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Fangen wir – ganz jenseits der Attacken der Bildzeitung47 – mit den seriösen, wissenschaftlichen Veröffentlichungen an. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit hier zunächst einmal ein Blick auf die Titel einiger Publikationen zu China in den vergangenen 20 Jahren: „China – eine Weltmacht kehrt zurück“ (Konrad Seitz, 2000), „Herausforderung China“ (Wolfgang Hirn, 2005), „Das asiatische Jahrhundert“ (Karl Pilny, 2005), „Globale Rivalen – Chinas unheimlicher Aufstieg und die Ohnmacht des Westens“ (Eberhard Sandschneider, 2007) und natürlich die zeitweise im Jahresrhythmus veröffentlichten Bücher des Handelsblatt-Journalisten Frank Sieren wie zum Beispiel „Der China-Schock: Wie Peking sich die Welt gefügig macht“ (2008), „Zukunft? China!“ (2018). Gerade erschienen ist das Buch des Zeit-Korrespondenten Matthias Naß „Drachentanz. Chinas Aufstieg zur Weltmacht und was er für uns bedeutet“ (2021). Dazu kommen die Specials der Wochenblätter: „China – Aufstieg zur Weltmacht“ (2004) bzw. „China, die unberechenbare Supermacht“ (2008) und „Chinas Welt – was will die neue Supermacht“ (2011) (alle Spiegel), „Chinas Wirtschaft – Bedrohung oder Chance?“ (Fondsmagazin) usw.
Eine fast endlose Reihe mit der immer gleichen Fragestellung: Was bedeutet das „neue China“ für Deutschland und seine Erfolge auf dem Weltmarkt bzw. in der Staatenkonkurrenz? Das ist die offenbar selbstverständliche Fragestellung, mit der sich deutsche Wissenschaftler und ihre populären Dolmetscher einer „Länderanalyse“ zuwenden. Diese Wahrnehmung Chinas als neuer und mächtiger Konkurrenz veranlasst sie einerseits zu viel Hochachtung. Beeindruckende Wachstumszahlen und Exporttabellen, die PISA-Ergebnisse der Shanghaier Schüler, die Summen chinesischer Universitätsabschlüsse sollen zeigen, dass sich das Land mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit zum neuen Zentrum des Weltkapitalismus entwickelt. Und seit es das chinesische Projekt der „Neuen Seidenstraße“ gibt, überschlagen sich die Berichte über die gigantischen Investitionssummen. Zugleich verraten die verwendeten Vokabeln allerdings vor allem die vorherrschende Sorge: „Herausforderung“, „unberechenbar“, „Bedrohung“, „Schock“. Das ist aufschlussreich.
Offensichtlich ist es – nicht einmal auf der Ebene der Berichterstattung und Länderkunde – so, dass sich die deutsche Politik, Presse und die Bevölkerung unbefangen freuen, wenn es einem Land gelingt, Armut und Unterentwicklung hinter sich zu lassen. Erinnern wir uns einmal kurz an die seit den Siebzigerjahren gern propagierte Vorstellung von den „Entwicklungsländern“. Die sah bekanntlich so aus, dass sich die aus dem Kolonialismus entlassenen bzw. befreiten Staaten in den Weltmarkt integrieren sollten, um sich dort – mit Unterstützung der erfolgreichen westlichen Nationen – „zu entwickeln“, mit dem Versprechen, ökonomisch und politisch zu ihnen aufzuschließen. Und gerade vom maoistischen China – dem weltgrößten „Entwicklungsland“ – hatte der Westen jahrzehntelang verlangt, es solle von seinen sozialistisch-spinösen Ideen lassen. Jetzt, da sich das Land zum Kapitalismus gewendet hat und nach den Kriterien dieser ihm immerzu ans Herz gelegten Produktionsweise offenbar ziemlich vieles richtig macht und entsprechende Erfolge feiert; jetzt, da man es im Westen mit einem (dem einzigen!) „Entwicklungsland“ zu tun bekommt, das tatsächlich ökonomisch aufgeholt hat und den Nutznießern dieser Weltordnung auf Augenhöhe gegenübertritt – was geschieht? Wird China als Vorzeigeland und Modell für jene Länder gefeiert, die es „noch nicht geschafft“ haben? Keineswegs, im Gegenteil.
