- -
- 100%
- +
• Der Weg selbst ist letztlich ein innerer Weg, auf dem das bisherige Selbstverständnis stirbt und ein neues erwächst, das ausgerichtet ist auf eine unbedingte und freilassende Liebe.
Ihre Sehnsucht führt die drei Magier zu Jesus. So dürfen auch wir hoffen, zu ihm geführt zu werden und durch ihn zwei Dinge zu erfahren: erstens, noch etwas mehr über die Erfüllung unserer Sehnsucht, auch wenn damit zu rechnen ist, dass diese sich letztlich nicht angemessen in Worte fassen lässt. Und, zweitens, vor allem: mehr über den Weg zur Erfüllung der Sehnsucht.
1 Bibeltexte werden stets kursiv gesetzt und stammen aus der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Katholische Bibelanstalt, vollständig überarbeitete Auflage, Stuttgart 2016. […] bedeuten Umstellungen im zitierten Bibeltext, […] Hinzufügungen des Autors.
2 Aus: Geist und Leben Nr. 43, 1970.
3 Rumi, Das Lied der Liebe, S. 105.
I. Entstehung und Bedeutung des Osterglaubens
In der Mitte des Christlichen steht eine Person: Jesus aus Nazareth, sein Leben, sein Wirken, seine Lehre, sein Ende in Jerusalem. Wohltäter der Menschheit, Wunderheiler, Weisheitslehrer und Propheten hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Was Jesus aus ihrer Reihe heraushebt und einzigartig macht, ist eine 2000-jährige Tradition, die von ihm behauptet, er sei aus den Toten auferweckt worden und eins mit Gott. So habe er die Erfüllung der Menschensehnsucht erreicht, die über alles Irdische hinausgeht: die vollkommene Einheit mit dem geheimnisvollen Grund aller Wirklichkeit. Deswegen steht bei der Suche nach dem Kern des Christlichen im Mittelpunkt des Interesses die Frage, wie seine Zeitgenossen zur Erkenntnis seiner Auferstehung gelangt sind und welche Bedeutung sie für ihr Leben und ihre Suche nach Erfüllung – und damit auch für uns – hat.
Für diese Frage sind die Evangelien die wichtigste Quelle. Diese sind zwar keine Geschichtsschreibung, sondern Glaubensverkündigung. Doch kann auch eine Verkündigung es sich nicht leisten, vor noch lebenden Zeitzeugen Jesu grobe historische Unwahrheiten zu behaupten. Wenn die Evangelien auch erst 40 Jahre und mehr nach Jesu Tod erschienen sind, reichen sie doch viel näher an seine Zeit heran, weil sie sehr viel ältere Traditionen verarbeiten. Deswegen können die historischen Aussagen der Evangelien nicht in Bausch und Bogen als unglaubwürdig abgetan werden. Werden sie kritisch gewogen, dann tritt uns in ihnen folgende geschichtliche Gestalt des Jesus von Nazareth entgegen.
1. Der historische Gehalt des Lebens Jesu
Jesus – der Name bedeutet „Gott hilft“ – wurde in Bethlehem zur Zeit des Königs Herodes, nach heutiger Rechnung etwa 6 v. Chr. (Mt 1–2; Lk 1–2) in der Familie des Handwerkers Joseph geboren. Seine Mutter ist Maria. Über Kindheit und Jugend Jesu ist nichts Sicheres bekannt. Jesus übte den Beruf eines Zimmermanns aus (Mk 6), bis seine Taufe durch Johannes im Jordan, die alle Evangelien berichten (Mt 3; Mk 1; Lk 3; Joh 1) und die als historisch gesichert gelten darf, seinem Leben eine Wende gibt: Er beginnt umherzuwandern und öffentlich zu wirken, vor allem um den See Gennesaret herum, dann auch im Raum Galiläa und in den angrenzenden heidnischen Gebieten, in Samarien und Jerusalem. Diesen geographischen Rahmen bezeugen alle vier Evangelien, jedoch mit unterschiedlicher Füllung und unterschiedlicher Dauer: Die synoptischen Evangelien von Markus, Matthäus und Lukas4 sprechen von einem Jahr, das Johannesevangelium von zwei bis drei Jahren. Von dieser Zeitspanne handeln die Evangelien.
