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»Wie hältst du das nur aus?«, fragte Julie nach wenigen Minuten gereizt.
»Was denn?«, erwiderte ich irritiert.
»Na, dieses öde Geschaukel.« Sie rieb ihre dicken Fäustlinge aneinander, obwohl ich mir kaum vorstellen konnte, dass sie darin fror. Meine Fingerspitzen kribbelten bereits von der Kälte, aber öde war diese Fahrt allenfalls wegen Julie.
»Ich komme jede Woche zweimal hier entlang«, klärte ich sie auf. »Ich bin es also nicht anders gewohnt.« Offenbar hatte sie bisher nicht bemerkt, wie oft ich ins Dorf fuhr und vor allem für sie Einkäufe und Besorgungen erledigte.
»Wenigstens ein Polster hätte ich mir mitnehmen sollen. Ich bekomme bestimmt blaue Flecken von den Schlaglöchern auf dieser holprigen Strecke.«
Verwundert suchte ich die glatte Schneedecke nach Bodendellen ab.
»Jiri hat erzählt, dass heute ein Treffen im Prinzenchalet stattfindet. Bestimmt sind dort eine Menge gut aussehender Jungs!«, plapperte Julie weiter. Ich warf ihr einen Seitenblick zu. Sie konnte innerhalb von Sekunden das Thema wechseln, ohne auch nur einen Gedanken an den vorherigen Satz zu verschwenden. »Würdest du nicht auch gerne mal mit einem Prinzen tanzen?«
Ich schnaubte und schüttelte den Kopf. »Nein, wirklich nicht.« Mir reichten Julies ausführliche Berichte über Probleme mit Jungs völlig aus. Ich war mir sicher, dass ich nichts weniger in meinem Leben brauchte als Liebeskummer. Und die Prinzenanwärter fand ich sowieso durchweg unsympathisch.
»Du bist echt seltsam«, kommentierte meine Stiefschwester. In ihren Augen war ein Leben ohne Jungs vermutlich noch öder als eine Schlittenfahrt.
Ich zuckte mit den Schultern. Sollte sie denken, was sie wollte. Julie hatte zwar alles, was sie brauchte, aber sie wusste dennoch nicht, was ihr fehlte. Um nichts auf der Welt hätte ich einen Ausritt mit Dalibor gegen eines ihrer Kleider getauscht. Und der Tanz mit einem der »Prinzen«, wie die arroganten Typen genannt wurden, die für das Eispferde-Rennen nominiert waren, rangierte noch weiter unten auf meiner Wunschliste.
Als ich die ersten Dächer der Häuser hinter dem Schneewall auftauchen sah, atmete ich erleichtert auf. »Soll ich dich direkt bei der Schneiderin absetzen?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Nein, ich komme erst mit zum Markt. Vielleicht finde ich dort ein paar schicke Accessoires, bevor ich mich unter die Konkurrenz mische.« Sie kicherte.
Ich unterdrückte ein Stöhnen und lenkte Lancelot in Richtung Kutschplatz.
»Wo willst du hin?«, rief Julie aufgebracht. »Du glaubst doch nicht, dass ich den ganzen Weg bis zum Marktplatz laufe! Wenn die Pailletten an meinen Boots schmutzig werden, sind die Schuhe komplett ruiniert.«
Ich warf einen Blick auf ihre lächerlich unpraktischen Stiefel. »Also, mitten auf dem Markt kann ich nicht stehen bleiben.«
»Was?« Julie sah mich verständnislos an. »Hey, da sind Krystina und Zuzana. Warte mal!«
Julie rief lauthals nach ihren Freundinnen. Dann sprang sie eilig vom Wagen und ich musste Lancelot abrupt zum Stehen bringen, sonst wäre sie vermutlich der Länge nach hingefallen. Ihre Schuhproblematik hatte sie offenbar schon wieder vergessen. Die beiden anderen Mädchen kreischten erfreut auf, als sie sie erblickten, was – angesichts ihrer Konkurrenz um die Gunst der Prinzenanwärter – in meinen Augen die reinste Ironie war. Trotzdem fiel Julie ihnen unter quietschenden Begeisterungsrufen um den Hals, als sie die beiden erreichte. Mich hingegen würdigte sie keines Blickes mehr. Aber alles war mir lieber als ihr ständiges Geplapper. Außerdem musste ich mich beeilen, immerhin wusste ich nicht genau, wie lange sie bleiben wollte. Und selbstverständlich würde sie erwarten, dass ich sie später bei der Schneiderin wieder abholte.
