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Kapitel 2 Die Kommunistische Partei – Programm und Durchsetzung
Kommunismus und Nation
Theorie und Praxis
Praxis und Theorie
Kapitel 3 »Neudemokratische Politik« und der Beginn des sozialistischen Aufbaus
Leistungen
Beurteilung37
Kapitel 4 Prinzipien staatlich geplanter Wertproduktion und ihre praktische Umsetzung: Ein Fehler und viele Widersprüche
Prinzipien der staatlich geplanten Produktion
Zwischenfazit in polemischer Absicht
Widersprüche geplanter Wertproduktion
Kapitel 5 Der Kampf zweier Linien
Kapitel 6 Maos Linie: Mit Moral die Massen mobilisieren
Lasst hundert Blumen blühen
Der Große Sprung nach vorn
Die große proletarische Kulturrevolution
Kapitel 7 Dengs Linie: Mit materiellen Anreizen die Produktivkräfte entwickeln
Ursachenforschung
Erfordernis der »Modernisierung«: eine funktionierende Partei und ihre Gewalt
Kapitel 8 Die Volksrepublik China als sozialistische Großmacht
Koreakrieg
Bandung-Konferenz: »Prinzipien der friedlichen Koexistenz«
Freundschaft und Bruch mit der Sowjetunion
Kapitel 9 Kurzer Anhang zum »Maoismus«
Maoismus (I): Besonderheiten des »chinesischen Wegs«
Maoismus (II): Besonderheiten des chinesischen Sozialismus
Die Attraktivität des Maoismus für westeuropäische Linke
Teil 2 Der Kapitalismus in der Volksrepublik China
Kapitel 1 Die »neue Linie« ist ein neues System
Kapitel 2 Privatisierung der Landwirtschaft
Kapitel 3 Öffnung und Sonderwirtschaftszonen: Auslandskapital als Entwicklungshelfer
Ursachen eines Ausnahmefalls
Kapitel 4 Staatsbetriebe werden privatisiert, neue private Unternehmen entstehen
Reform der staatseigenen Unternehmen (I)
Gründung von Unternehmen neben dem Plan
Unternehmen konkurrieren auf einem freien Markt
Reform der staatseigenen Unternehmen (II)
Kapitel 5 Chinas neue freie Lohnarbeiter
Exkurs: Die »Werkbank der Welt«
Arbeiterproteste und Gewerkschaften
Kapitel 6 Banken und Börsen; nationaler Haushalt und Geld
Börsen und Aktienspekulation
Spekulation auf Immobilien
Haushaltspolitik und nationales Geld
Kapitel 7 Chinas neue Kapitalistenklasse
Kapitel 8 Die Widersprüche des »kapitalistischen Experiments« – das Jahr 1989
Kapitel 9 Die KP ändert sich und ihren sozialistischen Staat – der neuen Ökonomie zuliebe
Demokratie und bürgerliche Staatsgewalt
Das Verhältnis von Staat und Partei
Rechtsstaatlichkeit
Politisches System
Politisches Bewusstsein
Zur Nationalitätenfrage
Kapitel 10 China als kapitalistische Großmacht
China klinkt sich in die imperialistische Weltordnung ein
China baut sich als neue imperialistische Macht auf
Die Weltmacht USA sieht sich herausgefordert
China setzt sich gegen das amerikanische Unterordnungsgebot zur Wehr
Kapitel 11 Kurzer Anhang zur linken China-Literatur
Lehrstück China – ein Fazit
Fußnoten
Literatur
CHINA
Ein Lehrstück über alten und neuen Imperialismus, einen sozialistischen Gegenentwurf und seine Fehler, die Geburt einer kapitalistischen Gesellschaft und den Aufstieg einer neuen Großmacht
Vorbemerkung
Als China im November 2001 in die WTO eintrat, nahm die westliche Öffentlichkeit mehr oder weniger erstaunt zur Kenntnis, dass sich das bevölkerungsreichste Land der Welt, ein ehemals sozialistisches Entwicklungsland, in den letzten Jahren zum sechstgrößten Industriestaat und zu einer respektablen Exportnation gemausert hat. 2009 sind auch solche Mitteilungen schon wieder überholt: China ist inzwischen die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt und wird Deutschland bald als Exportweltmeister abgelöst haben.
