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Es steht unwiderruflich fest: Ich gehe den Jakobsweg. Ich habe alles zusammen.
Ich könnte eigentlich direkt los…
Noch 25 Tage.
02.08.2019 17:34 Uhr
Es wird Zeit.
Ich muss langsam die eine Sache erledigen, die noch fehlt. Die eine Kleinigkeit. Der Rucksack steht schon fertig gepackt in der Küche. Jeden Tag grinst er mich an und wartet ungeduldig darauf, dass es endlich losgeht. Eventuell werden noch Kleinigkeiten umgepackt, aber theoretisch könnte ich ihn aufsetzen und sofort aufbrechen. Aber die eine Sache, die so wichtig ist für den Camino, fehlt eben noch. Ich brauche endlich einen Stein. Den erwähnten Stein, den ich symbolisch am Cruz de Ferro ablege.
Ein paar Treppenstufen geht es hinauf und dort suche ich im Garten. Ein Stein ist schnell gefunden. Kurz vom Dreck befreit, abgewaschen, getrocknet und vorsichtig beschriftet. Womit? Geduld. Und erheblicher, emotionaler Anstrengung. Als der Stein vor mir liegt, wird mir irgendwie klar: Der reicht nicht. Dieser Stein steht für meine Vergangenheit. Ich brauche noch einen. Für die Zukunft. Denn auch die muss ich loswerden. Zumindest die eine Möglichkeit der Zukunft, die es nun nicht mehr geben wird. Gut, dass es im Garten noch ein paar Steine gibt. Der zweite kann auch ruhig richtig deformiert und hässlich sein. Würde passen. Auch dieser ist schnell gefunden. Maulwürfe fördern echt heftiges Zeug zutage.
Sehr gut. Erledigt und verpackt. Fühlt sich gleich besser an. Auch der Rucksack grinst noch mehr als vorher. Ich sollte ihm demnächst einen Namen geben. Dieser Begleiter für viele kommende Wochen hat das verdient.
Da fällt mir direkt noch etwas ein. Ich habe eine riesige künstliche Blume in meiner Bude stehen. Es ist eher ein Konglomerat aus künstlichen Blumen. Ein exquisites Bouquet aus wunderschönen, künstlichen Blumen. Sauhässlich. Aber irgendwie auch wunderschön. Mit diesem schönen Strauß hängt eine Geschichte zusammen. Eine Geschichte, die nur zwei Menschen kennen. Eine Geschichte, die entsorgt werden muss. Eine Geschichte, die ich zurücklassen muss. Diese Blumen müssen auch mit. Sie müssen mit, um sie zurückzulassen. Entweder am Cruz de Ferro oder am Meer, vollkommen egal. Dafür ist noch Platz am Rucksack. Sie passen perfekt in die Seitentasche und verleihen mir mit Sicherheit ein Aussehen, das mich unübersehbar macht. Oder zum absoluten Vollidioten. Läuft.
Jetzt ist eigentlich alles perfekt und komplett, aber ein weiterer Gedanke kommt auf und lässt mich nicht los. Schon seit einigen Jahren will ich mir eine neue Ukulele kaufen. Mein geliebtes, uraltes Saiteninstrument namens Stefan hat seine besten Jahre schon lange hinter sich. Diese Ukulele wurde schon mehrfach geflickt und hat so manch unvergessliche Party erlebt. Dementsprechend schief klingt sie auch. Stimmen ist nutzlos geworden. Sie ist spielbar und mag dem ein oder anderen unmusikalischen Gehör oder alkoholvernebeltem Ohr ein wohliges Gefühl in der Magengegend vermitteln, aber es wird Zeit für ein neues Instrument. Tut mir leid Stefan. Warum nehme ich dich nicht einfach mit und bette dich am Ende der Welt zur wohlverdienten Ruhe?
