Stolps Reisen: Damals und heute, von den Anfängen bis zum Massentourismus

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Dann ging es zum Dienstgeschäft. Die „Drogenforscher“ aus Deutschland kamen in ein Washingtoner Ministerium und wurden einer Delegation aus Argentinien vorgestellt. Die hätten das gleiche Anliegen wie die Deutschen. Zusammen mit den Argentiniern wurden die beiden in einen Konferenzsaal gebeten. Dort trat ein Herr auf, der den Angereisten messianisch erklärte, wie die USA nunmehr das Drogenproblem beseitigen würden. Die Argentinier sagten gar nichts, und die Deutschen sahen sich fragend an: „Was folgt daraus für uns zu Hause?“
Abends gingen beide mit der „Aktentaschenbeute“ in ein feines Fischrestaurant, vor dem Wachmänner darauf achteten, dass keine „homeless people“ eintraten. Der linke Drogenbeauftragte aus einer deutschen Großstadt bemerkte beim Schmausen: „Ist doch schön, dass sie uns hier die Penner vom Leib halten!“
Die dritte Station auf dem Drogentrip war „Miami“. Hier war es warm wie in Deutschland im Sommer. Den Gästen wurde erklärt, deutsche Fahnder seien hier stationiert, um den Amerikanern zu helfen, den Anbau von Drogen in Südamerika zu verhindern.
Dann erhielten sie eine Einladung zu einer Gartenparty. Gastgeber war ein Flugpilot mit seiner Familie. Der Garten war durch einen übermannshohen Zaun geschützt. Er sollte wohl Insekten abhalten. In mehreren Reden machten die Amerikaner deutlich, es käme darauf an, Piloten mindestens vierundzwanzig Stunden vor einem Flug vom Drogenkonsum abzuhalten. Piloten seien nämlich besonders gefährdet.
Der deutsche Drogenbeauftragte sann darüber nach, wo es bei ihm zu Hause suchtgefährdete Piloten gab. Und als sie wieder im Flieger über dem Atlantik saßen, murmelte er vor sich hin: „Piloten kommen eigentlich selten in unsere Heime…“
Holocaust-Gedenkstätten
Die USA galten auch als vorbildlich im Gedenkwesen. Also pilgerten deutsche Beamte deswegen dorthin.3
Ende September wird es noch sehr heiß in „Washington“. Schon am Vormittag um neun stach die Sonne beträchtlich. Vor einem der trutzigen Museumsbauten aus grauem Feldstein standen Leute Schlange und warten auf Einlass. Sie waren leger gekleidet, in Shorts, Trainingsanzügen oder Jeans. Eine übergewichtige Frau trug sehr unvorteilhaft kurze Blümchenhosen, darüber ein straffes weißes T-Shirt. Es bildete sich eine Schlange bis zum hinteren Teil des Gebäudes, an dem ganz untypisch eine Backsteinfassade zu sehen war, die deutsche Besucher an ein wilhelminisches Gymnasium erinnerte.
Die Menschen warteten auf den Einlass in die Räumlichkeiten des „United States Holocaust Memorial Museum”. Sie wollten sich informieren über die Geschichte der Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa durch die Nationalsozialisten. Ihnen standen anstrengende Stunden bevor. Als sie endlich eingelassen wurden, kamen sie in eine lichte Halle, deren Wände aus rotem Backstein gemauert waren. Über der Halle befand sich ein Stahl-Glas-Dach. Diese Architektur erinnerte an preußische Industriebauten. Inmitten der Halle war ein großer „Counter”, in dem vier Personen damit beschäftigt waren, die Besucher zu beraten und zu bedienen. Geradezu befand sich eine schwarze Marmorwand mit der Aufschrift „You are my Witnesses”. Rechts ging es über eine Art stählerne Zugbrücke durch ein großes Tor, hinter dem die Ausstellung “Remember the Children – Daniels Story” wartete.