Es wird inzwischen viel über China geredet – aber wie? Leitender Gesichtspunkt der China-Berichte in der bürgerlichen Öffentlichkeit ist die Frage, was der Aufstieg dieses Landes für »uns« bedeutet. Der Eintritt Chinas in den freien Weltmarkt wird begrüßt und die Öffnung seines Marktes mit 1,3 Milliarden chinesischer Kunden stimmt uns enorm hoffnungsfroh; andererseits droht möglicherweise eine neue »gelbe Gefahr«. Denn dieses Mal tritt China an als kampfstarke wirtschaftliche Konkurrenz, die uns nicht nur mit ihren Dumping-Löhnen Teile des Weltgeschäfts abjagt und unsere Märkte überschwemmt, sondern längst zum organisierten Angriff auf unser Allerheiligstes, das technische Know-how des deutschen Mittelstands, geblasen hat. Politisch wiederholt sich die Ambivalenz: Deutschlands politische und ökonomische Elite verspricht sich durchaus einiges von der wieder erstarkten asiatischen Macht und den guten Beziehungen, die sie zu ihr unterhält. Andererseits registriert man in Berlin ebenso wie in Washington, dass man es mit einer zunehmend selbstbewussten Großmacht zu tun hat, die sich nicht so einfach einordnen und für eigene weltpolitische Interessen benutzen lässt. Bestürzt stellt man fest, dass die chinesische Führung eine Ansammlung »immer noch« ziemlich »kommunistischer Betonköpfe« ist, damit befasst, ihrem Volk Demokratie und Menschenrechte und dem Dalai Lama »sein Tibet« zu verweigern. Von der Öffentlichkeit abgeschottet, beschäftigt sie sich mit undurchsichtigen Intrigen und Konkurrenz um die Macht im Land, zu der bisher weder Oppositionelle noch westlich gesponserte NGOs Zutritt bekommen. Dass ihr das bisher ziemlich unangefochten gelingt, nötigt dann umgekehrt schon wieder Respekt ab. Es ist also eine ziemlich üble Mischung von Ignoranz, Feindschaft und Begeisterung, die das Urteil der bürgerlichen China-Beobachter kennzeichnet.
Das China-Bild der links-alternativen Öffentlichkeit präsentiert sich keineswegs sachlicher. Es ist auf der einen Seite geprägt von sentimentalen Reminiszenzen an frühere Tage, als man in Mao, die Volkskommunen und die Kulturrevolution eigene Hoffnungen und Wünsche hineinprojiziert hatte. Demgegenüber stellen sich Linke das heutige China gerne als Ausbund rohester kapitalistischer Verhältnisse vor. Ihre Reportagen und Analysen werden in vielen Fällen von Millionen hungernder Wanderarbeiter bevölkert – fast so, als wäre man in seiner Kapitalismuskritik entwaffnet, wenn es auch in China nach 30 Jahren Marktwirtschaft schon etwas gesitteter zuginge und als gäbe es an Chinas langem Marsch in den Kapitalismus nicht mehr zu erklären. Oder man bleibt einfach stur und schenkt der Kommunistischen Partei und ihren Interpretationen Glauben, denen zufolge sich das Land noch immer auf dem Weg zum Sozialismus befindet – nur dass dieser etwas länger ausfällt als angenommen und kleine kapitalistische Umwege zur Erhöhung der gesellschaftlichen Produktivkraft einschließt.
Das vorliegende Buch stellt sich quer zu solchen Deutungen. Es kritisiert den Sozialismus Mao Zedongs, ohne Partei zu ergreifen für Chinas Übergang zur Marktwirtschaft. Es verfolgt den Aufstieg eines Entwicklungslandes zur kapitalistischen Großmacht, ohne den Fortschritt dieser Nation mit dem Wohlergehen des chinesischen Volks zu verwechseln. Es konstatiert den Erfolg des modernen China und die Eindämmungsbemühungen der etablierten Weltmächte, ohne in der Auseinandersetzung, die längst begonnen hat, Sympathien für eine der Seiten zu bekunden. Stattdessen beobachtet dieses Buch nicht ohne Ironie, dass sich Marx’ Behauptung im »Kommunistischen Manifest« über den Charakter der bourgeoisen Ordnung – »Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen« – gleich mehrfach bewahrheitet. Die alten imperialistischen Mächte öffneten sich den Weg ins Reich der Mitte einst mit ihren Kanonenbooten. Nach Maos Tod haben sich die chinesischen Kommunisten aus nationalen Erwägungen heraus der westlichen Welt angenähert und ihren alternativen sozialistischen Entwicklungsweg Schritt für Schritt verworfen. Im Resultat ist es der westlichen Bourgeoisie also gelungen, »sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde zu schaffen« – ohne kommunistische Ausnahme. Inzwischen macht ihr ausgerechnet dieser Erfolg, das zum Kapitalismus bekehrte China, zu schaffen. Denn »die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie«, mit der die kapitalistisch gewendete Volksrepublik unerbittlich zurückschießt...
