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ROSEMARIE DINGELDEY
Leben mit einer psychischen Erkrankung

Dieses Buch als E-Book: ISBN 978-3-86256-710-2
Dieses Buch in gedruckter Form: ISBN 978-3-86256-018-9, Bestell-Nummer 588 721
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar
Lektorat: Dr. Thomas Baumann, Lahr Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf Johannson Umschlagbilder: © ShutterStock® Satz: Neufeld Verlag
© 2011 Neufeld Verlag Schwarzenfeld
Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages
www.neufeld-verlag.de / www.neufeld-verlag.ch
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Inhalt
Vorwort
Anhang
Denn, Gott, du hast uns versucht und geläutert, wie das Silber geläutert wird. Du hast uns lassen in den Turm werfen, du hast auf unsere Lenden eine Last gelegt. Du hast Menschen lassen über unser Haupt fahren. Wir sind in Feuer und Wasser gekommen, aber du hast uns ausgeführt und erquickt.
Psalm 66, 11 und 12

Vorwort
Wie kann man lernen, mit einer psychischen Behinderung zu leben? Ich war im Gespräch mit ein paar Frauen und sprach von »meiner« Krankheit. Das gefiel ihnen nicht, ich sollte diese Krankheit nicht festhalten, als gehöre sie zu mir.
Ich sehe das etwas anders. Ich habe gelernt, mich zu akzeptieren, auch mit dieser Psyche. Diese Veranlagung ist ein Teil von mir, den ich besonders sorgsam behandeln muss. Ich bin nicht zufällig so; mein Vater im Himmel hat mich so gemacht. Diese Betrachtungsweise hat mir schon oft geholfen, mich zu verstehen. Neben dieser bis zum Krankhaften sensiblen Seele hat Gott viel Schönes in mich und in mein Leben gelegt. Ich bin dankbar für meinen Mann, meine beiden Stiefsöhne und meine Eltern und meine Schwester, die immer wieder versuchen, mich zu verstehen, und tragen, wenn es nötig ist. Dass ich diese Krankheit annehmen kann, liegt auch an diesem guten Umfeld, an der Liebe, die ich erfahre.
Vor allem bin ich mir immer Gottes großer Liebe bewusst. Er macht nie einen Fehler und das macht mich – auch nach manchen Kämpfen – wieder ruhig und gelassen. Die Fragen, die ich noch habe, was mein eigenes Leben betrifft und das der anderen Menschen, hebe ich mir auf und möchte sie ihm stellen, wenn ich ihn mal von Angesicht sehe.

Eine große, weiche, leichte Decke breitet sich über das Bett in unserer Ferienwohnung in Nordspanien. Sie gibt mir Geborgenheit und Sicherheit – genau das habe ich in meiner Ehe gefunden. Leben können, nah beieinander, manchmal mit Abstand, aber einander nie aus den Augen verlieren ... Geliebt werden, auch wenn man versagt hat, vielleicht schuldig geworden ist.
Mein Leben war wie ein kleines Boot, das zuweilen auf recht stürmischer See umhertrieb und manchen Schiffbruch erlitten hatte. Dann hat mich mein Mann in sein großes Schiff genommen, das sicher und gleichmäßig dahinfuhr. Ich zweifelte am Anfang, ob er mich liebte. Angst und Unsicherheit hatten mich immer wieder umgetrieben. Sie waren zu einem Teil meines Charakters geworden. Die Angst war aber trotz aller Einschränkung auch eine Hilfe, die mich gewissermaßen zusammenhielt, bewahrte vor dieser schrecklichen Verwirrung, wenn meine Gedanken außer Kontrolle gerieten und der Wahnsinn überhand nahm. Ich schluckte Medikamente, lernte mich und meine Krankheit kennen und lernte mich selbst einzuschätzen. Ich schonte mich, zog mich zurück, richtete mein Leben ein nach dieser Krankheit. Ich bejahte sie früh.
