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Hannas Wunsch entspricht der Erziehung, die sie erfahren hat. Sie lebt in enger Gemeinschaft mit ihrer Mutter, die sie am Ende auch in das Schloss Guidos begleitet (390, 431–32). Über ihre Herkunft oder ihren Vater wird kein Wort verloren. Armut, Fleiß und Frömmigkeit der Mutter werden hervorgehoben, aber auch, dass sie – und Hanna mit ihr – in vielerlei Hinsicht auf die Hilfe der Nachbarn angewiesen ist. Schon das Häuschen wurde ihnen aus „Mildthätigkeit [...] eingeräumt“ (390,10). Hanna ist schon als Kind auffallend schön. Sie war „immer“ im Haus (390,30); denn die Mutter hielt sie von den Menschen fern. Wenn sie einmal fortging, sperrte sie das Kind sogar ein. Als es älter geworden war, erschien es beim Spiel der Kinder im benachbarten Pichlern, „allein es stand nur immer da, und sah zu, entweder weil es nicht mitspielen durfte, oder weil es nicht mitspielen wollte“ (391,4–6). Die wenigen Bemerkungen über Hannas Jugend kann man als Geschichte einer falschen Erziehung lesen.18 Es sieht so aus, als hätte schon die Mutter Hanna wegen ihrer Schönheit bewundert und verwöhnt, als hätte sie Hanna angehalten, sich für etwas Besonderes zu halten und Anspruch auf die Bewunderung oder gar Bedienung durch die anderen zu haben. So ist denn Hanna auch aufgetreten; immer war sie sonntäglich gekleidet, hat nicht gearbeitet und auf Distanz zu den anderen geachtet, die sie auch mit ihrer großen Reinlichkeit betont.19 „Söhne reicher Bauern“ (395,30) warben um sie und hätten sie gerne geheiratet, aber sie war an ihnen nicht interessiert.20
Auch dass Hanna die Farbe Weiß zugeordnet wird, zeigt, dass sie etwas Besonderes ist oder sein will: „Sie hatte immer ein weißes leinenes Tüchlein um den Busen, auf welches ihre dunklen Augen hinab schauten, und ihre noch dunkleren Wimpern hinab zielten.“ (395,6–8) Zudem lebt sie in einem weißen Häuschen zwischen dem Kreuzberg und Pichlern (389). Aber „schneeweiß“ (384,29) sind auch die beiden „Brunnenhäuschen“ (385,19–20) sowie das „Gnadenkirchlein“ am Kreuzberg (385,12).21 Überhaupt ist Weiß die Farbe der Feste: Die Kinder tragen bei festlichen Anlässen weiße Kleider,22 die Perücken der Herren beim Jagdfest sind weiß bestäubt.23 Mit ihrer Liebe zur Farbe Weiß signalisiert Hanna, dass ihr Leben ein einziger Sonntag sein soll.