Jesus war Jude. Am religiösen Leben nimmt er teil. Wir finden ihn in den Synagogen und im Tempel in Jerusalem. Darüber hinaus tritt er an die Öffentlichkeit mit der Botschaft, dass das Reich Gottes in seiner Person nahegekommen ist. Auf dieses Reich als vollendetem Heil für alle hoffte ganz Israel. Viele konnten es im Wirken Jesu erleben: In der Weise, wie er predigte, wie er sich anderen zuwandte, vor allem gesellschaftlich abgewerteten Personen wie Kranken, Aussätzigen, Zöllnern und Sündern, Frauen und Kindern, einfachen Arbeitern, so dass Kranke gesundeten und Belastete aufatmen konnten. Er fand Anhänger und berief zwölf von ihnen in seine Nähe. Sie zogen mit ihm umher. Er lehrte sie und setzte sich mit ihnen, vor allem den Zwölfen, besonders auseinander. Der Anspruch, den die Verbindung seiner Botschaft mit seiner Person erhob, schuf ihm von Anfang an Gegner und führte schließlich zu seinem Tod, verraten von einem der Zwölf. Jesus hat diesen Tod aus Treue zu seiner Sendung und in der Hoffnung auf seine Auferstehung angenommen. Sein Tod am Kreuz „unter Pontius Pilatus“ (Mt 24; Mk 15; Lk 23; Joh 19) ist das sicherste Datum seiner Biographie: der 14. oder 15. Nisan (7./8. April) des Jahres 30 (oder 33). Jesus wurde hingerichtet als „König der Juden“, d. h. als politischer Aufrührer, der er aber nicht war.
Bemerkenswert ist, dass die Jesus-Bewegung damit nicht in Bedeutungslosigkeit versinkt, wie das üblicherweise der Fall ist: Anhänger wandern ab, die Bewegung zersplittert sich in Macht- und Richtungskämpfen. Auch wenn noch eine Weile ein fanatisiertes Grüppchen von sich reden macht, verliert es seine Basis in der breiten Bevölkerung. Hier aber ist das Gegenteil der Fall: Die restlichen elf Apostel bleiben nach Jesu Tod nicht nur mit weiteren Jüngern und Jüngerinnen Jesu zusammen, sie beginnen nun ihrerseits öffentlich aufzutreten und zu verkündigen, dass Gott … ihn zum Herrn und Messias gemacht [hat], diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt (Apg 2,36). Diese Botschaft wird mit erstaunlichem Einsatz und Mut verbreitet. Ihre Verkündiger scheuen weder vor Mühsal und Gefahren noch vor Haft und Strafen zurück. Sie finden Zulauf, zunächst in Israel, dann auch bei Nichtjuden im ganzen Römischen Reich. Der Kern ihrer Botschaft ist, dass Jesus in noch nie da gewesener und unüberbietbarer Weise Gott vermittelt. Da keiner von uns Gott schauen kann, das verborgene und unverfügbare Geheimnis aller Wirklichkeit, sind wir auf eine Vermittlung angewiesen, in der es sich authentisch mitteilt. Genau dies ist in Jesus geschehen: Und das Wort, durch das alles geworden ist, ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt (Joh 1,3.14). Das ist der Kern des Osterglaubens und der Verkündigung der Jünger. Deswegen nennen sie Jesus auch „Sohn Gottes“.
4 Diese drei heißen deswegen so, weil man sie „zusammenschauen“ kann, da sie, grob gesprochen, folgendermaßen aufgebaut sind:
Mt ≈ Mk + Q + mt. Sondergut
Lk ≈ Mk + Q + lk. Sondergut
Dabei haben Mt und Lk ihre Quellen Mk und Q, die sogenannte Logienquelle, die vor allem Redetexte beinhaltet, jeweils bearbeitet.