Das Museum insgesamt war darauf angelegt, durch individuelle Bezüge Betroffenheit beim Besucher zu erzeugen. Die Geschichte Daniels sollte dessen Weg vom Elternhaus in die Vernichtungsmaschinerie darstellen und tiefer haften bleiben als Zahlen und Statistiken über den Völkermord: Das war die Philosophie der Ausstellung, durch die sich (in Halbdunkel gehüllt) die Menschen bewegten. Sie schritten durch die Weimarer Zeit, sahen etwas über die Machtergreifung, das große Pogrom, den Weltkriegsbeginn, die KZs, die Eroberungen der Wehrmacht, die Vernichtungslager, die Gasöfen.
An einer Stelle wurden Filme über besondere Grausamkeiten gezeigt: Euthanasieprogramme und Mordkommandos. Die Monitore waren in den Fußboden eingelassen, und um Kindern unter den Besuchern den Anblick zu ersparen, hatte man kleine Sichtmauern von etwa einem Meter Höhe errichtet, so dass die Vorführungsplätze wirkten wie kleine quadratische Kästen. Dort scharten sich Menschen traubenweise. Sie verfolgten stumm und lange die Bilder vom Morden und Quälen.
Stundenlang besichtigten die Besucher, die wohl aus allen Teilen der USA gekommen waren, die Ausstellungen. Sie wurden physisch und psychisch stark gefordert und waren am Ende erschöpft. Dann konnten sie in einer Meditationshalle ihren Gedanken nachgehen. Einige (besonders Kinder und Jugendliche) suchten Nebenräume auf, wo sie sich an Computer setzen konnten und beispielsweise unter dem Stichwort „Ravensbrück” vieles über das frühere Frauen-KZ erfuhren. Meist jedoch, so schien es, mochten sie etwas wissen über die Täter, und so gaben sie Namen wie „Eichmann”, „Himmler” oder „Heydrich” ein.
Selten kamen Besucher in die zahlreichen Büros, Archive und Seminarräume, die sich hinter dem Museum befanden. Das Holocaust-Museum beherbergte eines der größten Archive über die Nazi-Verbrechen und war zu einer der wichtigsten Forschungsstätten über das Thema in der Welt geworden.
Inmitten der Hauptstadt der Supermacht war dieses Museum eine Provokation. Es behandelte Verbrechen, die von einem anderen Volke ausgegangen waren. Es erzeugte, gestaltet mit der hohen Professionalität amerikanischer Experten, Betroffenheit.
Die Betroffenheit ging von Inszenierungen aus, nicht von Authentizität. Der deutsche Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, war seinerzeit der Eröffnung des Museums ferngeblieben, weil es nicht die demokratische Nachkriegsgeschichte Deutschlands behandele. Demgegenüber sagten die leitenden Mitarbeiter der Einrichtung, ihre Intentionen würden sich überhaupt nicht gegen oder für eine Nation richten, sondern ihnen sei es darum gegangen, zu zeigen, wie aus einer zivilisierten Gesellschaft das millionenfach organisierte Staatsverbrechen hervorgehen könne.
Kritiker des Museums in den Vereinigten Staaten behaupten, es sei geschaffen worden als Zugeständnis der amerikanischen Politik an die Juden in Amerika und an den Staat Israel, den die amerikanische Politik ansonsten zu einem Arrangement mit den Arabern drängte. Aufrichtiger wäre es gewesen, so ist zu hören, wenn die USA Museen und Gedenkstätten gleicher Bedeutung geschaffen hätten, in denen die Geschichte der Unterwerfung der Indianer oder die der Unterdrückung der Schwarzen in den Vereinigten Staaten selber behandelt worden wären. Das Holocaust-Museum sei schon deswegen unglaubwürdig, weil es die Mit-Verantwortung der Vereinigten Staaten am Geschehenen nicht hinlänglich behandelt habe, denn diese hätten es in der Hand gehabt, durch Bombardierungen die Judendeportierungen zu unterbinden.
Schließlich waren in den Vereinigten Staaten Stimmen jener zu hören, die behaupteten, der Holocaust hätte gar nicht stattgefunden. Er sei eine Propaganda-Lüge gegen Deutschland und seine Alliierten des Zweiten Weltkrieges.
