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(10) Verdächtig war jedoch Cicero Caesar und dem Pompeius dadurch geworden, und er bestärkte noch diesen Verdacht durch seine Verteidigung des [Gaius] Antonius. Dieser hatte in seiner Provinz Makedonien und unter den Bundesgenossen gewaltig gewirtschaftet, aber auch vielfache Verluste erlitten. 2 Nachdem er das Land der Dardaner und ihrer Nachbarn verwüstet hatte, wagte er nicht, ihnen Stand zu halten, sondern ritt unter dem Vorwand einer anderweitigen Absicht zurück und entfloh. So umringten jene das Fußvolk, trieben es aus dem Land und nahmen ihm die gemachte Beute wieder ab. 3 Als er auf gleiche Weise gegen die Bundesgenossen in Mysien verfuhr, wurde er bei der Stadt der Istrianer von den Bastarnen, einem skythischen Volk, die ihnen zu Hilfe kamen, aus dem Feld geschlagen und entrann. Er wurde jedoch nicht deshalb, sondern wegen Teilnahme an der Catilinarischen Verschwörung angeklagt; wegen des Ersteren aber wurde er verurteilt, 4 und es fügte sich, dass er dessen, wessen er angeklagt worden war, nicht überführt, dessen aber, wessen er nicht angeklagt war, bestraft wurde; er musste sich also aus der Stadt entfernen, Cicero aber, der ihn als seinen Amtsgenossen verteidigte, erlaubte sich heftige Ausfälle gegen Caesar als den Urheber der Anklage und schimpfte auch auf denselben.
(11) Dieser grollte ihm zwar deswegen, wie natürlich, erlaubte sich aber, obgleich Konsul, weder in Worten noch durch die Tat eine Beleidigung wider ihn. Denn viele, sagte er, hätten die Gewohnheit, sich in leeren Schmähungen gegen diejenigen zu ergehen, deren Übermacht sie fühlten, um sie zur Hitze zu reizen und sich, wenn sie etwas Ähnliches dagegen hören, gleich oder ähnlich zu dünken. 2 Darin wollte er sich mit keinem messen und benahm sich sowohl gegen andere, die ihn verunglimpften, nach diesem Grundsatz, als auch gegen Cicero. Als er sah, dass es dem Cicero nicht so sehr darum ging, ihn zu schelten, als etwas Ähnliches von ihm zu hören, um sich auf gleiche Stufe mit ihm zu stellen, achtete er nur wenig auf ihn und kehrte sich nicht an seinen Reden, sondern ließ sich von ihm mit Schmähworten, wie mit Lobsprüchen überhäufen, 3 ohne ihn jedoch ganz aus dem Auge zu verlieren. Er hatte wirklich eine langmütige Natur und war nicht so bald zum Zorn gereizt. Viele, wie sich in seinen Verhältnissen erwarten ließ, strafte er, aber nicht mit Leidenschaft, auch nicht auf der Stelle. 4 Er tat nichts im Affekt, lauerte stets auf den günstigen Augenblick und hatte die meisten bestrickt, bevor sie sich’s versahen. Er hatte es nicht auf augenfällige Rache abgesehen, sondern wollte alles so unbemerkt wie möglich zu seinem Vorteil kehren. 5 Ohne Vorboten und wo man sich am wenigsten versah, rächte er sich daher, teils seines Rufes wegen, um nicht leidenschaftlich zu erscheinen, teils auch, damit keiner, vorher gewarnt, sich vorsehe und es vorziehe, der angreifende statt der angegriffene Teil zu sein. Sein Hauptaugenmerk bei ihm zugefügten Übeln war, deren Folgen aufzuheben. 6 Daher verzieh er auch vielen, die ihn schwer beleidigt hatten, oder nahm gelinde Rache, weil er glaubte, dass sie ihm nicht mehr schaden würden. Dagegen rächte er sich der eigenen Sicherheit wegen an vielen empfindlicher, als es angemessen war, und meinte, dass das Geschehene sich nicht mehr ungeschehen machen lasse, dass er aber durch die strenge Bestrafung sich jedenfalls gegen ähnliche Gefahren absichere.