Dieses Buch ist im Oktober 2009 beim VSA-Verlag Hamburg erschienen; 2010 erschien eine zweite, 2012 eine dritte Auflage.
Zum Inhalt
Das Buch beginnt mit einem ausführlichen Rückblick auf Die Sozialistische Volksrepublik China. Teil I bespricht die gewaltsame Öffnung Chinas durch die imperialistischen Mächte, den damit einhergehenden inneren Zerfall und den langen Bürgerkrieg zwischen Guomindang und Kommunistischer Partei. 1949 proklamiert Mao Zedong mit den Worten »Das chinesische Volk hat sich erhoben« die sozialistische Volksrepublik. Ökonomie und Politik des chinesischen Nationalkommunismus werden anhand der Aufbauphase, des ersten Fünf-Jahres-Plans und der großen Massenkampagnen erklärt – und kritisiert. Das Buch analysiert die Prinzipien staatlich geplanter Wertproduktion und deren chinesische Besonderheiten. Es erläutert das Verhältnis zwischen sozialistischer Staatsmacht und ihrem Volk ebenso wie Maos Linie, die »auf die Schöpferkraft der Massen« baut und diese zunehmend für ein ehrgeiziges nationales Aufbauprojekt in Beschlag nimmt. Und es beschäftigt sich mit der Außenpolitik der Volksrepublik, dem Koreakrieg sowie Freundschaft und Bruch mit der Sowjetunion, der den Niedergang des kommunistischen Blocks einläutet: Nationalismus siegt über den staatsidealistischen Sozialismus der Kommunistischen Partei.
Teil II über Die kapitalistische Volksrepublik China erklärt, was China im eigenen Land politökonomisch auf die Tagesordnung gesetzt hat, als es sich 1978 entschloss, in den Weltmarkt einzutreten, um ab da mit Hilfe kapitalistischer Methoden und ausländischer Investitionen seinen Aufstieg zur Großmacht zu bewerkstelligen. Die gesamte Ökonomie mit all ihren Einrichtungen und samt ihrem lebendigen Inventar wird Schritt für Schritt einer neuen Maxime unterworfen: Alle müssen und dürfen, befreit von der Bevormundung durch Kollektiv und Plan, Geld und Weltgeld verdienen. Das scheidet die egalitäre chinesische Gesellschaft in Klassen. Es wird analysiert, wie Chinas »Systemtransformation« im Einzelnen vor sich gegangen ist, zu welchen Phänomenen und Resultaten sie es ökonomisch gebracht hat und welche Konsequenzen das für die chinesische Gesellschaft, ihren sozialistischen Staat und die Kommunistische Partei hat: Die Kommunistische Partei Chinas setzt eine »ursprüngliche Akkumulation« ins Werk.
Aus den ökonomischen Erfolgen, die es in den beiden letzten Jahrzehnten als Kapitalstandort erzielt hat, leitet China inzwischen den Anspruch ab, seinerseits alle möglichen Länder als Rohstofflieferanten und Exportmärkte zu benutzen – und nicht nur das: China ist eingestiegen in die strategische Konkurrenz um den globalen Gewalthaushalt.
Das letzte Kapitel von Teil II behandelt die Außenpolitik der Volksrepublik und die Eindämmungspolitik, die nicht nur die USA den chinesischen Ambitionen entgegensetzen. Das weltpolitische Novum dieser kriegsträchtigen Konkurrenz, die gerade ihre Anfangsjahre erlebt, liegt darin, dass die beiden Hauptkontrahenten »in Zeiten der Globalisierung« ökonomisch voneinander leben: China will Weltmacht werden.