Der „Holocaust-Deny” sei sein geringstes Problem, sagte am Abend der stellvertretende Direktor des Museums. Es sei gerade „Laubhüttenfest“, und er hätte eine kleine Gesellschaft zu sich nach Hause eingeladen. Das Laubdach habe sein Sohn über der Gartenterrasse errichtet. Leute, die den Holocaust leugneten, konnte er so wenig ernst nehmen wie solche, die behaupteten, die Sonne drehe sich um die Erde. Geradezu grotesk jedoch fand er die deutsche Regelung, die Holocaust-Lüge zu bestrafen.
Im Übrigen sei er sehr dafür, in den USA vergleichbare Einrichtungen seiner Institution zu schaffen, die sich mit dem Schicksal der Indianer und der Schwarzen auseinandersetzten. Auch müsse weiter erforscht werden, wann die US-Administration von den Vernichtungslagern gewusst habe und ob es ihr möglich gewesen sei, das Leiden vieler Menschen zu vermeiden.
Was bekannt war, das habe man gezeigt: So zum Beispiel die Geschichte des Schiffes „Sankt Louis“, das mit achthundert Flüchtlingen an Bord nach Amerika gekommen sei und dort abgewiesen wurde mit dem Resultat, dass keiner der achthundert Flüchtlinge überlebt habe.
Das Holocaust-Museum in „Washington“ habe einen wichtigen Auftrag. Die Menschen hier wüssten viel zu wenig über den zweiten Weltkrieg.
Die Laubhüttengesellschaft verlegte ihren Platz nach dem Mahl in das Wohnzimmer, rund um einen großen Tisch. Draußen wurde es kühl. Wieder war der Direktor am Reden. Es freue ihn, dass so viele Menschen in sein Museum kämen. Aber wenn er dann die Menschentrauben an den Vorführungskästen der Horrorszenen beobachtete, wie die Besucher dort förmlich kleben blieben, fragte er sich, ob einige Besucher aus reiner Sensationslust ins Museum gekommen waren, in der Hoffnung, hier den „Kick” zu erhalten, den ihnen das Fernsehen trotz aller Brutaloszenen nicht mehr vermitteln konnte. Wenn er nur wüsste, ob und wie sich seine Besucher kognitiv und emotional durch das Holocaust-Museum veränderten…
Das Holocaust-Museum war in „Washington“ eingebettet in eine allgemeine Museumslandschaft. Nicht weit entfernt befand sich das „National Museum of American History”, ein eher folkloristisch aufgezogenes Unternehmen. Hier war eine Ausstellung zu sehen über „What Things Are Made of and Why”. Es herrschte der gleiche Andrang wie im Holocaust-Museum, es war das gleiche Publikum im Freizeit-Outfit. Hier drängelten sich die Leute zum old fashioned „Post-Office” aus Holz mit einer kleinen Veranda davor, auf der gerade eine kleine Bank, ein gefülltes Salzfach und die Fahne „Stars and Stripes” Platz hatten. Western-Zuschauer kannten das Bild wie aus eigenen Kinderzeiten.
Ein „Tourmobile” (ein Bus mit offenen Scheiben und Anhänger) brachte die Besucher „Washingtons“ von einer Sehenswürdigkeit zum nächsten Museum, und an jeder Station standen sie brav Schlange und warteten, bis sie an der Reihe waren – die Oma im dunkelblauen Freizeitanzug, der Rentner mit seinem quergestreiften Poloshirt und der Baseballkappe dazu sowie all die anderen.
War nicht die Hauptstadt „Washington“ überhaupt eine Ansammlung von Gedenkstätten? Im Mittelpunkt ragte der Obelisk des „Washington Monuments“, in Ost-West-Richtung standen sich das „Capitol“ und das „Lincoln Memorial“ gegenüber, in Nord-Süd-Richtung das „Weiße Haus“ und das „Jefferson-Memorial“. Am vierten Juli, dem Nationalfeiertag, ging es fröhlich zu. Die historischen Stätten wurden von einer bunten und heiteren Menge mit Beschlag belegt, und sogar das „Weiße Haus“ war an diesem Tage zu besichtigen.