Hanns dagegen lebt und arbeitet im Kreis der anderen Holzfäller. Seine Eltern sind „längstens gestorben“ (403,6–7). Als lebende Verwandte werden nur seine Schwester in Pichlern (403,5; 423,5) und später ihre drei Kinder (431–432) erwähnt; er ist ein „vorzüglicher Arbeiter“ (400,31–32), weiß sich aber auch gegen seine Gefährten durchzusetzen und ist unter ihnen „wie ein König“ (400,28); er bewährt sich also als Holzfäller und bleibt dabei „ordentlich“ im Rahmen seines Berufes und Standes. Doch indem er um Hanna wirbt, ist Hanns auch ehrgeizig. Diese wird von jungen Männern aus allen sozialen Schichten der Gegend umworben. Wenn Hanns mit Hanna auf einem Tanzfest war, „wo sie Viele sehen konnten, und wenn nun der eine oder andere junge Mann mit seinen Augen schier nicht von ihr lassen konnte, und stundenlang sie mit denselben gleichsam verschlang, so hatte Hanns seine außerordentliche Freude darüber und triumphirte“ (403,10–14). Seine Freundschaft mit Hanna bedeutet für Hanns einen Sieg über seine Rivalen und verschafft ihm Anerkennung und Geltung. Er sucht einen Ausgleich dafür, dass er eher unansehnlich ist: „Er war nicht der Schönste unter Allen, ja er war vielleicht weniger schön, als alle Andern ...“ (396,5–6)
Den ganzen Ertrag seiner Arbeit bekommt Hanna, „daß sie nichts entbehre und ihren Leib schmüken könne“ (396,17–18). Wie ihre Mutter lebt Hanna von der Hilfe anderer – eben des Hanns. Er versucht dabei mit ganzem Einsatz, auf Hannas Ehrgeiz einzugehen. Am Schluss von Teil 2 häufen sich die Superlative. Hanns „that Alles, was ihm sein Herz einflößte“ (404,19–29), um ihre Wünsche zu erfüllen: Der „schönste Maibaum“ (404,30), das „schönste Tuch“ (404,31), „die schönste Schürze“ (404,31–32), der „größte Palmbaum“ (404,32), der „schönste Strauß“ (405,1) werden genannt. Dabei ist Hanns kaum klar, wie begrenzt seine Möglichkeiten sind. Denn Hannas Traum von schönen und kostbaren Kleidern sprengt den Rahmen ihrer ländlichen Umgebung. Wohl deshalb verweigert sie sich den Bewerbungen der reichen Bauernsöhne und deshalb kann auch ihre Beziehung zu Hanns nur vorläufig sein.24 Vom Volk als außenstehendem Beobachter wird das durchschaut: „ ‚Die wird Gott strafen, daß sie so stolz ist‘, sagten oft die Leute, ‚und ihn, daß er so verblendet ist, und ihr Alles anhängt.‘ “ (402,30–32) Ist das nur Kritik an den beiden oder verbirgt sich dahinter auch Missgunst des Volkes gegen Hanns?
Auf ihre ehrgeizigen Hoffnungen spricht Hanna ihren Freund auch einmal an – gewissermaßen durch die Blume –, als sie ihn in Teil 2 fragt, „um was er denn am ersten Beichttage [...] gebeten habe“ (403,25–26). Hanns antwortet: „Ich habe um nichts gebeten ...“ (403,27) Hanna tadelt ihn dafür, denn das Gnadenbild sei „sehr wunderthätig und stark, und was man am ersten Beichttage mit Inbrunst und Andacht verlangt, das muß in Erfüllung gehen, es geschehe auch, was da wolle“ (404,2–4). Mit dieser Frage hat Hanna auf subtile Weise den Vorbehalt in ihrem Verhältnis zu Hanns angesprochen. Eigentlich fragt sie ihn: Bist du auch so ehrgeizig wie ich? Kann ich von dir die Erfüllung meiner Wünsche erwarten? Die Bedeutung dieses Gesprächs25 wird zudem durch formale Besonderheiten hervorgehoben: Hanna spricht in direkter Rede, die sich im „Tännling“ nur selten findet, zugleich sind es die letzten Worte, die von ihr berichtet werden. Weiter ist zu beachten: Jedes Mal, wenn Hanna in direkter Rede spricht, beruft sie sich auf die Macht des Gnadenbildes (393–394, 403–404), jedes Mal verteidigt sie gegen kritische Anfragen ihr Vertrauen auf das Gnadenbild. Das zeigt, wie unbeugsam sie an ihrer Erwartung, ihrem Lebensentwurf festhält, und welches Gewicht das Gnadenbild für sie und damit für die Erzählung hat.
Für die Ökonomie der Erzählung hat dieses Gespräch zwischen Hanna und Hanns zentrale Bedeutung. Es verweist schon – wenn auch für Hanns nicht durchschaubar – auf Hannas spätere Untreue. Erzähltechnisch ist dieses Gespräch ein geschickter Kunstgriff; es sorgt für die Geschlossenheit der Erzählung. Denn für Hanns wird Hannas Insistieren auf der Macht des Gnadenbildes in der Krise, in die er durch ihre Untreue gerät, zum entscheidenden Anstoß, um diese Krise zu bewältigen. Wenn er vor dem Gnadenbild um das Gelingen seines Mordplans betet, folgt er Hannas Rat. Das Gespräch am Anfang bezieht sich also auf den Schluss der Erzählung, wenngleich in verdeckter Form.
