«
»Und er nahm ein Kind und stellte es in ihre Mitte.«
Wo hatte Scrooge diese Worte gehört? Der Knabe mußte sie
gelesen haben, als er und der Geist über die Schwel e traten.
Warum fuhr der Leser nicht fort?
Die Mutter legte ihre Arbeit auf den Tisch und führte die Hand
gegen die Augen.
»Die Farbe tut mir weh«, sagte sie.
Die Farbe? Ach, der arme Tiny Tim!
»Es geht jetzt wieder besser«, sagte Cratchits Frau.
»Die Farbe tut mir weh bei Licht, und ich möchte nicht, daß
Vater, wenn er heimkommt, meine roten Augen sieht. Es muß
bald Zeit sein.«
»Fast schon vorüber«, erwiderte Peter, das Buch schließend.
»Aber ich glaube, Mutter, er geht jetzt etwas langsamer als
früher.«
Sie waren wieder sehr still. Endlich sagte sie mit einer ruhigen,
heiteren Stimme, die nur ein einziges Mal zitterte:
»Ich weiß, daß er mit - ich weiß, daß er mit Tiny Tim auf der
Schulter sehr schnel ging.«
»Ich auch«, rief Peter. »Oft.«
»Ich auch«, rief Peter. »Oft.«
»Ich auch«, stimmten die andern ein.
»Aber er war sehr leicht zu tragen«, fing sie wieder an, den Blick
fest auf ihre Arbeit gerichtet, »und der Vater liebte ihn so, daß es
keine Last für ihn war -
keine Last. Doch horch: da kommt der Vater.«
Sie eilten ihm entgegen und Bob mit dem Schal - der arme Kerl
hatte ihn nötig
- trat herein. Sein Tee stand bereit, und sie drängten sich al e
herbei, und jeder wol te ihn am meisten bedienen. Dann
kletterten die beiden kleinen Cratchits auf seine Knie, und jedes
Kind legte eine kleine Wange an die seine, als wol ten sie sagen:
»Gräm dich nicht, lieber Vater, sei nicht traurig.«
Bob war sehr heiter und sprach sehr munter mit der ganzen
Familie. Er besah die Arbeit auf dem Tisch und lobte den Fleiß
und den Eifer seiner Frau und Töchter. Sie würden lange vor
Sonntag fertig sein, meinte er.
»Sonntag!« wiederholte die Frau. »Du warst also heute dort,
Robert?«
»Ja, meine Liebe«, antwortete Bob. »Ich wol te, du hättest auch
hingehen können. Es würde dein Herz erfreut haben, zu sehen,
hingehen können. Es würde dein Herz erfreut haben, zu sehen,
wie grün es dort ist. Aber 61
du wirst es oft sehen. Ich versprach ihm, sonntags hinzugehen.
Mein liebes, liebes Kind!«meinte Bob. »Mein liebes Kind!«
Er brach auf einmal zusammen. Er konnte nicht anders. Hätte er
anders gekonnt, so wären er und sein Kind einander wohl
weniger nahe gewesen.
Er verließ die Stube und ging die Treppe hinauf in ein Zimmer,
das hel erleuchtet und weihnachtsmäßig aufgeputzt war. Ein Stuhl
stand dicht neben dem Kind und man sah, daß vor kurzem
jemand dagewesen war. Der arme Bob setzte sich nieder, und
als er ein wenig nachgedacht und sich gefaßt hatte, küßte er das
kleine kalte Gesicht. Er war versöhnt mit dem Geschehenen und
ging wieder hinunter ganz heiter.
Sie setzten sich um das Feuer und unterhielten s ich; die
Mädchen und Mutter arbeiteten fort. Bob erzählte ihnen von
Scrooges Neffen und seiner außerordentlichen Freundlichkeit,
obwohl er ihn kaum ein einziges Mal gesehen habe. Er habe ihn
heute auf der Straße getroffen, und als er bemerkt, daß er ein
wenig niedergeschlagen aussähe, habe er ihn gefragt, was ihn
bekümmere.