Die Fröhlichkeit schlug um in feierlichen Ernst am „Mahnmal zur Erinnerung an die Vietnam-Veteranen“. Eine lange schwarze Mauer, eingepasst in die Landschaft der „Mall” enthielt viele Namen von im Vietnam-Krieg gefallenen US-Soldaten. Freunde und Verwandte aus allen Staaten der USA waren hierher gepilgert, um ihrer gefallenen Menschen zu gedenken. Sie taten dies, indem sie Militärstiefel des Toten an jene Stelle legten, wo der Name eingraviert war. Sie legten Whisky-Flaschen, Bibeln, Fotos der Lieben nieder, Lieblingsbücher. Und viele waren dabei, die Eingravierungen abzupausen, damit sie diese mit nach Hause nehmen konnten. Andere hielten respektvoll Abstand von jenen, die so ihrer Lieben gedachten. Hier empfand man: Ein Denkmal, eine Gedenkstätte kann authentisch sein, auch wenn sie inszeniert wurde. Die trauernden Menschen schufen eine Authentizität, wie sie anderswo nicht erreicht wurde.
In der Mega-Stadt „Los Angeles“ war dergleichen nicht möglich. Hier befand sich das „Toleranz-Museum“, dessen Eröffnung eine ähnliche Resonanz hatte wie die des „Holocaust-Museums“ in „Washington“. In der unendlichen Straßen- und Häuserlandschaft von „L.A.” an einer Kreuzung, hinter Mauern und Stahlzäunen könnte sich auch eine kleine Fabrik befinden, ein Supermarkt oder ein Kino. Die Besucher kamen spärlich. Direkt gegenüber dem Gelände, auf dem sich auch eine kleine Mauer mit den Namen der in Europa untergegangenen jüdischen Gemeinden befand, prangte ein Schild der „Coast Federal Bank”. Dahinter sah man Laternenmasten, reichlich windschiefe Oberleitungen und Häuserkästen, manche als Hochhäuser gebaut.
Im Innern dieses Hauses der Gedenkstätte wurde man wie in einem Schneckengang durch eine Geschichtsröhre geführt: Aus der Weimarer Zeit ging man von Station zu Station, passierte das zerstörte „Städtl“ und endete schließlich in der Gaskammer. Den Szenen ausweichen konnte man nicht. Da vor und hinter dem jeweiligen Bild kein Licht war, konnte und musste man erst dann weiter gehen, wenn der aus Lautsprechern kommende Text geendet hatte, das Licht erlosch und die nächste Station erleuchtet wurde.
Das Museum vermittelte eine zweifache Moral: Einmal wurde in der geschilderten Weise der Holocaust dargestellt. Zum andern war diesem Hauptteil des Museums eine „Ouvertüre“ vorangestellt, die sich direkt auf die USA bezog. Das Motto lautete: „One Nation, Many Peoples”. Die europäische, asiatische, afrikanische, jüdische und indianische Abstammung der Amerikaner wurde gezeigt und mit der Frage versehen: „Are we real or stereotypes?” In Comics wurde der kurze Weg von rassistischen Sprüchen zu Krawallen mit tödlichem Ausgang dargestellt. Es war ein spezifisches Thema von „Los Angeles“, das unter dem Trauma damals jüngster Krawalle litt.
Der auf die Gegenwart bezogene Teil der Ausstellung wirkte auf den Besucher originell und aufklärerisch. Wo es sich hauptsächlich mit dem Nationalsozialismus beschäftigte, erschien das Dargestellte weit weg – zeitlich und räumlich. Auch umlagerte das Museum ein Hauch von Provinz und Sektierertum: Hier spürte der Besucher nicht die vom Hauptstadtboden ausgehende Relevanz des Gezeigten und bemerkte die Relativität des Projektes, die sich aus der Tatsache ergab, dass Private die Träger der Einrichtung waren.