(12) Aus diesen Rücksichten rührte er sich selbst damals nicht, stiftete aber den Clodius, der ihm dafür, dass er ihn nicht des Ehebruchs angeklagt hatte, einen Gegendienst erweisen wollte, insgeheim gegen Cicero auf. 2 Zuerst verhalf er ihm unter dem Beistand des Pompeius zu einem gesetzlichen Übertritt in die Rechte des Bürgerstandes und setzte dann sogleich seine Wahl zum Volkstribun durch. 3 Dieser Clodius brachte nicht nur Bibulus, als derselbe beim Ablauf seines Amtes auf dem Forum erschien und außer seinem Eid auch noch über die Lage des Staates sprechen wollte, zum Stillschweigen, sondern begann auch sogleich seinen Angriff auf Cicero. 4 Weil er aber sah, dass ein Mann, der durch seine Beredsamkeit von solchem Gewicht im Staat war, nicht so leicht zu stürzen war, suchte er vorerst nicht nur das Volk, sondern auch die Ritter und den Senat, bei denen Cicero sehr viel galt, auf seine Seite zu bringen, in der Hoffnung, wenn er diese für sich hätte, ihn, dessen Einfluss sich mehr auf Furcht als auf Wohlwollen gründete, leicht zu Fall zu bringen. 5 Er stieß nämlich sehr vielen durch seine Reden vor den Kopf, und die Freundschaft derer, denen er genützt hatte, war nicht so fest, wie der Hass derer, denen er geschadet hatte. Außer dem, dass die meisten Menschen unangenehme Begegnungen viel eher nachtragen, als für erzeigte Wohltaten erkenntlich sind und ihren Verteidigern ihren Lohn bezahlt zu haben glauben, sich aber an Gegnern auf jede Weise zu rächen suchen, 6 hatte er sich die bittersten Feinde gemacht, indem er sich über die Angesehensten zu erheben trachtete, und sich gegen alle ohne Unterschied einer Freimütigkeit im Reden bis zum Übermaß und oft bis zum Überdruss bediente. Denn er strebte, selbst auf Kosten des Anstands nach dem Ruhm, für den klügsten Staatsmann und den besten Redner zu gelten. 7 Deshalb also, und weil er sich als den größten Mann rühmte und keinen sich an die Seite stellte, sondern an Weisheit und Lebensklugheit alle zu übertreffen glaubte und nicht wie andere Menschenkinder veranlagt sein wollte, war er lästig und unerträglich. So wurde er denn selbst von denen, welchen er sonst zu Gefallen war, beneidet und gehasst.
(13) Clodius glaubte, wenn er den Senat, die Ritter und das Volk für sich gewonnen habe, bald mit ihm fertig zu werden, verteilte deshalb wieder unentgeltlich Getreide, 2 denn er hatte schon, als Gabinius und Piso Konsuln waren, eine Verteilung an die Armen vorgeschlagen und führte die Zünfte, in der Landessprache Collegia genannt, die von alter Zeit her bestanden hatten, seit Kurzem aber aufgehoben waren, wieder ein. Den Zensoren aber verbot er, jemandem aus seinem Stand zu streichen und zu entehren, wenn er nicht vor beiden Zensoren gerichtet und schuldig befunden worden sei. 3 Nachdem er sie hierdurch geködert hatte, beantragte er ein anderes Gesetz, über das ich weitläufiger sprechen muss, um der Mehrzahl meiner Leser verständlich zu werden. Unter den öffentlichen Auspizien, die man am Himmel und an Gegenständen (wie schon erwähnt) anstellte, waren die am Himmel die wichtigsten, sodass die anderen mehrmals und bei jeder Handlung vorgenommen wurden, jene am Himmel aber nur einmal für den ganzen Tag stattfinden durften. 