Auch die Gemeinsamkeiten von Hanna und Hanns sind zu beachten. Beide gehören zum „Dorf Pichlern“.26 Das „weiße Häuschen“ (389,28–29), in dem Hanna mit ihrer Mutter lebt, liegt „einsam am Rande der Weide“ (390,3) zwischen dem Kreuzberg und Pichlern, und so zählt sie zu den Bewohnern dieses Dorfes (391,4; 395,14). Hanns arbeitet zwar im Wald, aber in Pichlern lebt seine Schwester (423,4–5, vgl. 403,5). Während der Arbeit im Wald unter der Woche wohnt Hanns mit den anderen Holzknechten in einer Hütte,27 die genau beschrieben wird.28 Eine Randbemerkung zeigt, dass auch andere Waldbewohner in Hütten leben (429,7). „Hütte“ ist das Wort für die Wohnstätte der Waldarbeiter und -bewohner. Zum Sonntag kehren die Holzfäller in ihre „Heimath“ zurück (401,29; 402,10–11), offenbar zu ihren Familien. So macht es auch Hanns, wenn er zu Hanna in ihrem „weißen Häuschen“ kommt. Dieses Häuschen wird häufig erwähnt – 27 Mal.29 Es ist der Ort des gemeinsamen Lebens von Hanna und Hanns. Hervorgehoben wird, dass Hanns sonntags bei Hanna ist; fast nebenbei wird erzählt, dass die beiden auch zum Tanzen gingen, „wo sie Viele sehen konnten“ (403,10). Nur seine Schlafstelle hat Hanns in Pichlern bei „den Leuten, wo seine Schwester war“ (403,5). Hanna und Hanns teilen also schon die Lebensformen der Holzfäller zwischen Arbeit im Wald unter der Woche und Sonntagsruhe bei den Angehörigen im Dorf.30
Von den Dörfern Pernek und Pichlern ist der „Marktfleken Oberplan“ zu unterscheiden (382,33).31 Oberplan ist der Hauptort der Gegend in der Mitte eines Tales. Der Kreuzberg mit seinen verschiedenen Stätten liegt als einzelne Erhebung im Tal, aber nicht in Oberplan selbst; vielmehr „gleich hinter“ ihm (383,5). Die Wege, die von ihm nach Oberplan führen, werden ausführlich beschrieben (385,387–388). Oberplan ist Sitz des Pfarrers (391,26; 408,21) und der Schule (408,25); es hat ein Rathaus (408,27–28) sowie ein Gericht.32 Terminologisch wird hervorgehoben: Die Oberplaner leben in „Häusern“.33 Es ist davon auszugehen, dass auch viele Dienstleute des Grundherren hier leben: „... die Forstmeister, Revierjäger, Heger und Holzmeister“ (408,18–19). Oberplan ist Zentrum des Jagdfestes in den umliegenden Wäldern34 und es ist – solange der Grundherr sich in der Gegend aufhält – seine provisorische Residenz (408,27–30; 420,13–14).
Öfters wird Vorderstift erwähnt, eine Örtlichkeit im Weichbild von Oberplan, ein Grenzort zum Wald hin. Der herrschaftliche Förster, „in dessen Reviere der erste Jagdplaz lag“ (408,23–24), lebt dort, und auch die Herrschaften übernachten vor der Netzjagd im dortigen „Jägerhause“ (409,17–18), um „dem Jagdschauplaze näher zu sein“ (409,18). Das festliche „Mittagsmahl“ (415,9) nach der Jagd findet vor diesem Hause statt. Ebenso lebt in Vorderstift der alte Schmied,35 der erst von der Netzjagd in seiner Jugend zu erzählen weiß (406,19–21) und am Schluss das letzte Wort hat, um die Geschichte von Hanna und Hanns autoritativ zu deuten (432,23–25).