»Hierauf«, sagte Bob, »erzählte ich es ihm, denn er ist der
freundlichste junge Herr, den ich kenne. ›Ich bedaure Sie
herzlich, Mr. Cratchit,‹ sagte er, ›und auch Ihre gute Frau.‹ -
herzlich, Mr. Cratchit,‹ sagte er, ›und auch Ihre gute Frau.‹ -
Übrigens, wie er das wissen kann, möchte ich wissen.«
»Was sol er wissen, mein Lieber.«
»Nun, daß du eine gute Frau bist«, antwortete Bob.
»Jedermann weiß das«, meinte Peter.
»Sehr gut bemerkt, mein Junge«, rief Bob. »Ich hoffe, es ist so.
›Herzlich bedaure ich Ihre gute Frau‹, sagte er. ›Wenn ich Ihnen
auf irgendeine Weise behilflich sein kann‹, setzte er hinzu, indem
er mir seine Karte gab, ›hier ist meine Adresse. Kommen Sie nur
zu mir.‹ Nun ist es nicht gerade darum«, sprach Bob, »weil er
etwas für uns tun könnte, sondern mehr wegen seiner herzlichen
Weise, daß ich mich darüber so freute. Es schien wirklich, als
habe er unsern Tiny Tim gekannt und fühle mit uns.«
»Er ist gewiß eine gute Seele«, sagte Mrs. Cratchit.
»Du würdest das noch eher erkennen, meine Liebe«, antwortete
Bob, »wenn du ihn sähest und mit ihm sprächest. Es sol te mich
nicht wundern, wenn er Peter eine bessere Stelle verschaffte.
Denkt an meine Worte.«
»Nun höre nur, Peter«, sagte Mrs. Cratchit.
»Und dann«, rief eines der Mädchen, »wird sich Peter nach einer
Frau umsehen.«
Frau umsehen.«
»Ach, sei still«, antwortete Peter lachend.
»Nun, das kann schon kommen«, sagte Bob, »doch bis dahin hat
er noch eine Menge Zeit. Aber wie und wann wir uns auch
voneinander trennen sollten, so bin ich doch überzeugt, daß
keiner von uns den armen Tiny Tim vergessen wird oder diese
erste Trennung, die wir erfuhren.«
»Niemals, Vater«, riefen alle.
»Und ich weiß«, sagte Bob, »ich weiß, meine Lieben, wenn wir
daran denken, wie geduldig und wie sanft er war, obgleich er nur
ein kleines Kind war, werden 62
wir uns nicht so leicht zanken und den guten Tiny Tim vergessen,
indem wir's tun.«
»Nein, niemals, Vater«, riefen wieder alle.
»Ich bin sehr glücklich«, sagte Bob, »sehr glücklich.«
Mrs. Cratchit küßte ihn, seine Töchter küßten ihn, die beiden
kleinen Cratchits küßten ihn, und Peter und er drückten sich die
Hand. Seele Tiny Tims, du warst ein Hauch von Gott.
»Geist«, sprach Scrooge, »etwas sagt mir, daß wir uns bald
trennen werden.
Ich weiß es, aber ich weiß nicht wie. Sag mir, wer war es, den
wir auf dem Totenbett sahen?«
Der Geist der zukünftigen Weihnacht führte ihn wie zuvor - doch
zu verschiedener Zeit, wie es ihm vorkam, und überhaupt schien
in den letzten abwechselnden Gesichtern keine Zeitfolge
stattzufinden - an die Zusammenkunftsorte der Geschäftsleute,
aber er sah sich selber nicht. Der Geist hielt sich nirgends auf,
sondern schwebte immer weiter, wie nach dem Ort zu, wo
Scrooge die gewünschte Lösung des Rätsels finden würde, bis
ihn dieser bat, einen Augenblick zu verweilen.
»Ja, dieser Hof, durch den wir jetzt eilen«, sagte Scrooge, »war
einst mein Geschäft und war es lange Jahre hindurch. Ich
erkenne das Haus. Laß mich sehen, was ich in den kommenden
Tagen sein werde.«
Der Geist stand still; die Hand zeigte anderswohin.
»Das Haus ist dort«, rief Scrooge. »Warum zeigst du
anderswohin?«
Der unerbittliche Finger nahm keine andere Richtung an.