Mit ein paar Schnüren an Ukulele und Rucksackschnallen ist die Befestigung erledigt. Den letzten Schliff bekommt mein Rucksack durch das Anbringen eines quietschenden Kopfes meiner Lieblings-Comicfigur Joker und durch etliche, kleine Anhänger von Familie, Freunden und Kollegen. Somit sieht mein Gepäckstück und damit auch ich nun endgültig aus wie der närrischste Pilger aller Zeiten.
Also ich finde das klasse.
Noch 23 Tage.
07.08.2019 18:37 Uhr
Das war ein richtig guter Tag.
Um meinen fertig gepackten Rucksack und die Wanderschuhe zu testen, hatte ich heute eine Art Testwanderung mit einer lieben Arbeitskollegin und Freundin. Wir liefen in einem gemütlichen Schritt 11,2 Kilometer durch den Thüringer Wald. Inklusive langen Steigungen, langen Abstiegen und jeder sonst auch nur irgendwie erdenklichen Form von Straßen- und Wegeprofil. Inklusive absoluter Schwüle und sogar Regen. Es war wirklich alles dabei und es war der perfekte Test. Okay, Wüste hat gefehlt. Die Tour war sogar inklusive der Sichtung eines putzigen Feuersalamanders. Ob der mir für mein Vorhaben irgendwie weiterhilft, bleibt fraglich. Aber krass intensive Farben hatte der Kollege.
Ohne jetzt sonderlich in Überschwang zu verfallen, aber das sitzt. Die Schuhe sind mehr als passend und eingelaufen. Wäre auch komisch, wenn nicht. Nach all den unzähligen Kilometern auf dem Rennsteig in den Jahren zuvor. Opas noch namenloser Rucksack, einmal richtig aufgesetzt und geschnürt, liegt perfekt an, drückt nicht, zwickt nicht und reibt nicht. Der Regenschutz funktioniert auch. Und mal ganz ohne Scheiß, Feuersalamander sehen echt krass aus.
Vor ein paar Tagen bestellte ich mir ein Hemd für den Camino und freue mich nun, bei meiner Rückkehr nachhause, über dessen Ankunft. Ich weiß nicht genau, wie ich auf die Idee kam, aber irgendwie musste ich es einfach bestellen. Es ist ein kleiner Tribut an mich selbst und meine Liebe zu Filmen und Filmgeschichte. Es könnte sowas wie mein Feierabendhemd nach einem harten Wandertag werden. Egal wie, es spiegelt einen großen Teil meiner Hobbys wider, also muss es mit. Einfach so. Immerhin wiegt es auch fast nichts.
Nun sitze ich schon wieder draußen, öffne für mich und meinen besten Kumpel ein hopfenhaltiges Kaltgetränk und schmunzle still vor mich hin. Das erste Mal seit Wochen. Das war ein richtig guter Tag.
Noch 18 Tage.
09.08.2019 23:25 Uhr
Johnny Cash wusste definitiv, wovon er redet. Wovon er singt.
Ich sitze nach wohlverdientem Feierabend wieder draußen und höre Musik. „Solitary Man“. Welch geniales Lied. Welch unfassbar wahres Lied. Für mich. Jetzt im Moment. Für andere Hörer mag es nur irgendein Lied von irgendeinem Typ sein. Einem Typ, der immer nur Schwarz trug. Kommt mir irgendwie bekannt vor.
Ein bisschen merkwürdig ist das schon. Meine Arbeit, meinen Dienst an der Hotelrezeption zu bestreiten, während ich selbst und auch alle Kollegen wissen, dass da zuhause ein fertig gepackter Rucksack steht. Vor mir liegen laut Plan noch neun Arbeitstage und insgesamt sieben freie Tage, bis ich endlich abreise. Ich wollte ja nicht direkt nach einem Arbeitstag mitten in der Nacht gleich aufbrechen und habe mir so einen Puffer von ein paar Tagen eingeplant, bevor der Tag des Aufbruchs kommt. Aber die restlichen Arbeitstage sind äußerst komisch. Ich mag meinen Job. Sehr. Wirklich. Klar, es geht immer hoch und runter, wie bei jedem einzelnen Menschen dieser Welt. Aber im Moment fühlt er sich eben merkwürdiger an als je zuvor. Der Kontrast hat sich gesteigert. Der eine Tag geht schnell vorbei, der nächste Tag zieht sich wie ein zähes Stück zerlatschte Schuhsohle. Und an der Schuhsohle kleben Kaugummis. Viele Kaugummis. Vollkommen geschmacklose Kaugummis, die derjenige, der sie ausgespuckt hat, nur kaute, weil sie halt einfach da waren.