Offensichtlich war die Rede von den „Entwicklungsländern“ ein Teil der westlichen Propaganda im Kalten Krieg, als in der „dritten Welt“ noch ein sozialistischer Block mitmischte und der Westen sich etwas mühen musste, die jungen Staaten in Afrika und Asien auf seine Seite zu bringen. Das ist heute lange vorbei, also werden auch die entsprechenden Ideologien angepasst. Zweitens aber – und das ist das gewichtigere Argument: Weil in dieser Welt der Marktwirtschaft und Staatenkonkurrenz jeder Erfolg des einen letztlich auf Kosten anderer erfolgt, gibt der chinesische Newcomer neben allen Geschäftsmöglichkeiten, die er anderen eröffnet, ganz offensichtlich auch Grund zur Sorge um die eigenen Erfolgsaussichten und damit zur immer auch latent feindseligen Stellung zu ihm (und beweist damit übrigens auch, wie die westlichen Länder es immer gemeint hatten mit ihrer Heuchelei von der „Entwicklung“).
Die in der hiesigen Öffentlichkeit lancierte Fragestellung lautet generell ungefähr so: Ist der Erfolg, den dieses Land vorzuweisen hat und dem man seinen Respekt nicht ganz versagen kann, eigentlich mit rechten Dingen zustande gekommen? Die Antwort lautet wenig überraschend: nein, natürlich nicht! Denn, so ist allenthalben zu lesen: Der Produktivitätsfortschritt, der Chinas Weltmarkterfolge möglich macht, beruht zum großen Teil auf Industriespionage und purer Ausbeutung (von Mensch und Natur). Die Waren, mit denen das Land seine Devisen verdient, sind nach allen Regeln der Kunst kopiert, gefälscht und vielleicht sogar vergiftet! Die Geschäftsmöglichkeiten, die das Land unseren Unternehmen bietet, sind so gestrickt, dass die chinesischen Partner stets viel besser dabei wegkommen. Auf Dauer haben sich die chinesischen Kapitalisten so nicht nur ihren heimischen Markt gesichert (dessen Eroberung „wir“ offenbar fest für „uns“ verbucht hatten), sondern kommen uns jetzt auf allen Märkten dieser Welt in die Quere (was offensichtlich nicht in Ordnung ist, da „unser“ Besitzstand!).
Allgemein zielen diese Berichte auf das Urteil: Chinas Aufstieg kommt mit unlauteren Mitteln zustande. Seine Geschäftsleute agieren nicht kapitalistisch, sondern – es folgen bedeutsame Differenzierungen – „brutal“, „früh-“ bzw. „manchester-“ oder wahlweise auch „staatskapitalistisch“. Zu solchen Formulierungen greift, wer das Prinzip aus gutem Grund ungeschoren lassen, aber einen Vorbehalt gegen den Konkurrenten vorbringen will, der es erfolgreich anwendet.
Vor allem aber wendet man sich in seinem Ärger gegen den chinesischen Staat und die Führung seiner Kommunistischen Partei (KP). Zwar ist klar, dass man es einzig und allein dieser KP zu verdanken hat, dass die westlichen Geschäftsleute und Staaten mit China einen für sie inzwischen unverzichtbaren Zuwachs ihres Weltgeschäfts bekommen haben. Das hindert aber keinen westlichen Journalisten, genau in dieser KP ein eigentlich unerträgliches Hindernis zu sehen und sie dauernd zu attackieren – und das sicher ein ganzes Stück fundamentalistischer als diejenigen, die tatsächlich ganz praktisch Geschäfte in China machen oder mit der Regierung in Beijing zu verhandeln haben. Mit süffisantem Unterton werfen hiesige Journalisten der chinesischen „Kommunistischen Partei“ vor, dass es in ihrem Land schlimmste Ausbeutung, Korruption und soziale Missstände aller Art gibt. Vorgetragen wird das von denselben Leuten, die ihren lohnabhängigen Lesern und Zuschauern in Deutschland so gerne vorhalten, dass ihr Lebensstandard zu hoch, ihre (Lebens-)Arbeitszeit zu kurz und überhaupt die sozialstaatliche „Vollkaskomentalität“ von gestern sei.