»Tschüss, Julie«, murmelte ich leise, während ich Lancelot antrieb. Schnaubend setzte sich der Wallach in Bewegung, schüttelte seine lange Mähne und trabte fröhlich zum Kutschplatz. Bestimmt war er genauso erleichtert wie ich, dass wir sie endlich los waren.
Ich lockerte die Riemen und stellte Lancelot einen kleinen Eimer mit Hafer hin. Dann machte ich mich auf den Weg zum Markt.
Die große Turmuhr neben der Kapelle zeigte bereits kurz vor elf und das halbe Dorf war auf den Beinen. Heute war Markttag, das bedeutete eifriges Rangeln und Feilschen um die frische Ware. Wegen der schlechten Ernte waren die Preise gestiegen – Novak hatte leider recht – und die Händler nutzten die Not der Menschen schamlos aus.
Am ersten Stand kostete ein Winterapfel so viel wie sonst ein ganzes Kilo, obwohl die rote Schale bereits einige braune Stellen zeigte. Sie eigneten sich mehr als Futteräpfel, aber ich hatte leider nicht genug Geld, um den Pferden welche zu kaufen. Ich seufzte. Dalibor würde in Zukunft auf seine Leckereien verzichten müssen. Ich musste froh sein, wenn ich das Heu bezahlen konnte.
Ich hielt nach günstigeren Angeboten Ausschau. Ein paar Stände weiter gab es noch etwas schrumpeligere Äpfel – dafür zum halben Preis. Ich kramte meine letzten Ersparnisse hervor und kaufte zwei. Als ich die kostbare Errungenschaft in meinem Korb verstauen wollte, rempelte mich jemand so heftig von hinten an, dass einer der beiden Äpfel zu Boden fiel und zwischen den Füßen der anderen Marktbesucher davonkullerte. Ich bückte mich und versuchte, ihn einzuholen, doch er wurde immer wieder ein Stück weiter getreten, bis er gegen eine Hauswand prallte. Als ich ihn endlich aufhob, sah er äußerst unappetitlich aus – selbst für ein Pferd.
»Mist!«, murmelte ich und fast kamen mir die Tränen. Ich schluckte, hob den Kopf und … schaute in zwei strahlend grüne Augen. Irritiert blinzelte ich.
Ich stand direkt vor einem Fenster, von der anderen Seite der Scheibe aus blickte mich ein Junge an. Er hatte ohne Zweifel die schönsten Augen, die ich je gesehen hatte. Das kräftige Grün erinnerte mich an den Frühling. Etwas Rastloses lag in seinem Blick. Er lächelte nicht, aber er wandte sich auch nicht ab, sondern starrte mich genauso neugierig an wie ich ihn.
Erst als ihn jemand anstieß, brach unser Blickkontakt ab. Er drehte sich um, und ich hätte ihn am liebsten zurückgehalten. Doch dann bemerkte ich die anderen Jungs hinter ihm, und mir dämmerte, dass ich genau vor dem Prinzenchalet stand – eine Art Jugendclub, in dem sich die Prinzenanwärter trafen. Die Mädchen zog es automatisch ebenfalls dorthin, denn jede wollte sich in der Nähe der umschwärmten Jungs aufhalten, mit ihnen reden oder wenigstens einen Blick auf sie werfen, um von einem Tanz im Ballsaal zu träumen. Ganz besonders Julie, Krystina und Zuzana.