Eines Tages war es wie eine Explosion über mich gekommen. Überwältigende Angst. Angst klingt noch zu schwach, Panik, Kontrollverlust über Gedanken und Wahrnehmungen, über Gefühle, über mich selbst. Nichts war ausgenommen. Ich fühlte die Angst nicht nur, ich war nur noch Angst, personifizierte Angst. Wie ein Geschwür, das aufbricht, nur ergießt sich der Eiter nicht im Körper, sondern in den Sinnen.
Wo war Gott in dieser Zeit? Ich wusste es nicht, irgendwo wird er gewesen sein, vielleicht da, wo er immer war. Beobachtete er mich und bestrafte mich, von oben herab?
Meine Welt, meine kleine Kinderwelt war untergegangen und auch meine Jugend wurde mitgerissen. Ich war siebzehn Jahre alt. Das, was meine Seele ausmachte, war gestorben. Und doch lebte ich noch, mein Körper hatte überlebt. Ich war gefallen, aus endloser Höhe, tiefer und immer tiefer, dann ein harter Aufprall, aber kein erlösender Tod. Kein seliges Hinübergleiten. Wach werden und begreifen, ohne wirklich zu verstehen, dass es mich noch gab. Ich kann mich nicht erinnern, wann man mir sagte, was das für eine Krankheit sei. Man sprach von einer Psychose.
Dieses Erwachen oder besser gesagt: Wieder-zu-mir-selbst-Kommen, fand in einem großen Schlafsaal statt. Grelles Licht blendete mich, ein paar Frauen liefen umher, seltsame Gestalten. Ich wusste nicht, wo ich war, konnte nicht aufstehen, meine Arme waren am Bett festgeschnallt und auch über dem Bauch war ein Gurt, den man aufschließen musste. Was war bloß geschehen, was hatte ich getan, was hatte ich verbrochen? Vergitterte Fenster nahm ich wahr. Eine Frau sah aus wie eine Krankenschwester, sie gab mir etwas zu essen und zu trinken. Sie beantwortete meine Fragen nicht. Woher erfuhr ich, wo ich war? Psychiatrie, Irrenhaus, Klapsmühle ... Zuerst bildete ich mir ein, ich sei gestorben. Die Tage vergingen. Ich erinnere mich kaum an diese Zeit nach der Einlieferung.
Eines Tages verlangte ich nach meiner Bibel. Meine Großeltern hatten sie mir geschenkt, sie hatte einen Ledereinband mit Reißverschluss. Ich wollte sie öffnen, eine Seite zerriss, meine Hände waren unbeholfen, ich war noch angeschnallt. Nach vier Wochen durfte mich meine Mutter besuchen. Ich konnte mich nicht freuen. Meine Gefühle waren nicht fühlbar, es kam mir vor, als wären sie tot. Wir saßen in einem kleinen Zimmer, nach wenigen Momenten wollte ich wieder ins Bett. Ich war schwach, hatte keine Kraft zu reden. Wie mag es meiner Mutter bei all dem gegangen sein? Nichts tun können und auch nichts verstehen von dem, was hier geschah? Ich bekam viele Medikamente: Valium, das ich nicht nehmen wollte, weil ich Angst davor hatte. Eine Lehrerin hatte im Religionsunterricht davor gewarnt. Die Schwestern logen mich einfach an. Nein, das sei kein Valium. Dominal forte zum Schlafen, Atosil-Tropfen, Glianimon, Akineton für die Nebenwirkungen.
Nach etlichen Wochen durfte ich tagsüber in den großen Saal, in dem die Frauen saßen oder umhergingen. Die Fenster waren hier ebenfalls vergittert, die Türen abgeschlossen. Ein Radio spielte, es gab nichts zu tun. Ich hätte auch nichts tun können. Wenn ich lief, hielt ich die Arme angewinkelt, meine Schritte waren unsicher, der ganze Körper verkrampft. Die Schwestern machten sich über mich lustig. Wussten sie nicht, dass ich nicht anders konnte? »Christkindl« nannten sie mich, als vor Weihnachten der Baum geschmückt wurde. Ich konnte mich nicht wehren, schämte mich, und konnte mich nicht einmal ärgern. Die Schwestern waren hart und lieblos. Nur eine Schwester war anders. Alle Patientinnen riefen ihren Namen, wenn sie unsere Medikamente ausgab. Sie hieß Anneliese, ich habe es bis heute nicht vergessen. Sie hatte immer ein aufmunterndes Wort für jede Frau, wenn sie uns die Medikamente gab. Sie machte keine abfälligen Bemerkungen, eigentlich war es nicht viel, nichts Außergewöhnliches. Die anderen Schwestern waren giftig, wir trauten uns nicht, uns zu wehren, denn das wäre auf uns zurückgefallen.