Und nach wie vor, ich kann es einfach nicht abstellen, egal was ich tue, geht mir diese Frau im Kopf rum. Ich kotze mich an. Wenigstens nur im metaphorischen Sinn. Ich möchte einfach nur abschalten können. Es wäre der Wahnsinn, das hinzukriegen. Ich hoffe, ich lerne das noch irgendwann. Einfach ausblenden. Vielleicht lerne ich wenigstens, damit umzugehen, genau das nicht zu können.
Johnny Cash wusste definitiv, wovon er redet. Wovon er singt. „Cry Cry Cry“. Welch geniales Lied. Welch unfassbar wahres Lied. Für mich. Jetzt im Moment.
Noch 16 Tage.
12.08.2019 00:07 Uhr
Das war ein skurriler Tag. Also gestern. Immerhin hat heute eben erst begonnen.
Meine Nerven sind echt ziemlich am Ende. Mein Unterbewusstsein arbeitet ununterbrochen, vollkommen egal, was ich tue. Mein Bewusstsein dummerweise auch. Beste Freunde. Diese beiden Arschgeigen.
Es ist genau wie damals bei der Erkrankung meiner Beine. Alles wurde untersucht und durchgecheckt. Ich bin körperlich vollkommen gesund. In jeder Hinsicht. Selbst der Leber geht es prima. Wenn da nur nicht der Kopf und die Nerven wären. Die können einem Menschen aber auch alles vermiesen. Immerhin weiß ich wenigstens, dass mein Körper in jeder Hinsicht fit für den Jakobsweg ist.
Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so dermaßen aus der Bahn geworfen werde. Niemals. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so dringend raus muss. Weg muss. Die kleinste Erwähnung der Thematik, die kleinste Erwähnung meiner Baumeisterin lässt sofort meine Hände zittern und mich in Schweiß ausbrechen. Halleluja. Das kenne ich von mir nicht. So kenne ich mich nicht. Also das mit dem Zittern. Schwitzen… na ja. Das schon.
Die nächsten zwei Wochen müssen so schnell wie möglich vergehen. Ich sollte nicht mal ihren Namen hören. Das wäre das Beste.
Eine meiner Kolleginnen und liebe Freundin der Rezeption hatte heute das letzte Mal mit mir zusammen Dienst und Schicht-Übergabe. Das letzte Mal, bevor sie in ihren Urlaub geht und bevor ich weg bin. Die Verabschiedung war sehr, sehr heftig für sie und mich. Die Tränen kamen auf beiden Seiten. Keine andere Chance. Das Gleiche passierte schon mit einer weiteren Kollegin, in gleicher Situation vor wenigen Tagen. Nur musste ich an diesem Tag und auch heute danach noch weiter meinen Spätdienst absolvieren. Macht nichts. Wenn ich bei einer neuen Anreise mit feuchten Augen sage:
„Es ist so schön, sie als unsere Gäste begrüßen zu dürfen“… Kommt das vielleicht gut.
Noch 12 Tage. Oder 13. Immerhin hat heute eben erst begonnen.
15.08.2019 23:34 Uhr
Heute vor einem Jahr waren wir in Rom. Sie und ich. Da war die Scheiße noch nicht so finster. Da war ich noch glücklich und na ja, eben in meinem geliebten Rom. Nein, nein, nein, hör sofort auf zu denken. Hör auf mit dem Mist. Vielleicht sollte ich meinen Kopf austauschen oder meine Nerven medizinisch ausschalten lassen. Eine gepflegte, altmodische Lobotomie. Weg mit den Nervenbahnen. Super Idee. Das wird mein Plan B.