Der schlimmste Vorwurf, den man gegen die KP vorzubringen hat, ist allerdings der, dass diese Partei ihrem Volk das Wählen verweigert, also jene Veranstaltung gelebter Demokratie, bei der Figuren antreten, die sagen, was ohnehin feststeht: Die Geschäfte der Unternehmen und Banken müssen (wieder) laufen, die Wirtschaft muss wachsen, und dafür müssen die entsprechenden Opfer vom Volk erbracht werden. Weil es die bei uns übliche Konkurrenz um das Personal der in der Sache alternativlosen Machtausübung in China nicht gibt (stattdessen andere Formen der Ämterbesetzung, vgl. Teil 2, Kapitel 9), lasse sich – so der allgemeine Tenor – der ganze Staat dort auf eines zusammenkürzen: Er unterdrückt, er ist (was man hierzulande an keiner gleichgearteten Maßnahme entdecken will) Gewalt gegen seine Gesellschaft – und dieses ziemlich eindimensionale Urteil lässt sich natürlich wieder unterschiedlich illustrieren:
Niemand braucht zu wissen, wie viele Zeitungen es in China gibt und schon gar nicht, was in ihnen drinsteht, um in einer Frage ganz sicher zu sein: In der Volksrepublik wird die Pressefreiheit mit Füßen getreten. (Umgekehrt wundert sich anscheinend niemand darüber, dass unsere freie Presse ganz ohne jede Zensur die immer gleichen Kommentare produziert – und das nicht nur zum Thema China.).
Jeder weiß, dass China gemein mit seinen Oppositionellen verfährt, ob mit seinem Nobelpreisträger Liu Xiaobo, dem Künstler Ai Weiwei oder den Demonstranten in Hongkong. Ganz im Unterschied zu hiesigen Verhältnissen, wo erklärte Systemgegner bekanntlich als willkommene Bereicherung des Meinungsspektrums aufgefasst und in jede TV-Talkrunde eingeladen werden.48
Während bei uns „islamische Fundamentalisten“ und ihre störenden Parallelgesellschaften völlig zu Recht ins Visier genommen, verfassungsrechtlich einwandfrei als Terroristen bekämpft und öffentlich diffamiert werden, stellen „wir“ uns in China ganz selbstverständlich auf die Seite der nationalen Minderheiten der Uiguren und Tibeter, deren separatistische Forderungen und gewaltsame Unruhen so eindeutig wie sonst nirgends auf der Welt gegen die böse Zentralgewalt sprechen.
Ökonomische Ausbeutung, rücksichtsloser Umgang mit der Natur, Korruption, ein ausgeprägtes staatliches Überwachungsbedürfnis und Repression gegenüber Oppositionellen und Separatisten, außenwirtschaftliche Expansion, militärische Aufrüstung (die ja nicht China erfunden hat, geschweige denn, dass es die größte Militärmacht ist) und geostrategische Positionierung, ja selbst die patriotische Begeisterung des Volks für seinen Staat (die man hier permanent einfordert) – im Falle China wird all das zum außerordentlichen Skandal stilisiert. Dabei weiß man selbstverständlich in den meisten Fällen sehr genau, dass es die genannten Hässlichkeiten in ähnlicher Form auch hierzulande gibt und Fälle offener Diskriminierung und politischer Unterdrückung spätestens bei den von Deutschland und der EU unterstützten „befreundeten Regierungen“ in Afrika, dem Nahen Osten und in Lateinamerika an der Tagesordnung sind. Doch das sind dann bloß „Ausnahmen“, korrigierbare Fehler, ist staatliches „Versagen“. In China dagegen desavouiert jeder einzelne Kritikpunkt ein für alle Mal „das System“ – zu verbessern ist da nichts, und „konstruktive Kritik“, die bei „uns“ ganz selbstverständlich jeder Form von Unzufriedenheit abverlangt wird, ist nicht angebracht.