Doch das war die Perspektive der Besucher aus Deutschland, welche die Wirkung auf die Region schwer beurteilen konnten.
Auf die Frage, ob die Holocaust-Museen in den USA ein Modell für Deutschland seien, antwortete Ignatz Bubis: „Ähnliches ja, Gleiches nein.” Und: „Hier war der Galgen, wo die Menschen gehängt wurden, und hier waren die Pritschen, wo die Menschen geschlafen haben, und hier war die Küche, wo sie mit einer Wassersuppe verpflegt wurden, und hier waren die Massengräber.” Ignatz Bubis plädierte dafür, in Deutschland keine Museen nach amerikanischem Vorbild zu errichten, sondern „Dokumentationsstätten”, die gesellschaftliche und historische Zusammenhänge erläutern.4 Das war wohl wahr. Doch das Beispiel USA zeigte auch, wie sehr eine Gedenkstätte in einer Hauptstadt zu einer emotional beeindruckenden Institution werden und eigene Authentizität erzeugen konnte.
So sahen es die Besucher aus Deutschland. Mittlerweile hat die Globalisierung auch zu Hause eine Vielfalt geschaffen, die die Frage aufwirft, ob Reisen auch ein Blick in die Zukunft sein können. Ist das, was die Besucher seinerzeit in den USA sahen, später Realität auch in anderen Teilen der Welt geworden?
(1999)
3. Türkei: Der Imam ist fort
Nach Italienern, Spaniern und Griechen strömten Türken in die alte Bundesrepublik Deutschland. Das „Wirtschaftswunder“ zog immer mehr internationale Jobsucher an. Diese selbst und manche Deutsche sahen in ihnen „Gastarbeiter“, die nach Ablauf der Arbeit wieder in die Heimat zurückkehren würden. Doch als diese „Gastarbeiter“ ihre Nachkommen holten und sich hier ansiedelten, kamen vor allem deutsche Politiker auf die Idee, sie müssten beim Ansturm muselmanischer Türken die Sünden des Holocausts wieder gut machen: Eine Politik der „Assimilation“ galt in Deutschland als alternativlos und politisch korrekt.
Es kamen mehr und mehr. Die Türken in Deutschland wurden anfangs „Gastarbeiter“ genannt und siedelten sich gerne in heruntergekommenen Vierteln an. Nach dem „Nazi“-Desaster wollte die deutsche Politik diesmal alles richtig machen. Sie befand, die Türken müssten in die deutsche Gesellschaft „integriert“ werden. Ob und wie weit sie dazu ihre hergebrachte Kultur aufgeben sollten, war nicht klar.
Ein deutsches Landesparlament wollte voraus gehen und gründete einen „Ausländerausschuss“. Der Vorsitzende befand bald, dass der Ausschuss in das Herkunftsland der vielen „Gastarbeiter“, die Türkei, reisen sollte, um sich vorzustellen und die Kultur dieses Landes besser zu verstehen. Die Abgeordneten machten sich auf den Weg, besuchten „Ankara“, Anatolien und „Istanbul“.
In Kleinasien herrschten Militärs. Sie hatten den zivilen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit inhaftiert. Ecevit war Sozialist, und die sozialdemokratischen Mitglieder der Delegation besuchten ihn. Nichtmitglieder der SPD waren nicht zugelassen. Danach hockte die gesamte Delegation in einem Hotel in „Ankara“. Ein Abgeordneter, auch er Sozialdemokrat, verstand es auf wunderbare Weise, unentwegt Witze zu erzählen und die Kollegen zu unterhalten.
Draußen vor dem Hotel fuhren Panzer auf und umstellten das Gebäude. Das wirkte bedrohlich. Etwas erleichtert waren die Gäste aber, als sich herausstellte, dass die Drohgebärde nicht ihnen galt, sondern der deutschen „Grünen“-Politikerin Petra Kelly und ihrem General Gert Bastian, die ebenfalls in dem Hotel weilten.