Es ist schon erstaunlich, wie viele Freunde und Bekannte ein letztes Bier mit mir trinken wollen, bevor ich weg bin. Gleichzeitig ist es schade, dass keine Zeit für sie alle ist. Als kleine, zu vernachlässigende Randerscheinung würde ich wahrscheinlich Alkoholiker werden, wenn ich diese ganzen letzten Biere trinken würde. Vielleicht, nur vielleicht, wäre es das aber wert.
Es war mir schon immer, aber wird mir jetzt nochmal richtig klar: Ich habe definitiv die besten Freunde, die sich ein Mensch nur wünschen kann. Nochmal dramatischer: Die BESTEN Freunde, die sich ein Mensch nur wünschen kann! Leute, ihr seid einfach klasse. Ob ihr mir zugehört und mich verstanden habt oder einfach nur da wart. Ich habe eine lange Zeit so gut wie nichts von euch gehabt. Bedingt durch die Arbeitszeiten, die räumliche Entfernung und die Zeit mit ihr. Nichts davon war oder ist negativ gemeint. Absolut nicht. Ich wollte dieses Leben und ich war und bin sehr zufrieden damit. Aber vollkommen egal, wie viel Zeit manchmal zwischen unseren Kontakten war, egal wie lange wir uns manchmal nicht gesehen haben, ihr wart immer da und war ich bei euch, war es, als ob es nie anders gewesen wäre.
Danke, dass es euch alle gibt. Vielen, vielen Dank.
Ohne jetzt Namen zu nennen, aber es gibt zwei Menschen, die mir in meinem Freundeskreis die größte Unterstützung gegeben haben. Durch ihr offenes Ohr und die Geduld mit mir, während ihnen wegen mir wahrscheinlich schon die Hörmuscheln bluteten. Wenn ihr das lest, wisst ihr hoffentlich, dass ich euch meine. Danke, dass ich euch immer vollsülzen durfte. Sei es zu komischen Tageszeiten gewesen oder eine gefühlte Ewigkeit lang.
Vielen Dank Bernd und Fred. Okay, damit könnte absolut JEDER aus meinem Freundeskreis gemeint sein.
Und genau so soll es sein.
Noch 11 Tage.
19.08.2019 23:54 Uhr
„Können die absolut merkwürdigsten Wochen deines Lebens noch merkwürdiger werden?“ Dies fragte das Universum und kraulte sich danach genüsslich die Wampe. Und klein ist die wahrlich nicht.
Mein innerer Zwang, immer verstehen zu wollen, immer verstehen zu müssen, was einen Menschen dazu bewegt, zu tun, was er eben tut, brachte mich vor ein paar Tagen dazu, wieder Kontakt zu dem Menschen aufzunehmen, mit dem ich keinen Kontakt mehr haben wollte. Ja, genau die. Sie war eben genau das, genau die, die ich mir für mein Leben erhofft hatte. Ich wollte und will sie eben einfach nur verstehen. Nicht mehr, nicht weniger. Meine Baumeisterin. Mal kurz und knapp zusammengefasst: Es ist schon eine extrem bewundernswerte Leistung, die sie in den letzten Tagen vollbracht hat. Zuerst eine Drehung um 180 Grad zurück in meine Richtung. Das war ja schon echt heftig. Aber innerhalb weniger Tage, weniger Stunden die vollen 360 Grad hinzukriegen… Respekt. Der alte Assurbanipal im noch älteren Babylon hatte bei der Grad-Einteilung des Kreises bestimmt etwas anderes im Sinn. Ich hoffe es. Sonst zerstört das mein Verständnis von Geschichte und Wissenschaft.
Welche Synapsen werden stimuliert, wenn man so dermaßen hin und her schwankt? Wie finde ich die? Echt jetzt, ich will die auch. Das ist bestimmt lustig.