Meine Gefühle waren wie unter einem Gipsverband. Es fühlte sich an, als sei mein Körper ausgehöhlt. Wenn das Essen auf den Tisch kam, schlossen die Schwestern die Toilette ab. Niemand sollte mit dem Messer auf der Toilette verschwinden und sich etwas antun. Das Besteck wurde auf die Holztische geworfen. Das Geräusch erschütterte mich jedes Mal. Seltsames Gerede am Tisch. Es schmeckte mir nicht, ich nahm in der Zeit zehn Kilo ab. Eine Holländerin am Tisch sagte bei jeder Mahlzeit dasselbe: »Butter ist Nervenfutter.« Damals waren alle auf einer Station, eine Rauschgiftabhängige, die seltsame Tänze aufführte, eine Mörderin und andere, die gar nicht ansprechbar waren. Eine dicke Frau war stark geschminkt und stopfte Unmengen von Schokolade in sich hinein.
Meine Mutter konnte jetzt öfters kommen. Nach der Mittagsruhe stand sie unten, eine Schwester öffnete das große Holzportal. Sie stand da in ihrem kurzen grauen Mantel und schaute mich aufmunternd an. Es war das einzige, was mich ein wenig erfreute: wenn meine Mutter kam. Wir gingen in dem Park spazieren, am Anfang war ich schwach und ging verkrampft neben ihr her. Die Medikamente, die meine Seele ins Gleichgewicht bringen und meine Gedanken in die richtigen Bahnen lenken sollten, hatten enorme Auswirkungen auf meinen Körper. Mein Blick war starr, meine Bewegungen steif. Ich konnte mich überhaupt nicht konzentrieren.
Ich weiß nicht, ob man mir erklärte, was Elektroschocks sind. Ich wollte sie nicht haben, weil ich dachte, man bringt mich damit um. Ich bekam vier davon. Später sah ich mal im Fernsehen: Ab vier Elektroschocks kann es gefährlich werden für das Gehirn. Meine Ärztin war nett. Ich verstand aber oft nicht, was sie von mir wollte, wenn sie mit mir redete. »Fräulein Spalek«, sagte sie zu mir, das war fremd, ich war es gewohnt, mit dem Vornamen angeredet zu werden. Eine Schwester fragte meine Mutter, ob so eine Krankheit schon einmal in der Familie vorgekommen sei. Meine Mutter verneinte, dachte nicht an eine Tante und Großtante, die ebenfalls die gleiche Krankheit hatten. Es waren Verwandte meines Vaters, bei denen sich die Krankheit aufgrund ihrer Lebenssituation anders geäußert hatte. Eines Tages fuhr meine Mutter mit mir raus, wir verließen das Klinikgelände. Sie durfte das nicht, aber wir machten es einfach. Oft brachte sie was Leckeres zum Essen mit. Als Schwestern behaupteten, ich hätte schon einen Joghurt gegessen, wurde sie ärgerlich und meinte, ihre Tochter lüge nicht. Meine Mutter wird selten ärgerlich. Ich sah den Schmerz im Gesicht meines Vaters, als er mich besuchte. Seine fröhliche Tochter, wie konnte das geschehen?
Nach vier Monaten wurde ich entlassen. Für mich kam es überraschend, zum ersten Mal fühlte ich so etwas wie Freude. Im letzten Monat meines Klinikaufenthaltes war ich meistens am Wochenende zu Hause gewesen. Als ich versuchte, auf meiner Geige zu spielen, brachte ich kaum einen Ton heraus. Ich konnte nicht lesen, da die Konzentration völlig fehlte. Ich wollte möglichst bald wieder zur Schule gehen. Ich war bis zur elften Klasse in ein katholisches Mädchengymnasium gegangen, die Direktorin hatte mich in die zwölfte Klasse versetzt, ich sollte den Anschluss nicht verpassen. Die Ärztin sagte zu meiner Mutter bei meiner Entlassung: »Ihre Tochter wird nie ohne Medikamente leben können.« Meine Mutter war verzweifelt. Die Ärztin sollte recht behalten.