Die Abgeordneten durften sich bei den Gesprächen mit türkischen Offiziellen anhören, dass die Türken in Deutschland schlecht behandelt würden. Eine mitgereiste „grüne“ Abgeordnete, die den türkischen Namen ihres Ehemannes trug (was die Gastgeber freute), stimmte der Kritik zu. Sie musste sich später intern Vorwürfe ihrer Kollegen von den anderen Parteien anhören. Dass ausgerechnet sie als „Linke“ den Vertretern der Militärdiktatur zustimmte, verstanden die anderen Abgeordneten nicht.
Als die deutschen Parlamentarier ein türkisches Verwaltungsgebäude besuchten, gingen sie einen langen Gang entlang, an dem alle Bürotüren geöffnet waren. In den Amtstuben standen Staatsdiener und verneigten sich vor den Gästen. Dann betraten sie das Büro des Bürgermeisters von Istanbul – auch er ein General. Er saß hinter einem überdimensionierten Schreibtisch auf einem Stuhl wie auf einem Thron. Zu Füßen dieses Generals und Schreibtisches hatten die Gäste ihre Sitzplätze. Die Gastarbeiter in Deutschland interessierten den General offensichtlich nicht. Er hatte anderes im Kopf: „Wir bauen eine U-Bahn in Istanbul. Ihr habt schon eine U-Bahn. Der Chef Eurer U-Bahn soll kommen und uns raten, wie wir das hier machen sollen. Sagen Sie ihm das!“ Per Befehl wollte der Militär am Bosporus eine U-Bahn bauen, ganz ohne Bürgerbeteiligung!
Die Finanzierung stellte er sich übrigens einfach vor: „Wenn die Leute geradeaus gucken, müssen sie Steuern zahlen. Wenn sie nach rechts oder links gucken, müssen sie Steuern zahlen. Und wenn sie sich umdrehen, müssen sie Steuern zahlen!“
In Anatolien besuchten die Gäste ein kleines Dorf. Sie waren gekommen, weil ihnen gesagt worden war, die meisten der Türken in Deutschland stammten aus dieser Gegend. Als die Deutschen vor Ort erschienen, teilte einer der Bewohner mit: „Der Imam ist fort. Er will nicht mit Ungläubigen zusammen sein.“
Dann umringten viele fröhliche Kinder die Gäste. Diese erkannten, wie groß das menschliche Reservoir hier war.
Die türkische Presse berichtete über die Reise und die Gespräche sehr ausführlich. Die Besucher konnten Fotos in den großen Zeitungen sehen, nur die Texte daneben, die konnten sie nicht lesen.
Zum Abschluss wurden die Gäste zu einem Schmaus am Bosporus eingeladen. Es gab Köstlichkeiten aus dem Meer. Dass die türkische Küche gut ist, stand damit fest. Der offizielle türkische Begleiter informierte darüber hinaus, dass Türken nicht nur den Kuppelbau, sondern auch das Flugzeug und die Demokratie erfunden hätten.
Das mit der Demokratie glaubten die Besucher aus Deutschland nicht ganz…
(1983)
4. Japan: „Plost!“
Geheimnisvoller noch als die Türkei erschien Japan. Irgendwo, weit weg in Fernost, gab es einen Staat, in dem die Menschen angeblich ebenso tüchtig waren wie in Deutschland. Und dieser Staat hatte wie Deutschland den letzten Krieg gegen die Amerikaner und ihre Verbündeten verloren.
Japan wurde nach 1945 eine der großen Wirtschaftsnationen der Erde, und seine Wissenschaft streckte seine Fühler in alle Himmelrichtungen aus. Würden sie bis nach Deutschland kommen?
Einst machte ein deutscher Politiker eine Dienstreise nach Tokio. Er fuhr auf Wunsch des Ministerpräsidenten seines Landes und sollte dabei die steinreiche private „Nihon-Universität“ bewegen, in einer Region Deutschlands eine Filiale aufzumachen. Die „Nihon-Universität“ wollte dem Vernehmen nach einen Schritt von der Insel weg tun und hatte dabei – so wurde berichtet – drei Standorte im Visier. „London“ war Favorit: Japaner zog es primär nach Groß-Britannien.