Noch 6 Tage.
(Memo an mich selbst: Neue Synapsen besorgen. Angebot im Discounter: 17 Gramm Hirnverknüpfungen; 13,17- €; JETZT ZUSCHLAGEN!)
21.08.2019 23:25 Uhr
Fertig. Das war mein letzter Arbeitstag für die nächsten zwei Monate. Skurril. Bizarr. Merkwürdig. Strange. Abstrus. Diffizil. Abgefahren. Närrisch. Baum. Alle Synonyme, die es für diese Worte noch gibt. Mehr davon fallen mir gerade nicht ein. Es gibt noch viele mehr. Denke ich. Sprache ist schon eine abgefahrene und verschwurbelte Sache.
Mit Verabschiedungen verhält es sich ähnlich. Es kommt mir vor, als würde ich mein bisheriges Leben komplett abschließen und nie wiederkommen. Niemals wieder. So werde ich zumindest von 90 Prozent meiner Mitmenschen behandelt. Das ist gleichzeitig absolut putzig und vollkommen… äähhhh…
Genau.
Mensch Leute, ich will doch nur ein paar Kilometer laufen. Nur ein paar hundert Kilometer.
Es kommt des Öfteren vor, dass zu Geburtstagen oder anderen besonderen Anlässen Kuchen zur Arbeit mitgebracht wird. Ich wollte für meinen vorläufigen Abschied etwas Ähnliches tun. Zwei aufeinander aufbauende Probleme stellten sich allerdings dabei: Ich war nie ein Freund von Süßkram oder Gebäck in jeder Form. Folglich kann ich auch nicht backen. Null. Ich habe daher für meine Vorgesetzten und Kollegen etwas anderes hinterlassen. Es ist sehr ölig. Man kann es aber essen. Hoffentlich. Schinken ist drin und irgendwo verstecken sich auch ein paar Oliven. Den Rest habe ich vergessen. Aber es riecht sehr nach Knoblauch. Wahrscheinlich, weil viel davon drin ist. Nur eine Vermutung. Vampire unter euch: Seid gewarnt. Obacht. Innerhalb des Gerichts sind auch einige Kreuze aus Zwiebeln verarbeitet. Immer denken: Schmeckt doch. Irgendwie. Scheiß drauf, ich werde es schon überleben. Ich liebe euch alle. Könnte man nur einen lachenden Smiley mit Zeichen auf einer Tastatur produzieren. Ich weiß, irgendwie geht das.
Aber ich und Technik. Wir mochten uns noch nie so richtig.
Noch 4 Tage.
25.08.2019 20:07 Uhr
Der Abend vor der Abreise ist gekommen. An Schlaf ist nicht mal ansatzweise zu denken. Schlafen kann ich ja unterwegs genug. Während ich mich selbst für diesen gelungenen Witz lobe, arbeitet der Kopf. Jetzt kommen die Fragen.
Echt jetzt?
Musste ich erst so tief am Boden sein, um endlich den Entschluss zu diesem Weg zu fassen?
Mach ich das jetzt wirklich?
Was genau erhoffe ich zu finden?
Was zum Teufel suche ich eigentlich?
Suche ich überhaupt irgendwas oder ist es einfach eine Art Flucht?
Mach ich das, um diese gewisse Frau zu vergessen?
Diesen Verlust und die Art und Weise dessen zu verarbeiten?
Um den Kopf frei zu kriegen?
Die Nerven wieder in die Spur?
Mein momentan extrem geringes Selbstwertgefühl wieder zu steigern?
Mich selbst zu finden?
Endlich zu lernen, mich kürzer zu fassen?
Keine Ahnung. All das. Und nichts davon.
Sowohl Opa und Manfred als auch jeder Einzelne, mit dem ich damals gesprochen habe, jeder Bericht, jeder Artikel, sagen mir eine Sache: Jeder, wirklich absolut jeder, lernt auf dem Jakobsweg etwas über sich selbst. Jeder kommt anders wieder, als er vorher war. Jeder nimmt irgendetwas aus dieser Erfahrung mit.