2. Nachfolge – ein Abenteuer voll Ambivalenz und Spannung
Wir verlassen mit dieser Thematik den Bereich der historisch sicheren Fakten und wenden uns den Erfahrungen von Menschen mit Jesus zu, die die Evangelien berichten. Wie gesagt, sind diese nicht frei erfunden, doch ist ihre Darstellung eingefärbt von der Deutung des Geschehens aus dem Glauben heraus und von der Absicht, diesen Glauben den jeweiligen Adressaten zu verkünden.
Etliche junge Männer verließen damals ihre Familien aufgrund der materiell aussichtslosen Lage: Manche gingen in die Berge Galiläas, um gegen die Unterdrückung durch die Römer und die Ausbeutung der Landbevölkerung durch reiche Städter zu kämpfen; andere gingen ins Ausland, wo sie sich ein besseres Leben erhofften. Die Männer und Frauen, die Jesus folgen, spricht seine Botschaft an, dass eine große Wende bevorsteht, die Gott bewirkt: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium (Mk 1,15). Sie nehmen in Kauf, ihre Familien einer Arbeitskraft zu berauben und sie in Trauer, Schmerz und manchmal auch Zorn zurückzulassen. Sie erleben, wie durch Jesus Kranke gesund werden, Blinde wieder sehen und Lahme gehen; Aussätzige rein werden und Taube hören; Tote aufstehen und den Armen das Evangelium verkündet wird (Mt 11,5). Das Wirken Jesu erfüllt nicht nur diese Verheißungen des Propheten Jesaja (Jes 42,6f; 61,1); es lässt das Reich Gottes, das Jesus verkündigt, hier und jetzt Wirklichkeit werden. In Jesu respektvoller, mitfühlender und annehmender Zuwendung können Arme sich aufrichten, innerlich freier werden, Hoffnung und Selbstvertrauen schöpfen und zu Selbstachtung und neuem Lebensmut finden. Die Begegnung mit Jesus befreit Menschen von ihren Dämonen, von Zwängen und Obsessionen (Mt 12,28). Seine Predigten vermitteln den Zuhörern Größe und Würde, wenn er ihnen z. B. das erhabene Ethos von Edlen zutraut: Immer wieder vergeben! Frauen als Personen achten! Auf Vergeltung verzichten! Selbst Feinde lieben! Sich keine Sorgen um Essen, Trinken und Kleidung machen! … (Mt 5–6). Jesus vermag das Herz der Menschen zu erreichen und ihre tiefste Sehnsucht zu berühren, wenn er etwa die Armen, die Hungernden und die Weinenden seligpreist oder Gott mit einem Vater vergleicht, der seinem gescheiterten Sohn entgegengeht und ihn annimmt, ohne ihm seine Verfehlungen vorzuhalten. Er vertraut darauf, dass die große Wende nicht durch Macht und Gewalt, sondern durch Gott herbeigeführt wird, der den Samen des Reiches Gottes in den Menschen wachsen, reifen und Frucht bringen lässt (Mk 4,26). So kommen seine Jünger zur Überzeugung, dass Jesus der von vielen Zeitgenossen herbeigesehnte Messias ist, der Israel erlösen werde (Lk 24,21).