Umgekehrt werden Fakten, die das negative Bild dieses Staats etwas ins Wanken bringen könnten, nicht so gerne in den wichtigen Medien thematisiert. Chinas außerordentliche Erfolge bei der Bekämpfung absoluter Armut oder bei der Zurückdrängung von Wüsten durch Aufforstung passen offenbar nicht so richtig in das Bild, das die Mainstream-Medien vermitteln wollen.49 Ebenso wenig wollen deutsche Journalisten sich und ihr Publikum im Falle Chinas mit Analysen und Hintergrundinformationen belasten, die das klare Bild von der bösartig-repressiven Staatsmacht 50 gegen liebenswerte Uiguren oder Hongkonger Studenten erschüttern könnten. Die Redaktionen der großen Medienhäuser könnten leicht auch selbst herausfinden, was einige linke Journalisten recherchiert haben: Terroristische Aktionen uigurischer Fundamentalisten, deren geistige Führer als „Exilregierung“ seit den 1970er-Jahren in München sitzen; die zweifelhaften Ziele und das rüde Vorgehen der Demonstranten in Hongkong (Erstürmung und Verwüstung des Parlamentsgebäudes. Man vergleiche einmal die Berichterstattung zum „Sturm auf das Capitol“, der „Herzkammer der amerikanischen Demokratie“!); die Merkwürdigkeiten um die dortige Galionsfigur Joshua Wong, der seit bereits fünf Jahren Verbindungen zu US-amerikanischen Thinktanks und zur CIA unterhält.51
Einige Bemerkungen zu den Uiguren
Mit den „China Cables“, geleakten Dokumenten chinesischer Behörden über staatliche „Umerziehungslager“ für Uiguren im westchinesischen Autonomen Gebiet Xinjiang, wurde seit Ende 2019 die Behandlung der uigurischen Minderheit durch den chinesischen Staat zum Thema der „Weltöffentlichkeit“ gemacht. Seitdem gelten Vorwürfe in dieser Frage als mehr oder weniger „bewiesen“; sogar von „Konzentrationslagern“ ist immer wieder die Rede. Der Journalist Jörg Kronauer schreibt dazu, dass die „China Cables“ in der Tat bestätigen, dass „Menschen in den Lagern ohne gerichtliches Urteil, gegen ihren Willen und über lange Zeit festgehalten, zur Veränderung ihres Verhaltens veranlasst und penibel überwacht werden.“ Aber: „Weitere Vorwürfe, insbesondere den, dass in den Einrichtungen Gewalt und Folter angewandt würden, belegen sie nicht.“ („Junge Welt“, 5.12.2019) In einer ausführlichen und lesenswerten Recherche bemüht er sich anschließend um die nötige Klärung der „Hintergründe, die die Behörden der Volksrepublik überhaupt erst veranlasst haben, die Lager zu errichten.“
Hier soll deshalb nur in aller Kürze festgehalten werden:
Das Aufhetzen von Stämmen bzw. Völkern gegen ihre Herrschaft – ob „kolonial“ oder im Fall von Vielvölkerreichen – war schon immer ein probates Mittel in der Konkurrenz von Staaten.
Im Fall der Uiguren wurden deren Bemühungen um Befreiung vom „chinesischen Joch“ seit dem 19. Jahrhundert berechnend angefeuert von wechselnden Mächten: Großbritannien, USA, Deutschland und Türkei.