Sei die Lektion auch noch so klein.
Mal ganz ehrlich…
Komme ich wieder und habe gemerkt: Eigentlich bin ich doch gar nicht so verkehrt…
…. würde mir das schon reichen.
Ultreïa und buen camino!
Ein bisschen Schiss habe ich schon.
Alle Anreise ist (nicht sehr) schwer.
26.08.2019 05:31 Uhr
Fuck. Ich mach das ja wirklich.
Schlaf war letzte Nacht nicht nur Mangelware, sondern komplett ausverkauft. Jegliche Nachlieferung ausgeschlossen. Niemals wieder. Lieferant unbekannt verzogen. Oder verstorben. Oder verschlafen.
Unaufhaltsam rollt dieses merkwürdige Gefährt namens Zug weiter und weiter weg. Erstmal nach Frankfurt. Vertrautes Gebiet. Im Rhein-Main-Gebiet habe ich schließlich lange genug gelebt. Den ersten heroinspritzenden Junkie im Frankfurter Bahnhofsviertel habe ich schon im zarten Alter von 14 Jahren gesehen. Also alles cool. Danach geht es nach Paris. Ebenfalls vertrautes Gebiet. Bereits 2003 war ich dort, damals mit Opas Auto. Es ist auf jeden Fall eine der schönsten Städte, die ich bisher kenne. Ich freue mich drauf. Danach geht es immer weiter gen Süden.
Ungefähr eine Stunde ist es nun her, dass mein Zug in Eisenach abfuhr. Es war emotional, merkwürdig und irgendwie surreal. Oma und Mama waren auf jeden Fall aufgeregter und nervöser als ich. Opa riss seine üblichen Sprüche und hatte extra sein Jakobsweg-Shirt angezogen. Mit den Bildern, die Oma nur am Bahnhof machte, könnte man schon ein Fotoalbum füllen.
Ich mit Rucksack. Opa und ich mit Rucksack. Opa und Mama und ich mit Rucksack. Rucksack und ich gehen die Treppe zum Bahnsteig hoch. Rucksack und ich stehen am Bahnsteig. Rucksack und ich verabschieden sich. Rucksack fällt aufs Bahngleis und wird von einem anrauschenden ICE zertrümmert. Alle freuen sich, weil ich nun doch nicht so lange weg bin. Friede, Freude, Eiersalat.
Tagtraum. Ich sitze im Zug. Alles prima. Der noch immer namenlose Rucksack liegt über mir in der Gepäckablage und lässt sein Gehänge baumeln. Seine Schnallen und Riemen. Die hängen und baumeln. Schön.
Eine kleine Ungewissheit hat sich nun doch noch aufgetan. Aufgrund des unfassbar wichtigen G7-Gipfels, und da dieser in der Nachbarstadt Biarritz stattfindet, kann es sein, dass mein Zug nicht in Bayonne hält. Dort, wo ich meine Zwischenübernachtung gebucht und schon bezahlt habe. Toll. Das erfährt man dann kurz vorher per Mail. Klasse. Das Bahnticket wurde am 30.07. von mir gebucht. Die sieben größten Wirtschaftsmächte der Welt haben mit Sicherheit am 31.07. eine Telefonkonferenz abgehalten, die wie folgt ausfiel: „Wisst ihr, was tierisch cool wäre? Ende August so’n geschmeidiger Gipfel in Biarritz. Das Essen soll dort so gut sein.“
„Ja Mann, geile Idee. Aber bis kurz vorher verraten wir es keinem einzigen Menschen. Muhaha!“ Genau so muss es gewesen sein. Blöde Wirtschaftsmächte. Mal gucken, was passiert.