MESSIAS
Was sich die Jünger unter diesem Titel vorstellen, ist nicht leicht zu sagen, da die alttestamentlichen Messiasvorstellungen keine eindeutige Gestalt umreißen und im Frühjudentum noch stärker auseinanderdriften. In der Zeit ab etwa 150 v. Chr. wuchs unter den Frommen die Hoffnung auf die Wiederherstellung der Theokratie mit einer Doppelspitze: ein Hoherpriester aus priesterlichem Geschlecht und ein König aus dem Haus Davids. Beide haben sie die Aufgabe, die Sünder im eigenen Volk zu züchtigen und Jerusalem von den Heidenvölkern zu reinigen. In den Qumrantexten, Zeugnissen des antiken Juden- und frühen Christentums aus den Jahren 250 v. Chr. bis 40 n. Chr., sind dagegen geistliche Würde und weltliche Kriegsführung auf die beiden Führer aufgeteilt: Während der priesterliche Gesalbte Sühne für das Volk schafft und es belehrt, richtet der als Spross Davids bezeichnete königliche Messias die Königsherrschaft Israels wieder auf. Auf diesen bezieht sich die Weissagung Bileams, eines auch außerbiblisch bezeugten heidnischen Propheten zur Zeit des Mose (Num 24,17): Ich sehe ihn, aber nicht jetzt; ich schaue ihn, aber nicht von nahem. Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Zepter aus Israel aufkommen und wird zerschmettern die Schläfen der Moabiter und den Scheitel aller Söhne Sets. Der königliche Messias ist zwar dem priesterlichen Gesalbten nachgeordnet, doch ist zur Zeit Jesu angesichts der realen Verhältnisse, d. h. der Herrschaft des fremdstämmigen Herodes und der römischen Vormacht, der kriegerische Messias aus dem Hause David in den Vordergrund getreten. Es liegt nahe, dass die Jünger Jesu im Großen und Ganzen im Mainstream der Erwartung eines politischen Messias lagen, der die Römer vertreibt, für Gerechtigkeit und Wirtschaftswachstum sorgt, alles zum Guten wendet und das Volk sammelt und heiligt. Damit ein aus den Menschen geborener Messiaskönig diese Mission erfüllen kann, geht die Apokalyptik (siehe S. 32) noch einen Schritt weiter: Sie verschmilzt den politischen Messias mit der himmlischen Gestalt des Menschensohnes (Dan 7), der nach dem Sieg, den Gott herbeiführt, ewige Herrschaft über alle Völker bekommt.
AMBIVALENZ
Bei diesen Perspektiven liegt es nahe, dass die Jünger die Frage beschäftigt, was es ihnen persönlich „bringt“, dem Messias nachzufolgen: Wenn die Welt neu geschaffen wird und der Menschensohn sich auf den Thron der Herrlichkeit setzt, werdet ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israel richten. Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen (Mt 19,28f). Bei dieser Perspektive ist es kein Wunder, dass die Zwölf über ihren Rang in der Gruppe der Apostel nachdenken, Konkurrenten von „außen“, die sich nicht den Mühen und Spannungen der Nachfolge unterziehen, ausschließen wollen (Mk 9) und sich wünschen, zur Rechten und Linken des Messias zu herrschen, wenn dieser die Macht in Israel übernimmt (Mk 10).
Großartige Horizonte also auf der einen Seite. Auf der anderen Seite aber war der Weg mit Jesus immer wieder verunsichernd, eine Infragestellung der Vorstellungen der Jünger und alles andere als bequem. Er ist ein Stück Passion, in der ein Jünger Jesu grundsätzlich lebt: das Ertragen einer grundsätzlichen Ambivalenz. Eigentlich ist Ambivalenz ein Grundprinzip des Menschseins schlechthin. Es zu bejahen bedeutet, Spannung auszuhalten. Das vermeiden wir Menschen gerne. Die Jünger müssen es bei Jesus jedoch lernen: Sie folgen einem Mann nach, der selber nichts hat, der auf Mildtätigkeit und Gastfreundschaft angewiesen ist. Wie er haben auch sie keinen Ort, wo sie ihr Haupt hinlegen können. Tun, wozu man Lust hat, und das Leben genießen sieht anders aus. Also heißt es, sich in den Rahmen zu fügen und das „Sowohl … alsauch …“ auszuhalten. Jesu Klarheit und Wahrheit fordern sie heraus: Immer wieder schilt er sie wegen ihres kleinen Glaubens, wenn sie sich z. B. Sorgen ums Essen oder ums Übernachten (Lk 9,56) machen. Oder er deckt ihren Wunsch nach Ansehen und Position auf (Mk 9,33), dem er entgegenhält: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein (Mk 9,35), statt andere zu unterdrücken oder seine Macht zu missbrauchen, wie es bei denen üblich ist, die Macht und Ansehen besitzen (Mk 10,42f). Und dann stellt er ihnen auch noch ein Kind, ein nutzloses, Kinderkrankheiten ausgesetztes und deshalb dem Tode nahes, damals gering geschätztes Kind vor Augen: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen (Mt 18,3). Schluss damit, sich selbst dadurch aufzubauen, dass man auf andere herabblickt und den Splitter in ihrem Auge findet oder sie für seine Zwecke gebraucht: für seine Lust, seinen Profit, seine Bequemlichkeit.