Es wird eine Differenz zwischen Oberplan und den Dörfern in seiner Umgebung angedeutet. Zuerst den Bewohnern von Oberplan wird der Glaube zugeschrieben, das Gebet zum Gnadenbild am Erstbeichttag werde „in Erfüllung gehen“ (391,11). Ebenso stammt der Blinde, der geheilt wird, aus Oberplan (386–387). Auch beeindruckt das Jagdfest besonders die Einwohner Oberplans; sie vor allem lassen sich von der Jagdgesellschaft verwirren. Die „Bewohner von Pichlern“ (419,23–24) dagegen sind vom Jagdfest weniger betroffen, weil sie „weniger in Berührung mit den Gästen kamen“ (419,24). – Dieser Teil hat den Rahmen skizziert, in dem sich die Geschichte von Hanna und Hanns abspielt. Um zu verstehen, warum sie dem Erzähler wichtig ist, sei von einer charakteristischen Wendung ausgegangen.
2. „Außerordentliche Schönheit“
In der Buchfassung des „Tännling“ findet sich an insgesamt zehn Stellen das Wort „außerordentlich“, das in der Journalfassung überhaupt nicht vorkommt. Es erscheint stets in Verbindung mit Hanna und der Jagdgesellschaft und empfiehlt sich daher als ein Schlüssel zur Interpretation der Buchfassung. Besonders charakteristisch ist die Wendung „außerordentlich schön“ bzw. „außerordentliche Schönheit“, die viermal vorkommt.
Zuerst bei der Milchbäuerin, „die wegen ihrer außerordentlichen Schönheit berühmt war. Sie trug immer die Milch, die sie den fernen Arbeitern auf einer Wiese zur Labung brachte, über den Kreuzberg. Weil sie aber den Worten eines Geistes kein Gehör gab, wurde sie von ihm auf ewige Zeiten verflucht“ (384,3–7). An ihrer Stelle stehen am Kreuzberg „die seltsamen Felsen [...], die noch jezt den Namen Milchbäuerin führen“ (384,8–10).
Mit folgender Bemerkung wird Hanna, ohne dass ihr Name genannt wird, in die Handlung eingeführt: „... ein Mädchen, [...] so außerordentlich schön, daß man sich kaum etwas Schöneres auf Erden zu denken vermag“ (390,27–29). Ebenso ist es bei Guido: „Da wollte es der Zufall, daß Hanna [...] neben einen außerordentlich schönen jungen Mann von vornehmem Stande zu stehen kam.“ (413,9–12) Auf dem abschließenden Tanzfest, an dem Hanna als Verlobte Guidos teilnimmt, heißt es schließlich von der adeligen Gesellschaft: „Die Herren und Frauen waren so schön, so außerordentlich schön, daß Alles, was man bisher gesehen hatte, nur ein Spielwerk und ein kindisches Ding dagegen war.“ (430,32–431,2)
Mit der Wendung „außerordentlich schön“ werden Zusammenhänge hergestellt, die den Leser leiten sollen. „Außerordentliche Schönheit“ ist es, die Hanna mit Guido zusammenführt und in die adelige Gesellschaft integriert. Sie ist für Hanna, Guido und die Jagdgesellschaft der Angelpunkt ihres Strebens und Handelns.
Hanna ist mit dem „Felsen der Milchbäuerin“ (386,1) ein Archetyp zugeordnet, der im Laufe der Erzählung mehrmals begegnet.36 Schon Hannas Gespräch mit ihren Gefährtinnen am Erstbeichttag, in dem sie vom Versprechen des Gnadenbildes erzählt, findet am Felsen der Milchbäuerin statt (393–394). Als Guido um Hanna wirbt, geht er mit ihr durch die Fluren; sie sitzen beide „auf den geraden und senkrechten Pfeilern des Felsens der Milchbäuerin“ (418,32–33) – vielleicht ein Bild für die abschüssige, gefährliche Situation, in die sie sich bringen. Man kann sagen: Die „außerordentlich schönen“ Gestalten stehen im Banne der Milchbäuerin, sie sind wie diese von einem Geist „verwunschen“ (384,8) und versteinert.