4 Schon dies war ganz eigentümlich dabei und noch mehr, dass sie bei allen anderen Dingen etwas vorzunehmen erlaubten, und dass dieses dann geschah, ohne dass bei jeder einzelnen Handlung eine besondere Vogelschau nötig war, oder aber, dass sie etwas verhinderten und aufschoben, die Abstimmung des Volkes hingegen jederzeit unterbrachen. Bei diesen waren sie immer ein Götterverbot, sie mochten günstig oder ungünstig sein. 5 Den Grund dieses Gebrauchs weiß ich nicht, ich erzähle nur, was man sagt. Weil nun manche, um die Verabschiedung neuer Gesetzvorschläge oder die Wahlen zu obrigkeitlichen Ämtern zu hintertreiben, meldeten, dass sie an diesem Tag die Erscheinungen des Himmels beobachtet hätten und das Volk daher keinen Beschluss fassen könne, 6 und Clodius befürchtete, es möchten einige, wenn er Cicero anklage, auf diesem Wege das Gerichtsverfahren unterbrechen und hinausschieben, so schlug er als Gesetz vor, dass kein Staatsbeamter an solchen Tagen, da das Volk eine Entscheidung zu fassen habe, die Erscheinungen am Himmel beobachten dürfe.
(14) Solche Vorschläge machte er damals gegen Cicero, und als jener seine Absicht merkte und den Volkstribun Lucius Ninnius Quadratus zum Einspruch gegen dieselben veranlasste, so fürchtete jener Unruhe und Verzögerung und suchte ihn durch Schmeicheleien zu hintergehen. 2 Er versicherte ihm, dass er, wenn er keinen seiner Gesetzesvorschläge hindere, keine Klage wider ihn erheben wolle, setzte, als Cicero und Ninnius sich ruhig verhielten, dieselben durch und machte sich dann an Cicero selbst. 3 So wurde denn er, der der klügste Mann im Staat sein wollte, von Clodius (wenn man anders diesen und nicht vielmehr Caesar und seine Verbündeten nennen will) überlistet. 4 Der Gesetzesvorschlag, welchen Clodius hierauf machte, schien nicht auf ihn, dessen Namen nicht einmal genannt war, sondern überhaupt auf alle zu zielen, welche einen Bürger ohne Verurteilung des Volkes umbrächten oder umgebracht hätten. In Wirklichkeit aber war es damit hauptsächlich auf ihn abgesehen. 5 Zwar ging er an den ganzen Senat, dass er den Konsuln die Wahrung der Sicherheit des Staates und somit die Erlaubnis zu solchen Gewaltmaßnahmen gegeben und hierauf Lentulus und dessen Mitgefangene zum Tode verurteilt hätte. 6 Weil aber Cicero sie angeklagt, wider sie Reden gehalten hatte, den Beschluss fassen und zuletzt die Strafe durch die bestimmten Diener hatte vollziehen lassen, so lag auf ihm die hauptsächliche, wenn nicht alleinige Schuld. 7 Weshalb auch dieser nicht nur überall alle möglichen Schritte dagegen tat, sondern auch das Senatorengewand ablegte, im Ritterkleid umherging und bei allen, welche Macht besaßen, Freunden und Feinden, besonders aber bei Pompeius und Caesar (der ihn seine Feindschaft gegen ihn nicht merken ließ) bei Tag und Nacht Besuche machte und um ihre Gunst warb.
(15) Jene wollten sich nicht den Anschein geben, als ob sie Clodius angestiftet hätten oder dessen Anklage billigten, und ersannen folgende, für sie selbst nicht unrühmlich erscheinende, jenem aber undurchschaubare Täuschung: 2 Caesar riet ihm zu weichen, um nicht, wenn er im Lande bliebe, sein Leben in Gefahr zu setzen. Um ihn aber zu überzeugen, dass er es gut mit ihm meine, erbot er sich, ihn als Legaten mitzunehmen, sodass er nicht verunglimpft als ein Angeklagter, sondern ehrenvoll als Befehlshaber dem Clodius aus den Händen komme. 3 Pompeius aber brachte ihn davon ab, indem er dies als Flucht bezeichnete und ihm zu verstehen gab, dass Caesar ihm nicht aus lauterer Absicht so geraten habe. Sein Rat dagegen war, er solle bleiben, sich und den Senat freimütig verteidigen und dem Clodius kühn die Stirn bieten. 4 Wenn er gegenwärtig sei und ihm widerstehe, könne jener nichts ausrichten und werde sogar selbst in Strafe fallen, wenn er [Pompeius] ihm zur Hand ginge.