Häufig verwendete Abkürzungen:
AS Deng, Xiaoping (1985): Ausgewählte Schriften (1975-1982), 1. Aufl., Beijing. BR Liu, Suinian/Wu, Qungan (Hrsg.) (1984): Chinas sozialistische Wirtschaft.Ein Abriss der Geschichte 1949 bis 1984, Beijing. CA China aktuell. Journal of Current Chinese Affairs, Hamburg. CL Staiger, Brunhild/Friedrich, Stefan/Schütte, Hans-Wilm (Hrsg.) (2003): Das Große China-Lexikon, Darmstadt 2003. GS Gegenstandpunkt. Politische Vierteljahreszeitschrift.Der in der ursprünglichen Print-Version auf CD mitglieferte Anhang wird nun auf der Website renatedillmann.de zur Verfügung gestellt.
Teil 1
Der Sozialismus in der Volksrepublik China
China ist ein bemerkenswerter Sonderfall. Ausgerechnet eine kommunistisch regierte Bauernnation des Ostens macht praktisch wahr, was der Westen seinen in die Freiheit entlassenen Kolonien als Chance einer Teilnahme an der Staatenkonkurrenz des kapitalistischen Weltmarkts verkaufen wollte: China schafft eine wahrhaft nachholende »Entwicklung«, schließt zu den etablierten Nationen auf, wird kapitalistische Weltmacht. Anhänger einer früher antikapitalistisch inspirierten Drittwelt-Bewegung können sich heute fragen, ob es das war, wovon sie immer geträumt haben…
Dieses Buch geht der Frage nach, wie die 30 Jahre Aufbau des Sozialismus und die 30 Jahre Aufbau des Kapitalismus eigentlich zusammenpassen, die in China unter derselben KP-Führung auf die Tagesordnung gesetzt und durchgezogen wurden. Wo ist der rote oder weniger rote Faden?
Die zentrale These des Buches: Schon in Theorie und Praxis der KP unter Mao ist die Unterordnung aller sozialistischen Ambitionen unter das Ziel der Befreiung, Einigung und schließlich des Aufbaus einer machtvollen chinesischen Nation grundgelegt, das dann unter Deng und den Nachfolgern mit einer Neudefinition der Staatsräson weiter verfolgt, mit »kapitalistischen Methoden« vorangetrieben und zu erstaunlichen Erfolgen geführt wird.
Zum Einstieg ein paar Bemerkungen über die Geschichte der Öffnung Chinas durch die aufstrebenden imperialistischen Staaten, also die Vorgeschichte der sozialistischen Volksrepublik. Sie bietet ein bemerkenswertes Lehrstück darüber, was Nationen mit kapitalistischer Ökonomie auf dem Erdball wollen und wie sie es durchsetzen. Und obwohl es 150 Jahre zurückliegt, mutet es erstaunlich aktuell an.
Kapitel 1
Das Reich der Mitte wird vom Imperialismus »erschlossen«
Um 1800 ist China der größte Flächenstaat der Welt und verfügt mit rund 300 Millionen Menschen auch über das mit Abstand größte Staatsvolk. Ökonomisch ist das »Reich der Mitte«, wie es sich selbst bezeichnet, vor allem ein Agrarland. Die Masse seiner Bewohner sind Bauern, die von Landwirtschaft und häuslichem Handwerk leben. Sie pflanzen hauptsächlich Getreide, Reis und Baumwolle, fertigen Korbwaren, weben Baumwollstoffe. Der Boden, den sie bearbeiten, ist meist gepachtet; für die Grundbesitzer müssen sie den Pachtzins erarbeiten, dem Staat Steuern zahlen; Verschuldung (mit hohen Zinszahlungen) ist üblich, existenzielle Not nicht nur im Fall von Missernten und Überschwemmungen angesagt. Das Elend der ländlichen Bevölkerung macht sich regelmäßig in Aufständen Luft; die Figur des »Rebellen« ist in Erzählungen und Märchen des Volks präsent und beliebt.
Neben der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft existiert eine lebhafte Handelstätigkeit. Gehandelt werden Salz und Tee, Reis aus den südlichen, Baumwolle aus den angrenzenden nördlichen Provinzen sowie viele regionale Spezial- und Handwerksprodukte; Porzellan, Baumwollstoffe und Tee werden teilweise in großen Manufakturen hergestellt. »Allein in Nanjing standen mehr als 30.000 Webstühle.« (Schmidt-Glintzer 2007: 125) Die Waren werden über große Wasserstraßen oder per Küstenschifffahrt transportiert. Ein englischer Beobachter notiert, dass der Umschlag in Shanghai um 1840 größer ist als der des Londoner Hafens, der damals als Zentrum des Welthandels gilt.