Mir wurde ganz flau im Bauch bei dem Gedanken, dass ich womöglich einem der zukünftigen Prinzen in die Augen gesehen hatte. Allerdings weniger, weil ich diese Tatsache so aufregend fand, sondern vielmehr, weil ich eine innere Abneigung gegen Jungs wie Jiri hegte. Da konnte dieser Typ noch so grüne Augen haben! So sehr ich immer schon von der Teilnahme am großen Rennen geträumt hatte, so wenig wollte ich etwas mit einem der Prinzenanwärter zu tun haben. Ich drehte mich abrupt weg und beeilte mich, meine Einkäufe zu erledigen. Ich hatte wirklich genug zu tun.
Als ich mit vollen Körben zurück zum Kutschplatz ging, sah ich Julie und die anderen Mädchen gerade in Terezas Schneiderei verschwinden. Schnell verstaute ich die Einkäufe auf der Ladefläche und zurrte die Riemen fest.
»Pass gut auf unsere Sachen auf, Lancelot!« Ich klopfte dem alten Wallach auf sein etwas zu knochiges Hinterteil. »Vielleicht habe ich Glück und finde einen Job, von dem ich auch dir ein bisschen extra Heu kaufen kann.«
Lancelot schnaufte leise und ich machte mich auf den Weg zur Vermittlungsstelle. Fast alle Stellenangebote liefen über diese Zentrale. Das kleine Büro am Rande des Dorfes war brechend voll. Ich konnte kaum die Tür öffnen, ohne gegen einen der Wartenden zu stoßen. Bei der Bandbreite an unterschiedlichen Menschen, die hier vor dem großen Tresen an der gegenüberliegenden Seite des Raumes anstanden, musste doch eigentlich für jeden das Richtige dabei sein, dachte ich. Große, kräftige Kerle waren ebenso vertreten wie kleine, schmächtige Männchen, die schon auf den ersten Blick nach Büroarbeit aussahen. Auch Frauen jeden Alters waren darunter: strenge Hauswirtschafterinnen, mollige Köchinnen, zarte Näherinnen, Hebammen, die ordentlich zupacken konnten, und Putzfrauen, die ihre Haare mit einem Tuch zurückgebunden hatten. Ich musste beinahe schmunzeln, so treffsicher hätte ich sagen können, wer welche Art Job suchte.
Auf der anderen Seite des Tresens saßen drei Frauen mittleren Alters, die die Schlange der Reihe nach abarbeiteten. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich so weit vorgerückt war, dass ich mitbekam, wie der Ablauf war. Nach eingehender Befragung, endlosem Kopfschütteln und grimmigen Blicken händigten die Frauen jedem Arbeitssuchenden einen Bogen mit einer Liste weiterer Fragen aus.
Meine Nervosität stieg. Was, wenn ich den Anforderungen nicht gerecht wurde? Jeder, der seinen Zettel ausgefüllt hatte, steckte ihn in einen kleinen grünen Kasten mitten auf dem Tresen. Die Menschen verließen die Vermittlungsstelle ohne Ausnahme mit deprimiertem Gesichtausdruck.
Als ich an der Reihe war, lächelte ich höflich. »Guten Tag, ich suche dringend …«
»Das tun sie alle«, unterbrach mich die Frau auf der anderen Seite des Tisches. Mit der riesigen Brille, die ihre Augen stark vergrößerte, wirkte sie wie ein großes Insekt. »In den fünf Jahren, die ich hier arbeite, hat noch nie jemand auf Anhieb eine Stelle gefunden.«
»Oh, mir ist es ganz egal, was ich mache«, sagte ich schnell. »Hauptsache …«
»Natürlich, Schätzchen, aber den Arbeitgebern ist es nicht egal, wer bei ihnen anfängt. Jeder eignet sich für etwas Bestimmtes. Die Kunst liegt darin, zwei zu finden, die zusammenpassen.«
Ich sah sie erwartungsvoll an, doch sie drückte mir nur ein Blatt Papier in die Hand.
»Sie haben mich noch gar nichts gefragt«, erinnerte ich sie.
Die Frau lächelte milde. »Zu jung, zu unerfahren und vor allem zu zart gebaut. Die Chancen stehen ehrlich gesagt nicht besonders gut.«
»Oh …« Ich nickte niedergeschlagen und nahm den Bogen entgegen.