Noch an sechs anderen Stellen findet sich das Wort „außerordentlich“. Von Hanna wird erzählt, dass sie „außerordentlich reinlich“ ist (402,28). Wenn sie mit Hanns auf einem Tanzfest war, und andere Männer sie stundenlang beobachteten und „gleichsam“ mit ihren Augen verschlangen (403,13), „so hatte Hanns seine außerordentliche Freude darüber“ (403,13–14). Auf dem Heimweg danach umarmte sie ihn, „drükte ihn heiß an sich, sah ihn an und flüsterte gute Worte [..., und da war] eine außerordentliche unheimliche Seligkeit in ihm“ (403,17–19). Direkt anschließend erzählt ihm Hanna von der außerordentlichen Macht des Gnadenbildes (404,17). Die Ankunft der Jagdgesellschaft und das Jagdfest verwandeln das Volk, und „in Betracht der außerordentlichen Zeit“ (420,15–16) gibt der Grundherr seinen Holzarbeitern Urlaub, um sich das Jagdfest anzuschauen. Schließlich geschieht „das Außerordentliche [...]. Hanna wurde öffentlich als Guido’s Braut erklärt“ (430,11–13).
Die Wörterbücher unterscheiden zwei Bedeutungen des Wortes „außerordentlich“: 1) „... was außer der gewöhnlichen Ordnung ist oder geschieht“, 2) „ungewöhnlich“.37 Im Sinne dieser zweiten Bedeutung heißt es zweimal vom Volk: Es ist zum „Ungewöhnlichsten aufgelegt“ (413,29) bzw. es entsteht „eine ganz außergewöhnliche Stimmung“ (418,1–2). Doch es ist nicht sinnvoll, bei jeder Stelle zu fragen, welche Bedeutung das Wort hat. Fast ironisch spielt Stifter mit seiner Doppeldeutigkeit: Wer das Ungewöhnliche, das Besondere sucht, wird mit Konsequenz im Außer-ordentlichen enden, er wird die Grenzen der Ordnung sprengen – im moralischen und darin auch im sozialen Sinn.38
Es ist charakteristisch für Hanna, dass sie von Anfang an danach strebt, die Möglichkeiten, die ihr soziale Herkunft und dörfliche Gesellschaft einräumen, zu übersteigen. Einen reichen Hoferben zu heiraten, das wäre gerade noch möglich gewesen, so viel Anstoß es in der Nachbarschaft auch erregt hätte. Aber das genügt ihr nicht. Sie will mehr, so unwahrscheinlich das ist. Am Ende hat sie ihr Ziel erreicht. Sie ist dort angekommen, worum es ihr schon in ihrem Gebet am Erstbeichttag ging: in der Welt der Schönen, Angesehenen und Mächtigen. Auch Guido sprengt die Ordnung seines Standes, wenn er ein armes Dorfmädchen heiratet. Doch die Herren nehmen Hanna ohne Widerspruch in ihren Kreis auf. Am abschließenden Maskenball kann sie „schon [...] in dem kostbaren Gewande der vornehmen Frauen“ teilnehmen (431,8–9).39