Jesu Verkündigung konnte manchmal hart sein: Dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als ein Reicher ins Reich Gottes gelangt (Mk 10,25), jagt den Jüngern Schrecken ein: Streben nicht alle nach Sicherheit und nach dem Besitz der dazu nötigen Mittel? Da müssen sie auch um sich selbst fürchten, auch wenn sie alles verlassen haben, um Jesus nachzufolgen. Oder folgendes Wort aus der sogenannten Brotrede (Joh 6,53f): Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag. Viele konnten dieses Wort nicht verstehen – sollte das eine Anleitung zum Kannibalismus sein? – und wenn sie es verstanden, konnten sie nicht akzeptieren, dass das ewige Leben, das sie suchten, nur über Gleichwerden mit Jesu Tod zu finden sein sollte. Um den Tod zu finden, waren sie doch nicht mit Jesus gegangen: Sie wollten Leben in Fülle! So verließen ihn viele, die bisher mit ihm gewandert waren. Die Zwölf blieben, aber kaum unbeschwerten Herzens.
Oft verstanden sie ihn nicht: Wieso wehrte er ab, als Messias bezeichnet zu werden? Seine Gleichnisse musste er ihnen ebenso privat erklären wie sein Verständnis der damals von den Pharisäern gepushten kultischen Reinheit: Die wirkliche Unreinheit vor Gott kommt von den bösen Regungen des Herzens. Nicht der Dreck an Händen und Schüsseln trennt den Menschen von Gott, sondern Taten aus inneren Impulsen, in denen einer das Seine auf Kosten anderer sucht. Sie verstanden nicht, wieso Jesus die Gefährlichkeit der Lehren der Pharisäer und des Herodes mehr beschäftigte als die unmittelbar bedrängende Frage nach dem täglichen Brot für sie selbst (Mk 8,15). Nicht nur die synoptischen Evangelien, auch das Johannesevangelium lässt immer wieder durchblicken, dass die Jünger mit ihrem Verständnis Jesus hinterherhinken: Philippus möchte den Vater gezeigt bekommen und Jesus reagiert mit einer Spitze: Schon so lange bin ich bei euch und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen. Wie kannst du sagen: Zeig uns den Vater (Joh 14,9). In den sogenannten Abschiedsreden im Johannesevangelium (Joh 14–16), dem letzten Zusammensein mit Jesus, wollen die Jünger die letzte Gelegenheit nutzen, ihre offenen Fragen zu klären (Joh 14,5.8.22; 16,5.17), und glauben schließlich, Jesus nun endgültig zu verstehen. Doch erweist sich auch diesmal ihr Verstehen als vorläufig, und es hat auch nicht die Kraft in sich, dass sie in der Versuchung bei ihm bleiben können (Joh 16, 31f). Denn der Jünger muss immer weiter wachsen, um die Botschaft Jesu immer mehr tragen zu können (Joh 16,12). Ist das nicht merkwürdig, ja paradox, wenn eine frohe Botschaft getragen, ja ertragen werden muss? Das zu oberflächliche Erfassen oder gar Missverstehen von Wort und Person Jesu hat dann wohl eine Funktion, einen geheimen Zweck, der darin bestehen dürfte, keine Verunsicherung oder Angst ertragen zu müssen. Denn gründliches Verstehen setzt voraus, sich selber in Frage stellen zu lassen, dabei zu entdecken, dass manche eigenen Vorstellungen von der Welt einfach nicht stimmen, dass diesen entsprechende Bestrebungen Verfehlungen sind: Das kann das eigene Selbstverständnis schon sehr erschüttern, vielleicht es sogar sterben lassen.