Als ich etwa eine halbe Stunde später meinen Fragebogen in die grüne Kiste steckte, hatte sich mein Mut verflüchtigt wie eine Schneeflocke im Frühling. Die Frau hatte vermutlich recht, die Aussichten, dass ich hier einen Job finden würde, waren unterirdisch. Mit hängendem Kopf schlich ich die Straße entlang. Ich hatte so große Erwartungen in die Vermittlungsstelle gesetzt. Und ich hatte keinen Plan, was ich jetzt machen sollte.
Neben mir flog eine Tür auf und dröhnendes Gelächter drang mitsamt einer Qualmwolke aus dem Haus. Ich hustete und wollte mich gerade abwenden, als ich Kalle zwischen den Männern in der Kneipe ausmachte. Der Schmied war ein Raubein erster Güte, aber ein Mann mit Herz. Er war mein Freund, seit ich als kleines Mädchen schon die Hufe angehoben hatte, wenn er zum Beschlagen auf den Sturmhof gekommen war. Ich musste daran denken, wie er mich immer gelobt hatte für mein Fingerspitzengefühl im Umgang mit den Pferden.
Und da hatte ich eine Eingebung.
Ich änderte die Richtung und steuerte auf den Eingang zu. Die verwunderten Blicke der Männer ignorierte ich ebenso wie die dummen Bemerkungen.
»Na, suchst du deinen Papa?«
Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge zu Kalle und tippte ihm auf den Arm. »Hey, Kalle, du könntest doch bestimmt jemanden gebrauchen, der dir beim Beschlagen hilft, oder?«, fragte ich voller Hoffnung. »Einen, der die Pferde festhält oder das Werkzeug säubert …?«
Kalle sah mich fragend an. »Sag bloß, dein Bruder sucht Arbeit.«
Ich schüttelte energisch den Kopf. »Nein! Ich wollte …«
Schallendes Gelächter ertönte um mich herum.
»Der Pimpf hat ja noch nicht mal den Stimmbruch hinter sich.« Der Dicke hielt mich offenbar für einen Jungen. Zwar sah ich in meinen einfachen Klamotten sicher nicht aus wie die anderen Mädchen, aber meine langen, zum Zopf gebundenen Haare hätten zumindest ein eindeutiger Hinweis sein müssen. Vielleicht waren sie auch unter meinen Schal gerutscht, aber es ärgerte mich trotzdem.
Ich atmete einmal tief durch und wollte zu einem weiteren Versuch ansetzen, doch ein kräftiger Schlag auf den Rücken ließ mir die Worte im Hals stecken bleiben.
»Vielleicht findest du ja eine Stelle auf einem Gutshof. Bestimmt wird irgendwo jemand gesucht, der als Windstopper zwischen die Ritzen passt.« Die Männer lachten erneut.
Ich kniff die Augen zusammen und fixierte den Kerl, dessen ledrige Haut an einen alten Stiefel erinnerte.
»Lass sie in Ruhe, Kremp! Ašleah ist ein Mädchen und sie sucht ganz bestimmt keine Arbeit im Stall. Und bei mir in der Schmiede …« Kalle lächelte mich bedauernd an und mein Herz sackte ab. »… tut mir leid, aber das geht wirklich nicht. Frag doch mal bei Magda in der Küche.«
Ich warf einen letzten Blick in die grinsenden Gesichter um mich herum und nickte langsam.
Zögerlich drückte ich mich zwischen den Stühlen hindurch und wollte gerade an die Küchentür klopfen, als sie von innen aufgestoßen wurde.
»Verschwinde, Betty! Ich habe ohnehin zu viele Leute in der Küche, die ich nicht bezahlen kann!«
Die Tür fiel scheppernd wieder ins Schloss und eine hagere junge Frau drehte sich zu mir um. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Drecksladen!«, sagte sie zu mir. »Ich habe sowieso keine Lust mehr, noch drei weitere Monate auf mein Geld zu warten.«
Sie stapfte zur Tür hinaus, ohne sich noch einmal umzuwenden. Und vermutlich war das auch das Beste, was ich tun konnte.