Solches sagten sie nicht, weil sie verschiedener Meinung gewesen wären, sondern um ihn desto verdachtsloser auflaufen zu lassen. 5 Er entschied sich für den Rat des Pompeius, denn er hatte nicht nur keinen Argwohn gegen ihn, sondern hoffte vielmehr dadurch gerettet zu werden, weil er, im Besitz der allgemeinen Achtung und Wertschätzung, unter den gefährlichsten Umständen schon viele Männer teils den Richtern, teils den Anklägern entrissen hatte, 6 weil aber gleichzeitig Clodius, wegen früherer Verwandtschaft mit Pompeius, und weil er ihn lange auf seinen Feldzügen begleitet hatte, alles nach dessen Sinn zu tun schien. Gabinius, der mit ihm [Pompeius] eng befreundet war, und Piso, als ein rechter Mann und Caesars Verwandter, konnten ihm voraussichtlich nicht zur Seite stehen.
(16) Auf diese Gründe seine Hoffnung auf Sieg bauend (wie er überhaupt ebenso unbedacht in der Hoffnung wie in der Furcht war) und weil er besorgt war, durch Weggehen ein böses Gewissen zu verraten, dankte er Caesar für sein Anerbieten und folgte dem Pompeius. 2 Auf solche Weise ermutigt, benahm er sich, als ob er einen glänzenden Sieg über seine Feinde schon in Händen hätte, denn zu den schon erwähnten Hoffnungen kam noch, dass die Ritter sich auf dem Capitol versammelten und seinetwegen einige aus ihrer Mitte nebst den Senatoren Quintus Hortensius und Gaius Curio als Abgeordnete an die Konsuln und den Senat abschickten. 3 Auch Ninnius tat sich für ihn um und ermahnte unter anderem das Volk, wie bei einem den Staat betreffenden Unglück, die Kleidung zu wechseln. Viele auch der Senatoren taten es und legten das Trauergewand nicht früher ab, als bis ihnen die Konsuln durch ein eigenes Edikt verboten, es zu tragen. 4 Aber seine Gegenpartei war dennoch mächtiger: Clodius gestattete dem Ninnius nicht, zu seinen Gunsten etwas beim Volk zu tun, und Gabinius untersagte den Rittern den Zutritt in den Senat und verwies sogar einen derselben, welcher sehr zudringlich war, aus der Stadt, Hortensius und Curio aber machte er Vorwürfe, dass sie ihrer Versammlung beigewohnt und die Gesandtschaft angenommen hatten. 5 Clodius aber stellte sie vor das Volk und ließ sie für ihre Gesandtschaft durch einige dazu aufgestellte Leute durchprügeln. Piso, welcher bisher gegen Cicero Wohlwollen gezeigt und ihm als einziges Rettungsmittel den Weggang aus der Stadt angeraten hatte, kam, 6 als ihm Cicero darüber zürnte, sobald es ihm seine schwächliche Gesundheit erlaubte, in die Volksversammlung und erklärte, von Clodius befragt, was er von dem vorgeschlagenen Gesetz halte: »Keine grausame, tückische Handlung gefällt mir!« Gabinius aber, an welchen dieselbe Frage erging, lobte Cicero nicht nur nicht, sondern tadelte überdies die Versammlung der Ritter.