Als Jesus den Weg nach Jerusalem einschlägt, spitzen sich Verunsicherung und Spannung der Jünger zu. Ja, eine gewisse Entfremdung tritt ein. Doch die Jünger bleiben dennoch bei ihm. Der Zwiespalt beginnt damit, dass Jesus ihnen offen mitteilt, der Menschensohn müsse vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er werde getötet, aber nach drei Tagen werde er auferstehen (Mk 8,31). Spricht so ein Messias, der die Römer vertreiben und soziale Gerechtigkeit herstellen will? Das Wort vom „Auferstehen“ beschäftigt sie, und sie fragten einander, was das sei: von den Toten auferstehen (Mk 9,10). Sie verstehen es nicht, können es nicht in sich verankern. „Auferstehen“ muss ihnen deswegen aus dem Blick geraten und kann in ihrem Denken keine Rolle mehr spielen. Ihr Verständnis endet bei der Ankündigung des schmählichen Untergangs ihres Messias in Jerusalem. Das wäre der Zusammenbruch aller Hoffnungen der Jünger, der Zusammenbruch ihrer Vorstellung vom Messias.
AUFERSTEHUNG
Israel kannte vor dem Exil (587 bis 538 v. Chr.) in Babel keine Auferweckung der Toten. Die Verstorbenen waren in der Scheol in völliger Bewusstlosigkeit. Sie waren kraftlose, von Gott vergessene Schatten. Diese Auffassung änderte sich zunächst durch Exilspropheten wie Jesaja – Deine Toten werden leben, die Leichen stehen wieder auf; wer in der Erde liegt, wird erwachen und jubeln (Jes 26,19) – und Ezechiel – So spricht Gott, der Herr: Ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf. Ich bringe euch zurück in das Land Israel (Ez 37,12): Die Rückführung Israels aus dem Exil wird hier als seine Auferweckung begriffen. Die Weisheitsliteratur5 wird sie ab dem 2. Jh. v. Chr. als leibliche Auferstehung Israels deuten. Die frühjüdische Apokalyptik, die wesentlich mit dem um etwa 165 v. Chr. geschriebenen Danielbuch verbunden ist, kommt in ihrer Konzeption zu einer individuellen Auferstehung der Toten: Auf Grund der aggressiven Hellenisierung, die alles Jüdische unter Todesstrafe stellte, zerbrach die Gewissheit, dass Jahwe sein Volk immer beschützt. Da die schreckliche Gegenwart nicht zukunftsfähig sei, so der Prophet Daniel, kann die Zukunft nicht in Kontinuität zur Vergangenheit stehen. Gott, der allein die Zukunft bewirkt, werde daher die gegenwärtige Geschichte beenden und einen neuen Äon der himmlischen Vollendung heraufführen, in den hinein Lebende und Verstorbene des Gottesvolkes gerettet würden. Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu. Die Verständigen werden strahlen, wie der Himmel strahlt; und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten. Du aber geh nun dem Ende zu! Du wirst ruhen und am Ende der Tage wirst du auferstehen, um dein Erbteil zu empfangen (Dan 12, 2f.13). An dieser Stelle begegnet erstmals der Gedanke einer individuellen Auferweckung der Toten durch Gott am Jüngsten Tag. Nur die eindeutig Bösen werden für immer Tote bleiben, alle anderen werden auferstehen, um individuell, je nach ihren Taten, gerichtet zu werden.
Im Hellenismus gab es keine begründete Hoffnung auf ein persönliches Weiterleben nach dem Tod, außer im Gedächtnis der Angehörigen. Er schrieb den Lebensgenuss deswegen groß: „Bäder und Liebe und Wein, sie richten uns freilich zugrunde, aber Bäder und Liebe und Wein sind das Leben“, war ein geflügeltes Wort. Jedoch kannte die griechische Mythologie Konzepte von Auferstehung in den Mysterienkulten und im Schicksal der Halbgötter Herakles, Asklepios, Dionysos, die nach ihrem Tod in den Himmel erhoben, unsterblich und vergöttlicht wurden, nachdem sie sich auf Erden verdient gemacht hatten. Die Sadduzäer, die Partei der Oberschicht und der Priester, lehnte den Gedanken sowohl eines neuen Äons als auch einer Auferstehung der Toten ab. Anders die Pharisäer: Sie waren eher die Partei der kleinen Leute und erhofften eine Auferstehung aller Toten zum Jüngsten Gericht.