Meine Eltern sagten nur ganz wenigen Bekannten, in welcher Klinik ich war. Es war eine große Psychiatrie, ein Landeskrankenhaus, das in der ganzen Gegend als »Irrenhaus« bekannt war. Meine Eltern schämten sich nicht, weil ich in dieser Klinik war, sie wollten mir aber das Zurückkommen erleichtern.
Es ist schwer, meine Krankheit zu beschreiben. Was erlebt man, wenn man eine Psychose hat? Schließlich ist es auch schwer Schmerzen zu beschreiben, die ein anderer nicht kennt. Wahrscheinlich ist eine Psychose bei jedem Kranken anders, weil jeder Mensch anders denkt und anders empfindet. In späteren Jahren kam bei mir eine psychotische Episode nie aus heiterem Himmel. Auch wenn ich die Anzeichen zunächst nicht erkannt habe, wurde mir später klar, was nicht richtig gelaufen war. Einem Zusammenbruch, einem »Ausflippen«, gingen immer Wochen oder auch Monate großer Betriebsamkeit und Gefühlsschwankungen voraus. Gefühlsschwankungen und Aktivität sind aber nicht immer krankhaft, deshalb sind die Anfänge einer Manie, die in eine Psychose münden kann, so schwer zu erkennen. Man fühlt sich zunächst auch wirklich gut, aktiver und kreativer als sonst, und man wundert sich, was man alles bewältigen kann. Gefährlich wurde es bei mir immer, wenn Schlaflosigkeit dazu kam. Da musste ich mit Beruhigungsmitteln reagieren. Als junges Mädchen kannte ich mich nicht so gut und wusste nicht, wie ich das alles einordnen konnte. Deshalb war ich oft in den Kliniken. Wenn ein bestimmter Punkt überschritten war und ich nicht mehr zur Ruhe kam, gingen meine Gedanken durcheinander. Ich überbewertete das, was in meiner Umgebung geschah, verstand manches falsch, fühlte mich in die Enge getrieben und beobachtet. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch ein normales Leben führen, aber wenn ich jetzt keine Medikamente nahm, steigerte sich das Ganze bis zu einer Psychose. Ich war total unruhig, sagte Dinge, die meine Mitmenschen nicht einordnen konnten, und dann gab es kein Zurück mehr: Ich musste in eine Klinik.
Ich schrie, schlug um mich, wehrte mich gegen Krankenschwestern und -pfleger und bekam Spritzen, um ruhig gestellt zu werden. Ich hatte Todesängste, Angst hypnotisiert zu werden. Wenn eine Psychose relativ plötzlich kam, stellte ich mir manchmal vor, dass bestimme Farbenfolgen etwas zu bedeuten hatten. Ich kann nicht sagen, was die Farben bedeuten sollten, ich bildete mir nur ein, sie hätten mir etwas zu sagen. Namen spielten auch eine Rolle. Ein bestimmter Vorname sollte mir etwas sagen. Was das war, weiß ich nicht, es war verworren und ich verstand es damals auch nicht, viel weniger heute. Ich dachte auch, ich müsse bestimmte Worte aussprechen, vielleicht Verse aus der Bibel. Würde ich dann zu einer Erlösung beitragen, würde Jesus dann wiederkommen auf die Erde? Warum konnte ich nicht normal denken?
Die Verwirrung trat in den Psychosen anfallsartig auf, ich war immer nur kurzfristig verwirrt, kam dann wieder zu mir und konnte danach klar denken. Es war wie ein Erwachen, und ich stellte fest, dass ich mir vieles nur eingebildet hatte.