Dalibors Schnauben begrüßte mich. Ich hatte Lancelot ausgespannt und in seine Box gebracht, Julie war mit ihren Schätzen im Wohnzimmer verschwunden. Leise öffnete ich den Riegel und schlüpfte in Dalibors Box. Novak musste nicht alles mitbekommen. Ein Pferd war seiner Meinung nach zum Arbeiten da und Reiten erfüllte auch nur den Zweck der Fortbewegung – mehr nicht. Dass ich Dalibor als meinen Freund betrachtete, dafür fehlte ihm jedes Verständnis. Ich schlang meine Arme um den Pferdehals. Der Geruch allein vertrieb normalerweise schon meine Sorgen – aber nun war genau dieses Glück in Gefahr. Wenn ich keinen Job fand, würde ich Dalibor verlieren!
Ich wischte meine Tränen an seinem dichten Fell ab. Jeder Versuch, im Dorf eine Stelle zu finden, war eine Katastrophe gewesen. Besonders die Idee, bei Kalle nachzufragen – Schmied war natürlich genauso ein Männerjob wie Stallbursche. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Wie dumm von mir, dass ich gedacht hatte, Kalle würde mich einstellen!
Ein richtiges Mädchen war ich aber offenbar auch nicht, sonst hätten die Männer mich wohl kaum mit einem Jungen verwechselt. Ich musste an den Witz des Dicken denken, mich als Windstopper auf einem Gutshof zu bewerben. Aber zum Lachen war mir nicht zumute. Mir fiel die Zeitungsannonce vom Kralshof wieder ein. Stallburschen wurden auf den Zuchthöfen jetzt überall gesucht, so kurz vor dem großen Rennen. Was hätte ich dafür gegeben, ein Junge zu sein und einfach das zu tun, wozu ich Lust hatte!
Gedankenverloren ließ ich ein paar Strähnen meiner Locken durch meine Finger gleiten. Musste man nicht größere Opfer bringen, wenn einem etwas wichtig erschien? Ma hatte immer zu mir gesagt: »Manche Chancen im Leben ergeben sich nur ein einziges Mal. Aber du wirst es fühlen, ob der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um sie zu ergreifen.«
Vielleicht war dieser Zeitpunkt ja nun gekommen? Ich hob den Kopf. Mein Blick streifte das kleine Fenster über Dalibors Box, in dem sich mein Gesicht im schwachen Schein der Stallbeleuchtung spiegelte. Nachdenklich schaute ich in Dalibors dunkle Augen. Und plötzlich wusste ich, was ich tun musste.
Ich huschte durch den Stall zu dem Schrank, in dem ich das Werkzeug aufbewahrte. Nach kurzer Suche fand ich die Schere und flitzte zurück in Dalibors Box, schob mein Pferd etwas beiseite und stellte mich auf die Zehenspitzen. Ungeachtet des erschrockenen Blicks, den mir mein Spiegelbild im Stallfenster entgegenwarf, umfasste ich mit der freien Hand meinen Zopf.
Und schnitt ihn einfach ab.


Kapitel 3
Immergrün
Vorsichtig öffnete ich Jiris Zimmertür und schlich zu seinem Schrank. Zum Glück wusste ich genau, dass das linke Scharnier beim Öffnen quietschte und an welcher Stelle die Dielen knarzten – das war der Vorteil davon, dass ich die gesamte Hausarbeit allein erledigte. Aber den regelmäßigen Atemzügen nach zu urteilen, schlief mein Stiefbruder ohnehin tief und fest. Ganz behutsam zog ich an dem Griff und öffnete so langsam wie möglich den Kleiderschrank. Ich suchte mir einen dunkelgrünen Thermopullover und eine schwarze Mütze heraus, die Jiri von Novak bekommen hatte, aber nie trug.
Nicht, dass meine übliche Kleidung besonders mädchenhaft gewesen wäre, aber ich wollte sichergehen, dass ich kein Detail übersehen hatte und man mich an meinem Outfit nicht erkennen konnte. Meine alten Hosen würden mich ebenfalls nicht verraten, und in der Waschkammer hatte ich ein paar ausrangierte Stiefel und eine Winterjacke von Jiri gefunden, die ihm längst zu klein geworden waren.