Scrooge eilte nach dem Fenster seines Kontors und schaute
hinein. Es war noch ein Kontor, aber nicht das seinige. Die
Möbel waren nicht dieselben, und die Gestalt in dem Stuhl war
nicht die seine. Die Erscheinung zeigte nach derselben Richtung
nicht die seine. Die Erscheinung zeigte nach derselben Richtung
wie vorher.
Er trat wieder zu ihr hin und nachsinnend, warum und wohin sie
gingen, begleitete er sie, bis sie eine eiserne Pforte erreichten. Er
stand still, um sich vor dem Eintreten umzusehen.
Es war ein Kirchhof. Hier also lag der Unglückliche unter der
Erde, dessen Namen er noch erfahren sol te. Der Ort war seiner
würdig. Rings von hohen Häusern umgeben, überwuchert von
Unkraut, entsprossen dem Tod, nicht dem Leben der
Vegetation, vollgepfropft von zu vielen Leichen, genährt von
übersättigtem Genuß.
Der Geist stand inmitten der Gräber still und deutete auf eins
hinab. Scrooge näherte sich ihm bebend. Die Erscheinung war
noch ganz so wie früher, aber ihm war es immer, als sähe er eine
neue Bedeutung in der düsteren Gestalt.
»Ehe ich mich dem Stein nähere, den du mir zeigst«, sagte
Scrooge,
»beantworte mir eine Frage. Sind dies die Schatten der Dinge,
die sein werden, oder nur deren, die sein können ?«
Immer noch wies der Geist auf das Grab hin, vor dem sie
standen.
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»Die Wege des Menschen tragen ihr Ziel in sich«, murmelte
Scrooge. »Aber schlägt er einen andern Weg ein, so ändert sich
das Ziel. Sag, ist es so mit dem, was du mir zeigen wirst?«
Der Geist blieb so unbeweglich wie immer.
Scrooge näherte sich schlotternd dem Grabe, und wie er der
Richtung des Fingers folgte, las er auf dem Stein seinen eigenen
Namen.
EBENEZER SCROOGE
»Bin ich es, der auf jenem Bett lag?« rief er, in die Knie sinkend.
Der Finger zeigte von dem Grabe fort auf ihn und wieder zurück.
»Nein, Geist, o nein!«
Der Finger wies unveränderlich dorthin.
»Geist«, rief Scrooge, sich fest an sein Gewand klammernd, »ich
bin nicht mehr der Mensch, der ich ehedem war. Ich will ein
anderer Mensch werden, als ich vor diesen Tagen gewesen bin.
Warum zeigst du mir dies, wenn al e Hoffnung geschwunden
ist?«
Zum ersten Male schien des Geistes Hand zu zittern.
»Guter Geist«, fuhr er fort, »dein eigenes Herz legt bittend für
mich ein Wort ein und bedauert mich. Sag mir, daß ich durch ein
verändertes Leben die Schattenbilder, die du mir gezeigt hast,
ändern kann!«
Die gütige Hand zitterte.
»Ich will Weihnachten in meinem Herzen ehren, ich will
versuchen, es zu feiern. Ich will in der Vergangenheit, in der
versuchen, es zu feiern. Ich will in der Vergangenheit, in der
Gegenwart und in der Zukunft leben. Die Geister von allen dreien
sollen in mir lebendig sein. Ich wil ihren Lehren mein Herz nicht
verschließen. O sage mir, daß ich die Schrift auf diesem Stein
tilgen kann!«
In seiner Angst ergriff Scrooge die gespenstige Hand. Sie
versuchte, sich von ihm loszumachen, aber er war stark in seinem
Flehen und hielt sie fest. Der Geist, noch stärker, stieß ihn
zurück.
Wie Scrooge die bebenden Hände zu einem letzten Flehen um
Änderung seines Schicksals in die Höhe hielt, sah er die
Erscheinung sich verändern. Sie wurde kleiner und kleiner und
schwand zu einem Bettpfosten zusammen.
64
Fünfte Strophe
Das Ende
Ja, und es war sein eigener Bettpfosten. Es war sein Bett und
sein Zimmer.