Das Verständnis von Schönheit im „Tännling“ hat eine spezifische Eigenart. Der Gebrauch des Wortes „schön“ verbindet Schönheit und Kleidung.40 Körperliche Schönheit bedarf schöner, kostbarer Kleidung und vollendet sich in ihr. Das gilt schon für das Landvolk. Die Leute von Oberplan bemühen sich, schöne Kleider zu tragen – gerade auch Hanns.41 Hanna meint, mit ihrer Zuversicht einst „etwas sehr Schönes und sehr Ausgezeichnetes [zu] bekommen“ (394,11–12) – von Anfang an schöne Kleider. Hanns bemüht sich dann, ihr dazu und zu anderen schönen Dingen zu verhelfen.42 Dann erscheint die Jagdgesellschaft und mit ihr Guido.43 In ausgezeichneter Weise verbindet sich bei ihm körperliche Schönheit44 mit schöner Kleidung45 und schönen Gegenständen.46 Entsprechend erhält Hanna zur Verlobung von ihm schöne Kleider und Schmuck.47 Auch seine Standesgenossen legen Wert darauf, sich „gepuzt“ darzustellen.48 Bei der Netzjagd erscheinen sie „alle in vollem Puze“ (410,33), dessen Pracht ausführlich beschrieben wird. Ebenso sind die Zuschauer „sonntäglich gekleidet“ (411,23). Im überwältigenden Glanz des abschließenden Maskenballs stellt die Jagdgesellschaft ihre Schönheit bzw. ihre prachtvolle Kleidung zur Schau.49
Es sei auch darauf hingewiesen, dass Hanna eigentlich eine Schmarotzerin ist – wenngleich im „Tännling“ solche moralischen Wertungen fast ängstlich vermieden werden. Statt zu arbeiten, verlässt sie sich auf ihre Schönheit; erst hat sie sich von Hanns aushalten lassen, bei Guido ist es nicht anders. Diese Kritik trifft ebenso die Jagdgesellschaft; sie ist nur auf ihr Vergnügen aus. Das ganze Fest ist eine riesige Verschwendung; ein großer Tross von Dienern ist aufgeboten, um die Vergnügungs- und Geltungssucht der Herren zu befriedigen.
Der Zusammenhang zwischen körperlicher Schönheit, kostbarer Kleidung und sozialer Geltung interessiert die Erzählung besonders. Wie Hanna ihre Schönheit nutzt, um zu kostbarer Kleidung zu gelangen, so benutzen die Herren und Frauen ihre kostbare Kleidung dazu, um schön zu erscheinen und sich so ihrer sozialen Geltung zu vergewissern. Ein radikaler Angriff auf den Adel und seine gesellschaftliche Macht mag das nicht sein.50 Doch zumindest werden feudalistische Fehlhaltungen angegriffen, wird die Verknüpfung von körperlicher Schönheit – Ansehnlichkeit – und gesellschaftlichem Ansehen51 kritisch thematisiert. Herren und Volk, Hanna und anfangs auch Hanns sind beherrscht von einem Verständnis von Schönheit, das primär auf die äußere Schönheit – des Körpers und der Kleidung – eines Menschen schaut. Seine charakterliche Eigenart gerät dagegen nicht in den Blick. Schon das ist eine kritische Akzentuierung, denn bei Stifter gibt es eine Spannung zwischen äußerer Schönheit der Erscheinung und innerer, sittlicher Schönheit des Herzens; letztere hat eindeutig den Vorrang.