SPANNUNG UND ENTFREMDUNG STEIGEN
Zurück zu Jesus und seinen Jüngern: Wenn Jesus von Auferstehung sprach, mussten die Jünger also annehmen, dass er die Auferstehung am Jüngsten Tag meinte. Damit gerieten sie in ein Dilemma: Stand der Weltuntergang unmittelbar bevor und damit auch ihr eigener Tod? War das aber nicht der Fall, was sollte dann Auferstehung bedeuten und was erbrachte sie für die Erwartung eines politischen Messias Jesus? Die Rede Jesu von seinem Ende und seiner Auferstehung musste die Jünger verwirren und verunsichern. Lieber wollten sie davon nichts wissen.
Insgesamt drei Versuche unternimmt Jesus nach den Synoptikern, um mit den Jüngern über sein Ende in Jerusalem und damit auch über den Konflikt mit Petrus ins Gespräch zu kommen: Petrus hatte auf Jesu erste Ankündigung seines Leidens und Todes in Jerusalem mit einer Zurechtweisung reagiert: Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen! (Mt 16,22). Da fährt Jesus ihn an: Tritt hinter mich, du Satan! Ein Ärgernis bist du mir, denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen (Mt 16,23). Ja, natürlich, wir Menschen wollen Leiden für uns selbst und unsere Lieben auf alle Fälle vermeiden. Gott etwa nicht auch? Für Petrus und die anderen Jünger muss sich hier ein erschreckender Abgrund auftun, in dem ihre und unsere Vorstellung eines „lieben Gottes“ schlicht untergeht. Kein Wunder, dass die Jünger sich auf dieses Thema nicht einlassen. Sie blocken ab. Ob die „Drei“-Zahl hier tatsächlich die konkrete Anzahl der Leidensankündigungen Jesu bedeutet, ist fraglich. Eher könnte gemeint sein: Immer wieder macht Jesus Anläufe, bis er die Aussichtslosigkeit einsieht, mit den Jüngern über sein Ende sprechen zu können, und seine Versuche dann aufgibt. Wer aber das Gespräch verhindert, sorgt für Spannung in der Beziehung. Er bekommt an dem, was den anderen bewegt, keinen Anteil mehr und entfremdet sich ihm.
Allerdings gibt es auf der anderen Seite immer wieder Ereignisse, die die Jünger als Bestärkung ihres Glaubens an den politischen Messias auffassen: Hatten doch drei von ihnen Jesus in göttliches Licht getaucht im Dialog mit Mose und Elija auf dem Berg der Verklärung gesehen und die Stimme aus der Wolke gehört, die ihn ihren geliebten Sohn nennt, auf den die Jünger hören sollen (Mk 9,2–10). Oder als Jesus als messianischer Friedenskönig in Jerusalem einzieht und die Leute rufen: Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn! Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David, das nun kommt. Hosanna in der Höhe! (Mk 11,9). Das war doch Wasser auf die Mühle ihres Messiasverständnisses. Gleichgesinnte und Gegner teilten ihre Vorstellung vom Messias Jesus, und seine Ankläger werden diesen Einzug nutzen, um Jesus vor Pilatus als politischen Aufrührer hinzustellen. Als Jesus Händler und Käufer aus dem Tempel warf und die Stände der Geldwechsler und Taubenverkäufer umstieß mit den Worten: Heißt es nicht in der Schrift: mein Haus soll ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden? Ihr aber habt daraus eine Räuberhöhle gemacht (Mk 11,17) – war das nicht die Kampfansage des Messias an die Adresse der Hohenpriester und der Schriftgelehrten? Diese verstanden es jedenfalls so und suchten nach einer Möglichkeit ihn umzubringen. Denn sie fürchteten ihn, weil alle Leute von seiner Lehre sehr beeindruckt waren (Mk 11,15–19).