Und was das Glücklichste und Beste war: die Zukunft gehörte
ihm, um s ich zu bessern.
»Ich will in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der
»Ich will in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der
Zukunft leben«, wiederholte Scrooge, als er aus dem Bett
kletterte. »Die Geister von allen dreien sollen in mir lebendig sein.
Oh, Jacob Marley! Der Himmel sei dafür gepriesen und die
Weihnachtszeit! Ich sage es auf meinen Knien, alter Jacob, auf
meinen Knien.«
Er war von seinen guten Vorsätzen so durchflammt und außer
sich, daß seine bebende Stimme auf seinen Ruf kaum antworten
wol te. Während seines Ringens mit dem Geist hatte er bitterlich
geweint, und sein Ges icht war noch naß von den Tränen.
»Sie sind nicht herabgerissen«, rief Scrooge, eine der
Bettgardinen an die Brust drückend, »sie sind nicht
herabgerissen. Sie sind da, ich bin da, die Schatten der Dinge,
die da kommen, können vertrieben werden. Ja, ich weiß es, ich
weiß es gewiß.«
Während dieser ganzen Zeit beschäftigten sich seine Hände mit
den Kleidungsstücken: er zog sie verkehrt an, zerriß sie, verlegte
sie und machte damit allerhand tolle Sprünge.
»Ich weiß nicht, was ich tue«, rief Scrooge in einem Atem
weinend und lachend und mit seinen Strümpfen einen wahren
Laokoon aus sich machend. -
»Ich bin leicht wie eine Feder, selig wie ein Engel, vergnügt wie
ein Schulknabe, schwindlig wie ein Trunkener. Fröhliche
Weihnachten allen Menschen! Ein glückliches Neujahr der
Weihnachten allen Menschen! Ein glückliches Neujahr der
ganzen Welt! Hal o! Hussa! Hurra!«
Er war in das Wohnzimmer gesprungen und blieb jetzt drin ganz
außer Atem stehen.
»Da ist die Schüssel, in der der Haferschleim war!« rief Scrooge,
indem er um den Kamin herumhüpfte. »Da ist die Tür, durch die
Jacob Marleys Geist hereinkam, da ist die Ecke, wo der Geist
der diesjährigen Weihnacht saß, da ist das Fenster, wo ich die
ruhelosen Geister sah! Es ist alles richtig, es ist alles wahr, es ist
al es geschehen. Hahahaha!«
Für einen Mann, der so lange Jahre aus der Gewohnheit war,
mußte man es wirklich ein vortreffliches Lachen nennen, ein
herrliches Lachen. Es war der Vater einer langen, langen Reihe
herrlicher Lachsalven!
»Ich weiß nicht, den Wievielten wir heute haben«, rief Scrooge.
»Ich weiß nicht, wie lange ich unter den Geistern gewesen bin.
Ich weiß gar nichts. Ich bin wie ein neugeborenes Kind. Es
schadet nichts. Ist mir einerlei. Ich will lieber ein Kind sein.
Hallo! Hussa! Hurra!«
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Er wurde in seinen Freudenausbrüchen von dem Geläut der
Kirchenglocken unterbrochen, die ihm so fröhlich zu klingen
schienen, wie nie vorher. Bimbam, kling-klang, bim-bam. Nein,
schienen, wie nie vorher. Bimbam, kling-klang, bim-bam. Nein,
es war zu herrlich, zu herrlich!
Er lief zum Fenster, öffnete es und steckte den Kopf hinaus.
Kein Nebel: ein klarer, lustig-heller, frischfroher Morgen, eine
Kälte, die dem Blut einen Tanz vorpfiff, goldenes Sonnenlicht,
ein himmlischer Himmel, lieblich-erquickende Luft, fröhliche
Glocken. O wie herrlich, wie herrlich!
»Was ist denn heute für ein Tag?« rief Scrooge einem Knaben in
Sonntagskleidern zu, der unterm Fenster stand.
»Wie?« fragte der Knabe mit der al ergrößten Verwunderung.
»Was ist heut' für ein Tag, mein Junge?« fragte Scrooge.
»Heute?« antwortete der Knabe. »Nun, Christtag.«