Heute tritt der uigurische Separatismus als dschihadistischer Islamismus auf: Juli 2009 Pogrom in Urumqui gegen Han-Chinesen mit 134 Toten (viele von ihnen brutal erschlagen); 2013 Selbstmordattentat auf dem Tienamen-Platz in Beijing mit einem SUV (3 Tote); 2014 Massaker am Bahnhof von Kunming, bei dem acht Attentäter 31 Passanten umbringen; Überfall auf ein Regierungs- und Polizeigebäude in Kashgar, bei dem 37 Zivilisten sterben; Überfall auf eine Kohlemine in Aksu mit 50 toten hanchinesischen Arbeitern. (Zu den Aktivitäten uigurischer Dschihadisten, deren Organisation ETIM von Al Quaida finanziert wurde, in Syrien, Indonesien, Thailand und Afghanistan s. Kronauer ebenda.) Auf das Pogrom in Urumqui reagierte China1 mit einem Einsatz seines Militärs, angesichts der sich wiederholenden Anschläge dann mit einer grundsätzlichen Änderung seiner Politik gegenüber den Uiguren. Zuvor hatte sich die Regierung in Beijing darauf verlassen, dass die ökonomische Entwicklung der Provinz (sprich: ihre kapitalistische In-Wert-Setzung, siehe Link) auf Dauer ein genügend großes „Integrations-Angebot“ auch an die bisher traditionell wirtschaftenden, zum Teil noch nomadisierenden Uiguren darstellen und die vorhandene Unzufriedenheit, die den Nährboden für die ethnisch-religiösen Konflikten darstellt, mindern würde. Mit den „Lagern“ setzt die chinesische Regierung nun offensichtlich auf eine Mischung von direktem Zwang und Angeboten: „Chinesische Stellen erklären stets, es handle sich um Einrichtungen, in denen Uiguren von ‚terroristischen und extremistischen Gedanken‘ abgebracht und zugleich in der Landessprache unterrichtet wie beruflich fortgebildet werden sollen; es gehe darum, dem uigurischen Terrorismus langfristig den Nährboden zu entziehen.“ (Kronauer)
Den Vergleich mit den Antiterror-Maßnahmen westlicher Staaten möchte ich an dieser Stelle den Lesern überlassen …
PS: Im Januar 2021 erfährt die Sache eine diplomatische Neuauflage: US-Außenminister Mike Pompeo hat China an seinem letzten Amtstag „Völkermord“ (!) an den Uiguren vorgeworfen und verlangt, dass die „kommunistische Führung zur Rechenschaft gezogen werden müsse“; sein Nachfolger Antony Blinken bestätigt bei seiner ersten (!) Pressekonferenz, dass ein „Genozid“ (!) an den Uiguren begangen werde. Der chinesische Außenamtssprecher sieht sich daraufhin bemüßigt, die Vorwürfe entschieden zurückzuweisen: „Ich werde das jetzt dreimal sagen, weil es wirklich wichtig ist: Es gibt keinen Genozid in China, es gibt keinen Genozid in China, es gibt keinen Genozid in China“, sagte der Pekinger Außenamtssprecher Zhao Lijian am Donnerstag.“2
Um ein letztes Beispiel aus der jüngsten Zeit zu bringen: China hat im Frühjahr 2020, zu Beginn der Corona-Pandemie, viele Staaten mit Atemmasken, medizinischer Schutzkleidung und Beatmungsgeräten ausgestattet und auch medizinisches Personal dorthin geschickt: Spanien, Italien, Serbien und viele andere. Die Kommentare hier enthielten durchgängig den Vorwurf, dass diese Hilfe nicht selbstlos stattfinde, China sich damit Freunde machen und davon ablenken wolle, dass die Pandemie ihren Ursprung in China hatte. Die Kritik „nicht selbstlos“ ist wirklich bemerkenswert. Welcher Staat leistet eigentlich selbstlos Hilfe? Wie sieht es im Fall der Bundesrepublik aus? Deutschland hatte Italien in seiner schlimmsten Krisenzeit den Export dringend benötigter medizinischer Schutzkleidung gestrichen und hat mit „Hilfe“ (demonstrative und von großer medialer Aufmerksamkeit begleitete Aufnahme einiger italienischer Corona-Patienten in deutschen Kliniken) erst begonnen, nachdem die Stimmung in diesen Ländern sehr anti-europäisch und anti-deutsch geworden war.