In der „Brigitta“ von 1843 beschreibt Stifter den schweren Lebensweg einer Frau, die von Jugend an unansehnlich ist und deren Ehe daran scheitert. Erst nach vielen Jahren kommt es zu einer Versöhnung der Gatten. Brigitta umarmt ihren Mann; der Erzähler kommentiert: „... und so herrlich ist das Schönste, was der arme, fehlende Mensch hienieden vermag, das Verzeihen – daß mir ihre Züge wie in unnachahmlicher Schönheit strahlten“ (HKG 1,5; 472, 27–30). Ihr Ehemann sagt: „Es zieht uns das Gesetz der Schönheit, aber ich mußte die ganze Welt durchziehen, bis ich lernte, daß sie im Herzen liegt.“52 Dieses Wort „Herz“ wird, wie weiter unten gezeigt wird, Hanna verweigert. Dagegen wird in der Nathalie des „Nachsommer“ eine junge Frau vorgestellt, bei der sich Schönheit der Erscheinung und des Herzens gegenseitig durchdringen. Von ihr heißt es: „Der Mund war hold und unsäglich gütig, sie schien mir unermeßlich schön.“53 Stifter kann definieren: „Das Schöne ist also das Sittengesez, in seiner Entfaltung und durch sinnliche Mittel wahrnehmbar.“54
3. Das Jagdfest und das Ansehen
Körperliche Schönheit führt zu sozialer Geltung; soziale Geltung strebt danach, sich als anschauliche, körperliche Schönheit darzustellen und zu legitimieren. Darum geht es beim Jagdfest des Grundherren. Es wird als ein großes Schauspiel aufgezogen, das Zuschauer braucht.55 Um Ansehen geht es dabei im doppelten, im ästhetischen und sozialen Sinn. Die Herren56 wollen angesehen werden, um sich ihres Ansehens zu vergewissern. Deshalb ist das Volk unverzichtbar. Durch sein Zuschauen soll es die Geltung der Herren bestätigen. Darin vollziehen und erfahren die Herren ihre Geltung. So sind die Bewohner von Oberplan nicht nur Zaungäste, die aus der Ferne dem Treiben der Vornehmen zuschauen dürfen, sondern wesentlicher, unverzichtbarer Teil des Festes. Bei der Netzjagd sind für sie Tribünen aufgeschlagen, „denn die Herren hätten es selber gerne, wenn viele Zuschauer kämen und ihre Kunst bewunderten“ (410,3–5). Das Volk lässt sich bereitwillig darauf ein. Es kamen „sehr viele zum Zuschauen [...], und ihre Augen und Mienen verriethen fast die brennende Neugierde und das klopfende Herz“ (411,20–22). Zwar wird erwähnt, dass sich die Bewohner von Oberplan in soziale Schichten teilen, aber alle freuen sich, dass die Herren so „sehr leutselig“ (418,10) sind und nehmen begeistert am Fest teil. Ebenso ist es beim abschließenden Maskenball: „Unermeßliche Zuschauermengen strömten von allen Gegenden zusammen.“ (430, 26–27) Ein prächtiges Gebäude aus Holz, Blumen und Illuminationen sorgte für den überwältigenden Glanz des Festes. Bislang waren die Herren und ihre Frauen beim Jagdfest vielfältigen Belustigungen nachgegangen. Nun ist es für sie der Höhepunkt aller Vergnügungen, sich in ihrer „außerordentlichen“ Schönheit dem Volk zur Schau zu stellen und von ihm bewundert zu werden.
Damit hat das Jagdfest Rückwirkungen auf das Volk. Sein „Vorstellungskreis“ (418,3) wird – im wörtlichen Sinn – „verrükt“.57 Alles geschieht „nach ganz anderem Maßstabe“ (419,20). „Es kam ihnen vor, als ob Jahrmarkt wäre, oder als ob Theaterspieler gekommen wären, oder als ob zur Fastnachtszeit Vermummungen aufgeführt würden.“ (418,4–6) Zusammenfassend heißt es: Alle hatten nur noch „schöne Kleider und Hoffahrt“ vor Augen (419,22).58 Campes „Wörterbuch“ definiert: Hoffart ist „derjenige Stolz, welcher sich durch äußeres Gepränge, Aufwand in Kleidung etc. äußert, also mit einem hohen Grade der Eitelkeit verbunden ist und sich mehr bei geringern Personen findet.“59 In diesem Wort „Hoffart“ fasst Stifter seine Kritik an Herren und Volk zusammen.