Bei mir waren die psychotischen Gedanken immer verbunden mit meinem Glaubensleben. Ich habe erlebt, dass auch andere Menschen in der Psychiatrie laut Kirchenlieder sangen oder sich für Jesus hielten. Wie weit sie mit dem Glauben zu tun hatten, weiß ich nicht. Ich denke aber, der Glaube und all das Mystische, das mit dem Glauben zu hat, geht sehr tief in unser Denken, berührt uns im Innersten und kommt dann auch in dem krankhaften, verwirrten Denken zum Ausdruck. Es mag für andere gläubige Menschen unverständlich sein, dass ich in solchen Phasen meines Lebens die Bibel eher zur Seite gelegt habe, weil mich bestimmte Gedanken beunruhigt hätten.
Ich dachte, der normale Alltag könnte nach meiner ersten Entlassung bald wieder beginnen. Wie sehr hatte ich mich da getäuscht! Ich war unbeholfen, unsicher, konnte nicht alleine sein, weil ich nichts mit mir anfangen konnte. Wenn ich singen wollte, kamen falsche Töne heraus, und ich war in allem ziemlich ungeschickt. Ich konnte nicht weinen und wenn ich lachte, klang es unnatürlich. Ich hatte das Gefühl, mein Lachen war wie ein Krampf, den ich nicht kontrollieren konnte. Auch über meinen Speichel hatte ich keine Kontrolle und beim Essen musste ich ganz vorsichtig sein, damit ich mich nicht verschluckte. Meine Speiseröhre schien durch die Medikamente verengt zu sein. Besonders schlimm waren meine Konzentrationsschwierigkeiten, weil ich deshalb nicht lesen konnte. Wie sollte ich da wieder in die Schule gehen? Am liebsten kroch ich zu meiner Mutter ins Bett wie ein kleines Kind. Meine Sprache war oft undeutlich und man konnte mich schlecht verstehen. Ich wollte gern wieder in die Schule gehen. Ich sehnte mich nach meinen Klassenkameradinnen, die mir ein Päckchen mit Weihnachtsgebäck in die Klinik geschickt hatten.
Aufgrund der Konzentrationsstörungen blieb ich zu Hause, half manchmal meiner Mutter im Haushalt oder war im Uhrengeschäft meiner Eltern. Mein Vater ist Uhrmacher und betrieb ein Uhren- und Schmuckgeschäft, in dem es manchmal Geldsorgen gab. Diese Nöte meiner Eltern betrafen auch mich und ihre Probleme waren auch meine. Heimlich steckte ich ihnen Geld zu, wenn Rechnungen zu bezahlen waren. Meine Schwester, die zwei Jahre älter ist als ich, war bereits ausgezogen. Nach dem vielen Streiten in der Kinderzeit waren wir Freundinnen geworden. Sie ist ruhiger als ich, ich galt immer als die Unkomplizierte, Aufgeweckte. Schon als kleines Mädchen war ich schlagfertig und ging gern in die Schule, weil da immer etwas los war. Mit den anderen Mädchen reden und Spaß haben, das gefiel mir.
In der Schule hatte ich vor allem mit Mathematik Schwierigkeiten. Ich saß im Unterricht oft da, schaute in die Luft und verstand nichts. Ich konnte das, was mir zufiel, zum Beispiel im Deutschunterricht mich in andere Menschen hineindenken. Mir etwas zu erarbeiten, das war schwer. Handarbeiten machte ich gern, aber ich war oft nicht so geschickt, was mich nie davon abhielt, zu stricken, zu sticken oder zu häkeln. Als ich in das Gymnasium in unserer Stadt kam, hörte eine schöne Zeit meiner Schulzeit auf. Die ersten vier Jahre in der kleinen Waldschule, so hieß unsere Grundschule, waren schön gewesen, ein netter, verständnisvoller Lehrer, alles war überschaubar. Ich hütete ab und zu die Kinder meines Lehrers und verkleidete mich im Dezember als Nikolaus – mit großem Erfolg. Im nächsten Jahr kam ich auf »Bestellung« meines Lehrers. War das der Grund für einigermaßen gute Noten, gut genug fürs Gymnasium?
Ich fühlte mich verloren in dieser riesigen Schule. Meine Mutter dachte, ich sei zu faul für Latein und so kam ich in den mathematischen Zweig. Die Lehrer machten uns bald klar, dass wir zu viele Schüler wären, sie wollten »ausdünnen«.