Zwischenfazit: Selektive Wahrnehmung, parteilich-missgünstige Vergleiche, deren Maßstab wie selbstverständlich das bei „uns“ Gültige, Übliche oder Erwünschte ist, kampagnenartige Wiederholungen – all das kennzeichnet ein veritables Feindbild. Die Verurteilung des chinesischen Staates als Fall von „bad governance“, als autoritäres „Regime“, hat vor allem die Funktion der Delegitimation eines lästigen Konkurrenten, gegen den man sich alle Maßnahmen vorbehalten will.51x
Nun ein paar Gedanken zu den deutschen Linken. Neben der Vorstellung, dass China immer noch als sozialistischer Staat einzuordnen sei, der sich international durch besondere Friedfertigkeit auszeichnen würde, existiert auch die kongenial entgegengesetzte Variante. Für diverse linke Gruppen ist China ein besonders abzulehnendes Staatswesen. Gewerkschaftler und Anarchisten haben ansonsten eine vermutlich eher kleine Schnittmenge; dass aber Chinas kapitalistisches System extra-ausbeuterisch ist und dass der chinesische Staat extrem repressiv auftritt – darin sind sie sich durchaus einig. Hier einige Überlegungen zu den Vorstellungen und Urteilen, die mir in diesem Zusammenhang begegnet sind.
a) China als besonders ausbeuterischer Kapitalismus
Natürlich werden in China Arbeiter_innen ausgebeutet – und zwar systematisch.
Die regierende KP hat schließlich ab 1978 kapitalistisches Wirtschaften durchgesetzt – kopiert hat sie dieses Prinzip übrigens vom Westen, der in diesem Fall kein geistiges Eigentum verletzt sah! China ist damit sehr spät in einen bereits fix und fertig organisierten Weltmarkt eingestiegen, den die erfolgreichen westlichen Staaten seit mehr als 150 Jahren durch die Ausbeutung ihrer Arbeiter_innen für das Wachstum ihrer Kapitale benutzt hatten (Ausplünderung der Kolonien inbegriffen!). Um westliches Kapital anzulocken, musste der asiatische Neueinsteiger vor allem zu Beginn (solange China selbst noch kein attraktiver Markt darstellte) besondere Angebote machen: Billigkeit seiner Arbeitskräfte, lange Arbeitszeiten, schlechte Arbeitsbedingungen.
Wer diese „Extra-Ausbeutung“ kritisieren will, hat insofern zwei Adressen: 1. den chinesischen Staat, der seine Leute als Sonderangebot für westliche Unternehmen herrichtet (siehe dazu Kapitel 2, 3, 4 und 5 in Teil 2 des Buchs) und 2. die hiesigen Kapitale und Staaten, die das mit Kusshand wahrgenommen haben.
Die letzteren haben sich dann übrigens mit Hinweis auf die von ihnen genutzten chinesischen Billiglöhne erpresserisch gegen das Lohnniveau und die sozialstaatlichen Standards in ihren westlichen Heimatländern gewandt und das Verhältnis von Lohn und Leistung in ihrem Sinne erfolgreich gesenkt. Und im Jahr 2008 haben sich vor allem US-amerikanische Firmen gegen ein chinesisches Arbeitsgesetz gestellt, das allgemeine Arbeitsverträge und Kündigungsschutz auch für die in Joint Ventures eingesetzten Wanderarbeiter vorsah.
An all dem wird vor allem eines klar: Die Vorstellung von „schlimmen“ und „weniger schlimmen“ kapitalistischen Unternehmen oder Staaten führt zu geistigen Irrwegen. Es ist vielmehr das eine und unteilbare Sachgesetz der kapitalistischen Konkurrenz, das bei den verschiedenen nationalen Standorten zu unterschiedlichen Konsequenzen führt. Im Falle Chinas (wie übrigens durchgängig in der sog. Dritten Welt, die darum konkurriert, Ziel westlicher Kapitalinvestitionen zu werden) sind Billigkeit und relative Rechtlosigkeit seiner Arbeiter entscheidende Pluspunkte für die Anlageentscheidungen westlicher Kapitale. Mit der bitteren Konsequenz, dass der weltweite Zugriff auf billige Arbeitskräfte die Lage der westlichen (Industrie-)Arbeiter massiv verschlechtert: Entweder verlieren sie ihre Arbeitsplätze oder sie müssen Lohneinbußen/schlechtere Arbeitsbedingungen und Sozialstandards hinnehmen – diese Auswirkungen der „Globalisierung“ genannten Expansion des Kapitals sind in den entsprechenden Sozialstatistiken gut abzulesen.