Mit klopfendem Herzen schloss ich die Schranktür und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer. Die Sonne war gerade hinter den Bergen aufgegangen, aber ich brauchte nicht zu befürchten, dass Novak mir über den Weg laufen würde. Er wusste, dass ich mich um die Pferde kümmerte und es für ihn keinen Grund gab, früh aufzustehen. Er würde sich erst wundern, wenn er in die Küche kam. Ich hatte meine Arbeiten für diesen Tag bereits in aller Frühe erledigt, damit mir niemand etwas vorwerfen konnte, falls ich später als geplant nach Hause kam.
Ich zog Jiris Sachen über, steckte Mas Reithandschuhe ein und ein Stück Brot vom Vortag als Proviant und verließ so leise wie möglich das Haus.
Im Stall schlug mir der vertraute Geruch nach Heu und Pferden entgegen. Ich verteilte die morgendlichen Rationen und sah zu, wie Dalibor auf seinem Frühstück kaute.
»Es hört sich zwar verrückt an«, murmelte ich, während ich mit den Fingern durch sein Fell fuhr, »aber weißt du, jede ungenutzte Möglichkeit ist ein Schritt in die falsche Richtung.« Das hätte Ma zumindest behauptet.
Ich erinnerte mich an den Tag, als ich sie gefragt hatte, wann ich endlich mit Dalibor beim großen Rennen starten dürfte. Er war drei Jahre alt gewesen und ich gerade mal acht. Jiri hatte mich später ausgelacht und erklärt, dass Mädchen gar nicht zum Rennen zugelassen würden. Ma aber hatte gelächelt und mein Gesicht in beide Hände genommen.
»Glaube nur fest daran, dass sich Träume erfüllen können«, hatte sie gesagt. »Wenn das Feuer in deinem Herzen heiß genug brennt, wird es dir jeden Weg ebnen, den du gehen willst.« Sie tippte mir gegen die Brust. »Genau diese Kraft hat auch das Schneefeuer, und deshalb brechen die Prinzen jedes Jahr auf, um die lange Reise bis ins Tal des Frühlings anzutreten.« Eine Träne glitzerte in ihrem Augenwinkel. »So beschwerlich sie auch ist, versuchen sie es immer wieder aufs Neue – so wie dein Vater es vorhatte. Es ist ein tragisches Unglück, wenn man schon auf dem Weg zur Erfüllung seiner Träume ums Leben kommt. Aber ohne Träume fängt man gar nicht erst an zu leben.« Sie hatte mich fest in den Arm genommen, und ich wusste, dass Pa stolz auf sie gewesen wäre.
Wieder fiel mein Blick auf das kleine Stallfenster über Dalibors Box. Mein Spiegelbild sah mich neugierig an, obwohl ich mich eigentlich kaum verändert hatte. Unter Jiris Mütze kam ein Stück von meinem Zopf zum Vorschein. Der einzige Unterschied war, dass ich ihn mit einem Clip befestigt hatte – für den Fall, dass mich unterwegs jemand erkannte. Sicherheitshalber tastete ich noch einmal nach dem gefalteten Zeitungsausschnitt in meiner Hosentasche. Er war noch da. Ich musste mich gar nicht erst kneifen, um mich zu vergewissern, dass ich nicht träumte.

Schon von Weitem erkannte ich das Haus von dem Foto. Die weiße Farbe fügte sich harmonisch in die Landschaft. Feine Schneewehen zogen sich über das Dach und ließen nur vereinzelt rote Ziegel durchblitzen. Das Gebäude war beeindruckend groß, und ich fragte mich, wie viele Angestellte dort wohnen mochten.
Der Kralshof lag wie der Sturmhof abseits des Dorfes, was mit Sicherheit die einzige Gemeinsamkeit war. Die hohen Fenster erinnerten eher an den Saal des Rathauses, in dem der jährliche Prinzenball stattfand, und die großzügigen Stallungen waren mit nichts zu vergleichen, das ich bisher gesehen hatte. Die Pferde mussten sich hier so wohlfühlen, dass sie sich vermutlich sogar freiwillig einquartiert hätten.