Hintergrund war, dass der Bundeskanzler nach Japan reisen wollte. Da wäre es doch schön gewesen, wenn er entgegen allen Spekulationen in „Tokio“ eine Investition der „Nihon-Universität“ im vereinten Deutschland hätte besiegeln können.

Tokio
Die „Nihon-Universität“ galt als sehr reich mit ihren 87.000 Studenten,
4.000 Professoren und Dozenten sowie etwa 4.000 Abgestellten in „Tokio“.
Angeboten hatten die Deutschen unter anderen einen „Ferienpark“ noch aus der DDR. Diese Liegenschaft war 380.000 Quadratkilometer groß und hatte einen hohen Verkaufswert. Auf die ganze Sache gebracht hatte das östliche deutsche Bundesland ein japanischer Herr aus „Düsseldorf“, der als Vermittler auftrat.
Bei der Reise begleitete den Politiker ein Beamter, der zuständiger Referatsleiter des Wissenschaftsministeriums war. Er und der Politiker wurden im „Deutsch-Japanischen Zentrum“ von einem deutschen Grafen auf Japan vorbereitet. Der Graf galt als Japan-Kenner. „Die Japaner sitzen auf einem verdammt hohen Ross. Das muss man einfach akzeptieren“, sagte er.
Der Beamte flog vor, so dass der Politiker später alleine in Frankfurt einen Jumbo der „JapanAir“ bestieg. Im Warteraum davor sah er sich um. Er war hier unter lauter Japanern eine der ganz wenigen „Langnasen“.
Das konnte ja heiter werden! Immerhin flog der Politiker „Business-Class“. Neben ihm saß ein Japaner. Der sprach während der zehnstündigen Reise kein Wort und würdigte den Deutschen keines Blickes.
Die Stewardessen sprachen sanft und unverständlich. Ständig verbeugten sie sich, allerdings vor dem Flugnachbarn öfter und tiefer als vor dem deutschen Politiker. Immerhin konnte dieser beim Verzehr der Speisen und Getränken dem Nachbarn nacheifern. Als Menue bestellte der Deutsche wie er „Japanese“ und nicht „Western style“, und als die Speisen kamen, orientierte er sich bei der Reihenfolge und der Methode der Nahrungsaufnahme an seinem stummen Nachbarn, so dass er die Stäbchen, Schüsselchen und Pfännchen hoffentlich fachgerecht benutzte.
Als sie pünktlich in „Tokio“ ankamen, fühlte sich der Deutsche verloren: Es wimmelte vor schwarzhaarigen Menschen, die alle eine unverständliche Sprache sprachen. Auch die Flughafen-Durchsagen waren unverständlich. Da kam ein Japaner im dunkelblauen Anzug auf den Politiker zu und sagte, er würde ihn zum Hotel bringen. Es war der Herr aus Düsseldorf, und später stellte der Deutsche fest, dass er im Unterschied zu den vielen anderen Japanern, die ebenfalls dunkelblaue Anzüge trugen, lockige Haare hatte. Daran würde er ihn in den kommenden Tagen erkennen.
Der Herr hatte eine kleine schwarze Collegemappe dabei. Bis der Bus zum Hotel führe, sagte er, sei noch etwas Zeit, und die würde er nutzen, um schnell ein Telefonat zu führen. Sie warteten in einem Café. Es war heiß und schwül; man spürte es: „Tokio“ war eine südliche Stadt.
Der Bus zum Hotel fuhr zwei Stunden lang durch ein Agglomerat von Häusern, Brücken und Bahntrassen. Innerlich fragte der Politiker sich, wie er jemals zum Flughafen zurückfinden solle. Im Hotel dann bekam er einen Schreck: Er hatte die Visitenkarten vergessen! Dabei hatte es doch in Deutschland geheißen, Visitenkarten seien hier unentbehrlich.