Die Kritik an China sollte also m.E. nicht lauten, dass es ökonomisch etwas anderes (oder besonders „Schlimmes“) macht, sondern dass es dasselbe System eingeführt hat wie das, das hier bei uns herrscht! Die Kritik zielt auf das System, nicht auf das besondere Land China.
Übrigens: Wenn sich in diesem Kontext Staaten, die von diesem System seit 150 Jahren erfolgreich leben, und ihre bezahlten Journalisten, die nichts für Veränderung übrig haben, geschweige denn für Revolutionen, als Hüter der Menschenrechte aufspielen und „brutale Ausbeutung“ in China anprangern, dann sollten einige Alarmknöpfe losgehen …
b) China als besonders repressiver Staat
Linke sind in vielen Dingen nicht einverstanden mit dem deutschen Staatswesen; den chinesischen Staat aber finden die allermeisten von ihnen schlicht indiskutabel und auf alle Fälle wesentlich „schlimmer“ als den hiesigen. Und natürlich: In einem Vergleich der politischen Systeme schneidet der chinesische Staat schlecht ab. Er lässt keine freie Presse zu und erkennt den Wunsch nach einer institutionalisierten Opposition neben der regierenden Einheitspartei nicht an; sein Herrschaftspersonal wird – zumindest oberhalb der kommunalen Ebene – nicht über eine öffentliche Wahl zwischen mehreren Kandidaten bestimmt; er zensiert seine Bürger und ihre sozialen Medien, er gängelt sie – inzwischen sogar mit einem ausgeklügelten „Sozialkreditsystem“ –, sich an Gesetze und Anstand zu halten.
Auffällig ist, dass Feststellungen dieser Art gar nicht den Auftakt zu Fragen bilden – etwa danach, wie das politische System in China aussieht (denn die Feststellung, was es alles nicht gibt, stellt ja keine Auskunft darüber dar, wie politische Entscheidungen in der VR zustande kommen), ob es von der westlichen Demokratie nichts wissen will, was seine Gründe dafür sind usw. usf. Umgekehrt könnte man auch fragen, was die große Masse der Bevölkerung in den westlichen Staaten eigentlich davon hat, dass es in ihren Ländern all das gibt … Für all diese Fragen gibt es bemerkenswert wenig Neugier. Es sieht so aus, als sei das Resultat des Vergleichs – China sieht schlecht aus – bereits alles, was man wissen wollte. Nehmen wir den Vergleich trotzdem einmal ernst.
Ein solcher Vergleich unterstellt eine qualitative Gemeinsamkeit; es ist nicht schlecht, diese festzuhalten, bevor man sich den Differenzen widmet. Dafür ist zunächst einmal – auf der abstraktesten Ebene – festzuhalten, dass es sich in beiden Fällen um staatliche Gewaltmonopolisten handelt, die ihren Bürgern die kapitalistische Konkurrenz um Eigentum als die Art und Weise vorschreiben, in der sie ihre (Lebens-)Interessen verfolgen dürfen.
Die dabei notwendig auftretenden antagonistischen Gegensätze verwalten dann ebenfalls beide mit dem Ziel, ein möglichst großes Wirtschaftswachstum und einen möglichst großen Zuwachs an staatlicher Macht und staatlichen Machtmitteln zu erzeugen.
Angesichts dieser essenziellen Gemeinsamkeiten ist es nicht verwunderlich, dass Bürger, die sich um den Erwerb ihrer privaten Einkommen kümmern (müssen) und die das mehr oder weniger mühsam erworbene Geld anschließend für ihren privaten Konsum ausgeben, keinen wesentlichen Unterschied zwischen den „inkompatiblen Systemen“ sehen. Die große Masse der gesetzestreuen Menschen, die sich „nicht groß um Politik kümmern“ (wie hier wie dort viele von sich selbst sagen), gerät im Normalfall außer bei Verkehrsdelikten weder in Deutschland noch in China mit der Staatsgewalt aneinander; deutsche Touristen sind übrigens immer wieder erstaunt, wie „normal“ doch alles in China aussieht (während sie auf Basis der heimischen Informationspolitik an jeder Ecke das Arsenal des Unterdrückungsstaats erwarten).