Ich hielt den Schlitten an und versank in ehrfurchtsvollem Staunen. Neben dem Hauptgebäude gehörten zwei kleinere Anbauten zu dem Gutshof der Krals. Das Anwesen war noch viel imposanter, als ich es mir vorgestellt hatte. Am schönsten allerdings fand ich die vielen liebevollen Details: Kleine Sprossenfenster in derselben karminroten Farbe wie das Dach ermöglichten den Ausblick aus dem Stall. Eine schmiedeeiserne Darstellung eines Schlittengespanns zierte das Stalltor. Und über dem Eingangsportal des Haupthauses war eine riesige Uhr in der Wand eingelassen, deren Zeiger ebenfalls aus kleinen Pferden bestanden. Ich hatte noch nie einen hübscheren Hof gesehen. Ich war geradezu verliebt – vom ersten Augenblick an.
Mit einer Hand schob ich mir die Mütze vom Kopf und löste mit der anderen den Clip. Ich ließ den Zopf in meiner Jackentasche verschwinden. Dann strubbelte ich mir einmal durch die Haare, bevor ich die Mütze wieder aufsetzte und tief in die Stirn zog. Ma hatte mir immer versichert, wie besonders schön meine langen Haare waren, und ich hätte nie gedacht, dass ich sie jemals abschneiden würde. Aber in diesem Moment bereute ich gar nichts. Ich musste diese Stelle haben. Um jeden Preis der Welt.
Sachte schwang ich die Zügel und schnalzte Lancelot zu. Der Rest des Weges verging beinahe zu schnell. Zu gerne wäre ich noch einmal in Gedanken durchgegangen, was ich sagen wollte, um mich vorzustellen, da stand ich schon vor dem Haupteingang. Als ich den schweren Messingring umfasste und an der Tür klopfte, zitterten meine Finger ein wenig. Es dauerte nicht lange, bis die Tür aufschwang und eine rundliche kleine Frau erschien. »Ja, bitte?«
Ich räusperte mich, um meine Stimme etwas tiefer klingen zu lassen. »Ähem, ich möchte mich auf die Stallburschenstelle bewerben.« Meine Worte erschienen mir besonders piepsig und ich wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken.
Die Frau runzelte kurz die Stirn, lächelte aber freundlich. »Soso«, sagte sie und sah mich interessiert an.
Ich glaubte meine Tarnung schon verloren, doch sie öffnete die Tür weiter und bat mich herein. Sie trug eine weiße Schürze, die mit etlichen kleinen Flecken übersät war. Die Hausherrin – falls es überhaupt eine gab – war sie garantiert nicht.
»Ich werde Herrn Kral Bescheid geben. Warte hier!« Sie drehte sich um, ging den Flur hinunter und verschwand hinter einer der Türen.
Ich trat nervös von einem Fuß auf den anderen, während ich mich umsah. Der alte Holzboden war an einigen Stellen bereits abgewetzt, aber die hohen Decken ließen den langen Flur dennoch herrschaftlich wirken. Ölgemälde von Pferden in unterschiedlichen Jahreszeiten hingen an den Wänden. Fasziniert schaute ich mir die Bilder an. Im Sommer hatte der Maler die Bäume und Sträucher mit saftigen grünen Blättern gefüllt, sodass man keinen Ast mehr erkennen konnte, und das Gewicht der reifen Erntefrüchte zog die Zweige bis zum Boden. Der Herbst hingegen erstrahlte in allen Gold- und Rottönen, die die Farbpalette zu bieten hatte. Mit der Realität, die ich kannte, hatten diese Darstellungen nichts gemein. Solange ich zurückdenken konnte, war schon der Frühling ein Ereignis. Der Sommer hielt kaum Einzug, dann fielen die ersten Blätter bereits zu Boden. Und noch bevor der Wald in bunten Farben erstrahlen konnte, bedeckte der Schnee wieder die Bäume.