Ich war ungefähr acht Jahre alt, als ich beschloss, ich wollte mein Herz dem Heiland schenken. So drückte man das damals aus. Schon vor dieser Zeit hatte ich gebetet, wenn ich abends im Bett lag. Der Glaube an Gott war mir etwas Selbstverständliches, er gehörte einfach zu meinem Leben dazu. In der Gemeinschaft, in die meine Eltern damals noch gingen, gab es allerdings viel moralischen Druck, was mir ziemlich zu schaffen machte. »Jesus kommt wieder – sind wir bereit?« Das machte mir Angst, es war so etwas Unverhofftes, was plötzlich in mein Leben hineinbrechen konnte. Trotzdem hatte ich eine Ahnung in mir von einem liebenden Gott, der mich so annahm, wie ich war. Ich hatte nie aufgehört, an Gott zu glauben und zu beten, selbst in den schweren Zeiten meines Lebens.
In Notizen, die ich in meiner so genannten »Stillen Zeit« aufgeschrieben habe, sehe ich, mit welchen Gedanken ich mich im Alter von fünfzehn Jahren beschäftigt habe. Ich gab mir selbst Befehle: Regelmäßig »Stille Zeit« machen. Wenn ich Gott liebe, hänge ich mich nicht an andere Dinge, an die Welt, weil ich von ihm und seiner Liebe ausgefüllt bin. Seine Liebe führt zu Taten und eigentlich hat man da gar keine Zeit, an sich zu denken und sich um weltliche Dinge zu kümmern ... Sorgen ist verkehrt, wenn wir unabhängig von der Welt sind. Wir sollten fest sein, wenn andere uns nicht verstehen ... Wenn das Ich auf dem Thron sitzt, regiert Jesus nicht ... Du bist gewillt mir nachzufolgen, aber bist du auch gewillt, ein unbequemes Leben zu führen? Bist du bereit, die Sicherheit deines Heims zu opfern? Unsere Verwandten sollen uns nie wichtiger sein als Jesus. Jesus ruft sofort in den Dienst. Ich brauche Leute, die mich ganz bewusst auf Fehler und Schwierigkeiten an meinem Wesen stoßen. Ich brauche seine Liebe intensiv, dass ich mein Ego bekämpfen kann. Christ sein heißt herauszutreten und die Schmach Christi zu tragen ...
Ich klagte mich selbst an wegen meines Verhaltens. Ich rüttelte mich selbst immer wieder auf zu einem »geistlichen« Lebensstil. Ich fühlte mich verantwortlich für andere, wollte ihnen seelsorgerlich helfen, für sie beten. Ich nahm mir vor, über Bibelversen zu meditieren. Ich wollte funktionieren, alles erfüllen, was mir (von wem?) aufgetragen war. Ich wollte Jesus ganz nachfolgen. Es war mir wichtig, anderen zu helfen, die Probleme von Freundinnen im Blick zu haben. Ich war bereit, Gottes Strafe zu erdulden, wenn ich es nötig hatte.
Heute fällt mir die Absolutheit und Ernsthaftigkeit auf, mit der ich mich mit dem Glauben beschäftigte. Ich freute mich nicht einfach – schließlich war ich erst fünfzehn Jahre alt –, dass ich an Gott glauben konnte, dass Jesus mich liebt. Ich machte mir selbst Druck, spornte mich an und genügte nie wirklich dem geistlichen Bild, das mir vorschwebte. Ich saugte alles, was mit dem Glauben zu tun hatte, in mich auf, wollte es behalten und anwenden für mein Leben. Ich war schlecht, Gott konnte etwas Gutes aus mir machen. Ich beschäftigte mich mit den geistlichen Dingen und sah alles durch diese »Brille« des Glaubens. Wer hatte mir das nur alles eingeredet?! Ich war doch eigentlich ein fröhliches, lebenslustiges Mädchen. Die Gedanken, die ich in meinen Notizen von damals fand, konnten nicht nur von mir stammen. Warum hatte ich das alles so aufgesogen und mir selbst diesen Druck gemacht?
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