Politökonomisch ist das China des beginnenden 19. Jahrhunderts damit eine Gesellschaft, in der Produkte über den unmittelbaren Bedarf hinaus verbreitet als Waren hergestellt werden. Das System der Naturalsteuern ist bereits seit dem 13. Jahrhundert durch Umstellung auf Geldsteuern abgelöst, Geldverkehr auch auf dem Lande allgemein üblich – alle Dörfer ordnen sich Marktflecken zu, in denen die staatliche Verwaltung ihre Steuern erhebt. Kaufleute bereichern sich durch landesweit organisierten Verkauf ihrer Waren, es gibt Ansätze kapitalistischer Warenproduktion in Manufakturen und – neben der bäuerlichen Schuldenwirtschaft – erste Formen eines auf Handel und Produktion bezogenen Kredits (Banken ersetzen den für Verlust und Raub anfälligen Transport von Silber durch Schecks). Im Unterschied zu Westeuropa, wo aus einer ähnlichen Ausgangslage die kapitalistische Produktionsweise entsteht, bleiben diese Phänomene in China allerdings Randerscheinungen. Trotz des Vorhandenseins »eines technisch reifen Handwerks« und »industriekapitalistischer Betriebe von z.T. beträchtlichem Umfange« findet der Übergang von einer auf Geld basierenden Warenwirtschaft zu einem kapitalistischen Akkumulationsprozess nicht statt – die industriekapitalistischen Unternehmen bleiben »Oasen in einem Meere, dessen Grundströmung nach einer durchaus anderen Richtung drängte« (Wittfogel 1931: 607). Anders gesagt: Im Unterschied zu Europa schaffen es die chinesischen Besitzer von bereits kapitalistisch produzierten Geldvermögen nicht, ihre Art der Reichtumsproduktion zu verallgemeinern und zum letztlich herrschenden Produktionsverhältnis zu machen. Gründe dafür liegen in Besonderheiten der »ostasiatischen Produktionsweise« (Marx 1857/58: 377) und des chinesischen Staatswesens.
Geografische und klimatische Besonderheiten machen in Asien fast die gesamte Agrikultur abhängig vom Wasserbau – und zwar in doppelter Hinsicht: Flüsse müssen eingedämmt werden, da sich in bestimmten Jahreszeiten (Gletscherschmelze und Monsunregen treffen zusammen) verheerende Hochwasser über die fruchtbaren Landesteile ergießen; andererseits ist Regenfeldbau nur sehr beschränkt möglich. Was als Kulturfläche genutzt werden soll, muss künstlich bewässert werden. Beides erfordert die Zusammenfassung materieller Mittel und Arbeitskräfte und bildet seinerseits die Basis zur Ausbildung von Staatlichkeit. Seit etwa 200 v.Chr. existiert in China ein solches herrschaftliches Kommando über ein ausgedehntes Territorium.1 Das frühneuzeitliche Europa bewundert als chinesische »Hochkultur«, was darüber an Größe und staatlicher Potenz zustande kommt ebenso wie an wissenschaftlichen und technischen Leistungen. Auch heute beginnen viele Abhandlungen, die sich mit China befassen, gerne mit Reminiszenzen an diese »große« Vergangenheit des Landes. Eben dieses chinesische Staatswesen wirkt andererseits als Schranke.