(17) Caesar nun, welcher bereits mit dem Heer aus der Stadt gezogen und um dessentwillen Clodius das Volk außerhalb der Mauern versammelt hatte, um ihn zum Schiedsrichter über sein Gesetz zu machen, erklärte das Verfahren gegen Lentulus für ungesetzlich, 2 missbilligte aber die darüber vorgeschlagene Strafe. Seine Ansicht über die Sache wüssten alle (er hatte nämlich nicht für ihren Tod gestimmt), jedoch sei es nicht billig, rückwirkend ein solches Gesetz abzufassen. Soweit Caesar. 3 Crassus ließ zwar durch seinen Sohn für Cicero Schritte tun, er selbst aber war aufseiten der Menge. Pompeius versprach ihm Hilfe, machte aber bald diese, bald jene Ausflüchte, war immer verreist und – half ihm nicht. 4 Als nun Cicero sah, wie seine Sache stehe, und für seine eigene Person fürchtete, beschloss er, noch einmal die Waffen zu ergreifen, und schalt jetzt öffentlich sowohl auf andere als auch auf Pompeius. Auf Zureden Catos und Hortensius’ aber, welche einen Bürgerkrieg befürchteten, entwich er mit Schimpf und Schande aus der Stadt, als ob er sich schuldbewusst in freiwillige Verbannung begäbe. 5 Bevor er jedoch die Stadt verließ, ging er aufs Capitol und stellte ein kleines Minervabild mit der Aufschrift »Beschützerin« als Weihgeschenk auf. Er entwich nach Sizilien, wo er früher Statthalter gewesen und große Hoffnung hatte, in den einzelnen Städten, bei Privatpersonen und dem damaligen Prätor ehrenvolle Aufnahme zu finden. 6 Nach seiner Flucht fand das Gesetz nicht nur keinen Widerstand mehr, sondern wurde selbst von denen, die sich als die ersten Verteidiger Ciceros ausgegeben hatten, nun da er einmal aus dem Weg war, aufs Eifrigste unterstützt. Sein Vermögen wurde eingezogen, sein Haus wie das eines Staatsfeindes niedergerissen und das Grundstück zu einem Tempel der Freiheit geweiht. 7 Ihm wurde nun förmlich die Verbannung zuerkannt und der Aufenthalt in Sizilien untersagt; denn er wurde auf 3750 Stadien115 von Rom verwiesen mit dem Zusatz, wofern er sich innerhalb dieses Kreises sehen lasse, so sollten er und die, die ihn aufnahmen, ungestraft getötet werden dürfen.
(18) Er begab sich daher nach Makedonien und lebte dort in tiefstem Kummer. Hier traf ihn ein gewisser Philiscus, der ihn in Athen kennengelernt hatte und jetzt durch Zufall mit ihm zusammenkam. »Schämst du dich nicht, Cicero«, sagte er, »dass du so klagst und dich so empfindlich gebärdest? Nie hätte ich gedacht, dich so schwach zu sehen, der du so viele und vielfache Bildung genossen und so vielen selbst schon geholfen hast.« 2 Cicero entgegnete ihm: »Etwas anderes ist es, Philiscus, für andere zu sprechen, und sich selbst zu raten. Was man für andere spricht, geht aus aufrechtem, unbefangenem Sinn hervor, ist ein Wort zu rechter Zeit. Wenn aber ein Leiden die Seele befängt, dann wird sie getrübt und verfinstert und unfähig, im Augenblick den rechten Punkt zu treffen. Weshalb es sehr richtig heißt: »Es ist leichter, einen anderen zu trösten, als selbst im Unglück standhaft zu sein.« – 3 »Was du da sagst, ist freilich menschlich«, versetzte Philiscus, »ich glaubte aber dich, als einen Mann von solcher Einsicht und Weisheit, auf alle menschlichen Schicksale vorbereitet, damit, wenn dir ein unerwarteter Unfall zustieße, er dich nicht ungewappnet träfe. 4 Da du nun in dieser Lage bist – so ist es dir vielleicht dienlich, wenn ich mich mit dir über manches dich Betreffende unterhalte; damit, wie man anderen ihre Lasten tragen hilft und erleichtert, auch ich dir dein Leiden erträglicher mache, und zwar umso leichter, da ich nicht das Geringste davon selbst übernehme. 5 Du wirst hoffentlich fremden Trost nicht von dir weisen. Denn wenn du dir selbst genügtest, so bedürfte es dieser Worte nicht; nun aber bist du in demselben Fall wie Hippokrates, Demokedes oder ein anderer berühmter Arzt, wenn er in eine gefährliche Krankheit verfiele und der heilenden Hand eines Dritten bedürfte.«