In den Partien der Teile 3 und 4, die das Jagdfest beschreiben, findet sich auffallend häufig das Wort „alle“ bzw. „allgemein“: „... und da das Vergnügen allgemein gewesen war, so redeten jezt auch Alle miteinander“ (413,8–9). Das Jagdfest wird als ein suggestives Geschehen beschrieben, das Herren und Volk gleichermaßen begeistert und zusammenführt – zu einer Einhelligkeit, die alle blendet.60
Folge dieser kollektiven Berauschtheit ist es, dass erst ein „Mann aus dem Volke“ (413,22–23), dann ihm folgend das ganze Volk „gleichsam mit einer Stimme“ (413,31), Hanna und Guido zum schönsten Paar ausruft. Diese Akklamation betrifft das Volk sowie Hanna und Guido auf je spezifische Weise. Schaut man auf das Volk, so spiegelt der spontane Ruf eine kollektive Stimmung, keinen rationalen, ernsthaften Plan. Das Fest hat das Volk ausgelassen gemacht; in seinem spontanen Ruf fasst es den Kult der Schönheit und die Tendenz zur Aufhebung der Standesunterschiede zusammen, die sich beim Fest zeigen. Schaut man auf Hanna, so ertappt sie dieser Ruf bei ihren tiefsten Wünschen und Erwartungen. Durch die Nähe des vornehmen Herrn, der sie mit „scharlachroth[em]“ Gesicht anblickt (414,1–2), sind ihre hochgespannten Erwartungen, die sie bei der Erstbeichte erstmals äußerte, nicht mehr völlig irreal.
Die Szene könnte ein lustiges Intermezzo bleiben, wenn Guido anders reagiert hätte. Aber er lässt sich von diesem Ruf leiten, er begehrt Hanna und heiratet sie sogar – offenbar, weil er zusammen mit ihr als das schönste Paar bewundert werden will. Sein ganzes Verhalten zeigt diese Orientierung an der Meinung und Anerkennung der anderen: Er fällt auf und will gefallen. Deshalb verstößt er gegen die gesellschaftlichen Konventionen. Er liebt es, „der allgemeinen Sitte zuwider“ zu handeln (413,13–14); er schießt riskant und beweist so, welch ein guter Schütze er ist; seine prächtige Kleidung sticht in die Augen, und unter den Herren ist einzig sein Haar ungepudert (413,12–17).61
Die Motivation von Hanna und Guido ist nur indirekt zu erschließen. Hannas Zuwendung zu Guido erscheint als Konsequenz ihres Verhaltens seit dem Erstbeichttag. Es wird kein Wort Hannas oder Guidos berichtet, mit dem sie ihre Heirat rechtfertigen; auch der Erzähler gibt keinen direkten Kommentar. Das entspricht Stifters Stil, dessen „Erzählstandpunkt“ sich strikt auf die „Außensicht“ beschränkt62 und damit auf die Allwissenheit des Erzählers verzichtet, also auf direkte Einblicke in das Innere seiner Personen, auf den Gebrauch psychologischer Kategorien, auf die Beschreibung von Bewusstseinsvorgängen wie Denken und Fühlen, schließlich auch auf den „auktorialen Kommentar“.63 Entsprechend werden die Emotionen von Hanna und Guido nur indirekt angesprochen. „Der menschliche Körper dient als Ausdrucksträger des Seelischen.“64 Angesichts der bewundernden Rufe des Volkes bei ihrer ersten Begegnung reagieren beide ähnlich: Sein Gesicht wird „scharlachroth“ (414,1–2); „ihr Antlitz gleichsam mit dem dunkelsten Blute übergossen“ (414,6–7). Hannas Verhalten wird noch weiter beschrieben: „Sie sah ihn eine Weile mit offenen Augen an, dann drängte sie sich unter das Volk und ging über die Treppe hinab. Ihr Benehmen war wie das einer Trunkenen.“ (414,7–9) Das Erröten der beiden und Hannas schwankender Gang machen deutlich, wie sehr sie der Ruf des Volkes getroffen hat.65 Diese knappe Beschränkung des Erzählers auf unwillkürliche, averbale Reaktionen wirkt eindringlicher als wortreiche Beschreibungen. Ähnlich wird nur in „Außensicht“ von der Werbung Guidos bei Hanna berichtet. Guido hat man „vor ihr im hohen Erlengebüsche auf den Knieen liegen gesehen, ihre Hand mit inbrünstigem Bitten haltend“ (418,20–22).66