Die chinesischen Herrscher entwickeln kein besonderes Interesse an einer Förderung der ökonomischen Unterteilung ihrer Gesellschaft, die mit Handel und Gewerbe zu tun hat. Beides wird sogar mit hohen Steuern belegt.2 Während die europäischen Regenten in den ökonomischen Potenzen der Handels- und Geldkapitalisten ein interessantes Mittel für sich und ihre politischen Expansionsabsichten entdecken und sich im Merkantilsystem zu dem Standpunkt vorarbeiten, dass die systematische Förderung abstrakter Reichtumsproduktion und die Bereicherung durch Außenhandel für ihre Staatskassen vorteilhaft ist, sehen die chinesischen Kaiser ihre Lage anders. Sie verfügen bereits über ein ausgedehntes Territorium, das ihnen genügend Ressourcen zur Machtentfaltung nach innen abwirft, dazu eine Hauptstadt und einen Hof, die über Jahrhunderte hinweg weltweit ohne Pendant sind. Ihr ökonomisches Mittel besitzen sie in der Besteuerung einer (wachsenden) bäuerlichen Bevölkerung, die sie mit ihrer Beamtenschaft organisieren. Nach außen versuchen sie, ihre Herrschaft mit dem Bau gigantischer Schutzmauern gegen die aus dem Norden anstürmenden Reitervölker zu sichern; die meisten Anrainer (Vietnam, Korea, Japan etc.) erkennen die Oberherrschaft des riesigen Reichs an und leisten Tributzahlungen sowie ihren Kotau vor dem chinesischen »Sohn des Himmels«.Die Sicherung dieses Reiches soll durch weitere Expansionen – einen Standpunkt, den die chinesischen Herrscher selbstverständlich auch kennen und in der Vergangenheit erfolgreich praktiziert haben – nicht gefährdet werden. So befiehlt der zweite Kaiser der Ming-Dynastie, das durchaus erfolgreich verlaufende Projekt einer chinesischen Exploration der Welt abzubrechen und mit der Demontage der gesamten, unter Aufbringung riesiger gesellschaftlicher Mittel gebauten Flotte wieder zu beenden.3
Als entscheidendes Mittel dieser Herrschaft funktionieren die kaiserlichen Beamten. Sie erheben Steuern und Zölle und sorgen für die Umsetzung der herrschaftlichen Anweisungen (z.B. Deich- und Kanalbau, Anlage von Getreidevorräten usw.). An den kaiserlichen Hof müssen sie festgesetzte Summen abführen; der Rest steht ihnen zu ihrer eigenen Verfügung. Diese mit dem Amt installierte Lizenz zur persönlichen Bereicherung sichert dem »Sohn des Himmels« die Treue seiner Mandarine; für die moralisch nicht ganz integren Figuren unter ihnen wirkt sie als Antrieb, die ihnen anvertrauten Provinzen auszuplündern und Widerstand entsprechend hart niederzuschlagen. Die Ämter werden durch ein über Jahrhunderte hin ausgeklügeltes Prüfungssystem vergeben, sind also nicht erblich. Diese Regelung und die Verschickung der ausgewählten Beamten in heimatferne Provinzen sollen einerseits Nepotismus, vor allem aber dem Aufbau konkurrierender Machtzentren vorbeugen. So sorgt der Umstand, dass in diesem System Reichtumserwerb an politische Macht gekoppelt ist und letztlich von der Lizenz des kaiserlichen Hofs abhängt, dafür, dass keine gesellschaftlich relevante freie, weil über eigene ökonomische Mittel verfügende Klasse entsteht.Das, was sie aus ihren Ämtern an privatem Reichtum zusammenschachern, verwenden die Beamten in den allermeisten Fällen, um in Grundbesitz zu investieren, der ihren Familien zuverlässig als Reichtumsquelle dienen soll – so bleiben Hof, Beamtenschaft und grundbesitzende Klasse personal- wie interessenidentisch. (Vgl. de Beauvoir 1960: 264)
Zur damit erzeugten politischen Stabilität (negativ konnotiert: Stagnation) trägt im kulturell-religiösen Überbau der chinesischen Gesellschaft auch bei, dass die chinesischen Herrscher die Vergabe der Ämter so organisieren, dass damit gleichzeitig eine landesweit einheitliche, dem Inhalt nach konservative Kultur und Moral durchgesetzt wird. Wichtigste Prinzipien der konfuzianischen Ethik sind die Gebote, das Althergebrachte zu ehren und der (väterlichen) Autorität in Familie und Staat bedingungslos zu gehorchen. Sämtliche Anwärter auf kaiserliche Beamtenstellen müssen in einer Reihe von Prüfungen, die örtlich (von den Dörfern über die Provinzhauptstädte bis zu den letzten Prüfungen in Beijing) und nach Schwierigkeitsgraden gestaffelt sind, Kenntnisse der Schriftzeichen, der chinesischen Literatur und der konfuzianischen Philosophie in ihrer jeweils gültigen, d.h. den aktuellen Herrschaftsbedürfnissen angepassten Deutung, nachweisen.4In ihrem Alltag ergänzen fast alle Chinesen die konfuzianische Morallehre durch althergebrachte abergläubische Vorstellungen und buddhistische Ideen, die seit dem 1. Jahrhundert nach China einsickern, ohne jemals den Rang eines offiziellen Staatskults zu erlangen – ebenso wenig wie das Christentum, das trotz gewaltiger Missionsbemühungen der christlichen Kirchen im 17. und 18. Jahrhundert marginal bleibt.