(19) »Wenn deine Rede«, erwiderte Cicero, »mir die Finsternis aus der Seele verbannen und das frühere Licht zurückführen kann – warum sollte ich dir nicht gerne zuhören wollen? Denn wie die Heilmittel, so sind auch die Reden verschieden und besitzen mancherlei Kräfte. Daher wäre es nicht zu verwundern, wenn du mich, der ich im Senat, in den Volksversammlungen und den Gerichten geglänzt habe, mit einem Balsam von Weisheit labtest.« – 2 »Wohlan denn«, sprach Philiscus, »wenn du mich anhören willst, so untersuchen wir vorerst, ob deine Lage wirklich so schlimm ist und wie ihr abgeholfen werden kann. Vor allen Dingen sehe ich dich gesund und bei voller Leibeskraft – das erste Gut, das die Natur dem Menschen schenken kann –; sodann hast du den nötigen Lebensunterhalt, 3 musst nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren und leidest sonst kein leibliches Ungemach: das zweite Gut, das der Mensch von der Natur erhält, denn wenn sich einer körperlich wohlbefindet und sorgenfrei leben kann, so genießt er alles, was zur Glückseligkeit gehört.«
(20) »Dies alles«, entgegnete Cicero, »nützt nichts, wenn Kummer an der Seele nagt. Denn weit mehr drücken mich die Sorgen der Seele, als mich das Wohlsein des Körpers vergnügt. So wie jetzt die leibliche Gesundheit mir nichts gilt, da ich an der Seele erkrankt bin, noch auch der Bedürfnisse Überfluss, da ich so vieles verloren habe.« 2 Philiscus erwiderte: »Und darüber grämst du dich? – Ja, wenn du des Notwendigsten entbehrtest, so hättest du noch einen Grund, über Verluste zu klagen. Wenn du aber die Bedürfnisse des Lebens vollauf hast, was kümmert es dich? Dass du nicht noch mehr besitzest? Alles über das Notwendige hinaus ist überflüssig, und es ist einerlei, ob es da ist oder abgeht. 3 Da du wohl auch früher dich desselben nicht bedientest, so denke dir nun, du habest damals nicht gehabt, wessen du nicht bedurftest, oder du besitzest jetzt noch, was du nicht nötig hast. Denn das meiste davon hast du nicht von deinen Vätern ererbt, dass seine Erhaltung dir teuer sein müsste, sondern durch deine Zunge und deine Reden gewonnen und verloren. 4 Wie kannst du dich also deshalb grämen? – Wie gewonnen, so zerronnen! Auch die Schiffsherren veranschlagen selbst bedeutende Verluste nicht so hoch, weil sie sich vernünftigerweise sagen müssen: Das Meer hat’s gegeben, das Meer hat’s genommen.
(21) Doch darüber genug! Der Mensch, glaube ich, bedarf zu seiner Glückseligkeit nichts, als dass er hat, was er braucht, und dass es seinem Körper an dem Nötigen nicht gebricht. Aller Überfluss erzeugt nur Sorgen, Mühe und Neid. 2 Wenn du aber sagst, dass leibliche Güter keinen Genuss gewähren, wofern nicht auch die Seele sich wohlfühle, so gebe ich dir vollkommen recht, denn wenn diese leidet, so muss der Körper notwendig auch mit ihr leiden; aber ich glaube, dass man die Seele viel leichter als den Körper im Wohlbefinden erhält. 3 Denn dieser, von irdischem Bestand, unterliegt an sich schon vielen Unfällen und bedarf vielfacher Hilfe der Gottheit, jene aber, göttlichen Wesens, wird leicht in Gleichgewicht und Ordnung erhalten. Sehen wir nun, welche Güter der Seele du besitzest und welche Übel dich betroffen haben, die nicht zu beseitigen wären.
(22) Erstens bist du der verständigste Mann, den ich kenne; denn wie oft hast du nicht Senat und Volk zur Befolgung deiner Ratschläge überredet! Wie oft nicht einzelnen Bürgern durch deine Reden aus der Not geholfen! 2 Sodann halte ich dich auch für den Gerechtesten. Du bist jederzeit für Vaterland und Freunde wider ihre Nachsteller in die Schranken getreten und hast selbst deine gegenwärtigen Leiden aus keinem anderen Grund erduldet, als dass du für Gesetze und Staat durch Rede und Tat unablässig gewirkt hast. 3 Dass du aber auch im höchsten Grad mäßig gewesen bist, bestätigt deine ganze Lebensweise; denn unmöglich kann einer, der den sinnlichen Lüsten frönt, immer vor dem Volk erscheinen, auf dem Markt sich umtun und die Taten des Tages zu Zeugen seiner nächtlichen Arbeiten machen. 4 So hielt ich dich auch für den Tapfersten, da du solche Stärke des Geistes, solche Kraft der Rede bewiesen hast. Durch dein unerwartetes und unverdientes Schicksal aber außer Fassung gebracht, hast du von deiner Tapferkeit eingebüßt; doch wirst du dich bald wieder ermannen. Bei solchen Vorzügen, da du nach Geist und Leib dich wohlbefindest, sehe ich nicht ein, was dich also berücken sollte.«
(23) Auf diese Rede entgegnete Cicero: »So scheint dir also Schande und Verbannung kein großes Übel? Dem Schoß der Familie, dem Kreis der Freunde entrissen, mit Hohn aus dem Vaterland verstoßen, in der Fremde zu leben und als ein Flüchtling, ein Spott der Feinde, eine Schmach der Freunde, umherzuirren?« – 2 »Keineswegs«, erwiderte Philiscus, »wenn wir aus zwei Teilen, aus Leib und Seele bestehen und beiden von der Natur bestimmte Güter und Übel zugeteilt sind, so kann, wenn man in Beziehung auf diese etwas versieht, dies mit Recht für schädlich oder schimpflich gehalten werden, wenn aber beide in gutem Stand sind, so wird dies nur um so vorteilhafter sein. 3 Dies ist jetzt bei dir der Fall. Denn alles, Verunglimpfungen und was dergleichen mehr ist, erscheinen nur durch Satzung und Vorurteil als schimpflich und übel, schadet aber weder dem Leib noch der Seele. Denn wo findest du einen Körper, erkrankt oder umgekommen, wo eine Seele ungerechter oder unwissender geworden durch Schande, Verbannung oder Ähnliches? 4 Ich wenigstens finde nichts der Art, und zwar deshalb, weil keines an und für sich ein Übel ist. So sind auch der Vollgenuss der Bürgerrechte und der Aufenthalt im Vaterland nicht an sich ein Gut, sie haben nur insoweit einen Wert, als jeder von uns sie dafür erachtet. 5 Auch haben die Menschen über Schande oder Ehre nicht immer dieselbe Ansicht; Handlungen, die den einen schuldhaft erscheinen, werden von anderen gelobt. Was der eine schätzt, das bestraft der andere. 6 Ja es gibt gar Leute, welche die Schande weder dem Namen noch dem Wesen nach kennen, und zwar nicht mit Unrecht; denn was die natürlichen Güter des Menschen nicht berührt, das geht ihn eigentlich auch gar nichts an. Wie ein Urteilsspruch oder ein Volksbeschluss, dass der und der krank oder hässlich sein solle, höchst lächerlich wäre, so verhält es sich auch mit der Schande.