07:24 Uhr
Zug fahren. Ich hasse es. Ich bin nicht sicher warum, aber ich hasse es. Menschen, die das gerne machen, müssen irgendeine falsche Verkabelung im Kopf haben. Oder sie sind die Nachkommen von Schaffnern und Lokführern. Oder gibt es einen Zug-Fetisch? Furchtbar. Wenigstens habe ich einen Sitzplatz. Um eine meiner Lieblingsserien zu zitieren: „Es ist ein grotesker Karneval menschlichen Elends.“
Mittlerweile bin ich im Zug von Frankfurt nach Paris-Ost und hier ist alles vertreten, was man sich nur vorstellen kann. Geschäftsreisende, Handy-Suchtis, Touristen, Paradiesvögel, Laptop-Suchtis, Normalos, Gaffer und ein sehr großer Teil der Menschen, die meist die angenehmsten sind: Die Schlafenden. Wäre mal interessant zu wissen, was die alle über mich denken. Ich sehe total zerfleddert aus und habe einen großen Rucksack mit allerlei buntem Krimskrams sowie einer Ukulele daran. Sagt ihr es mir. Ich geselle mich derweil erstmal zu den Schlafenden und freue mich, dass ich auf der Heimreise größtenteils fliege. Denn das ist viel schneller vorbei.
Meine Sitznachbarin scheint noch einer der Menschen zu sein, die man in diesem Gefährt überhaupt noch als einen solchen bezeichnen kann. Junge Frau, vielleicht minimal älter als ich. Keine Schönheit, aber Sinn für Humor. Bei jedem Halt amüsieren wir uns über das blanke Chaos der ein- und aussteigenden Fahrgäste. Was für ein Gewimmel. Sie hat Ahnung, fährt seit sechs Wochen jeden Montag mit dem Zug von Aschaffenburg nach Paris und weiter nach Poitiers. Es gibt dort ein Partnerwerk ihrer Firma. Freitags geht es wieder zurück. Noch vier Wochen soll sie das durchziehen. Danach reicht es ihr, länger will sie das nicht mitmachen. Na ja, ich drücke ihr die Daumen.
Noch drei Stunden bis Paris und zu meinem geplanten Stopp an der verkohlten Notre-Dame. Ich muss dort umsteigen, denn Fernzüge durchqueren Paris nicht. Im Ostbahnhof muss ich raus und mit der U-Bahn zum Südbahnhof fahren, um dort meine Reise fortzusetzen. Die Zeit dazwischen müsste reichen, um den erwähnten Zwischenstopp durchzuziehen und die Metro zum Umsteige-Bahnhof zu erwischen. Ich nehme kurz vor dem Halt von der unbekannten Sitznachbarin noch ein paar Tipps über das Verhalten in französischen TGVs und der Pariser Metro mit. Dann verabschieden wir uns kurz und knackig und gehen ab Paris unserer Wege. Eine gute erste kleine Bekanntschaft auf dieser Reise. So kann es weitergehen.
13:44 Uhr
Es geht weiter gen Süden. Paris war kurz, schwül, heiß und… heiß.
Meine Fresse. Erster Eindruck von einem der Hauptbahnhöfe von Paris nach dem Aussteigen: Wie in einem Ameisenhügel. Auf LSD. Ich kenne Paris als Stadt, aber das war schon echt eine ganz andere Hausnummer. Als ich mir ein Ticket für die Metrolinie 4 holen wollte, die zwischen meinen beiden Umsteige-Bahnhöfen verkehrt, gab es dafür zwei Automaten. Zwei. An einem Hauptbahnhof. In einer Hauptstadt. Reicht ja. Dementsprechend natürlich extrem lange Warteschlangen. Als ich mich schon gedanklich von meiner Pause an Notre-Dame verabschiedet hatte, sah ich ein paar putzige, kleine, dunkelhäutige Männlein, die einfach mitten in der Menge aus der Hand Metrotickets verkauften. Da fackelt man nicht lange. Wenn man dann noch auf die Frage: „Für welchen Bereich oder welche Strecke gilt das?“ die Antwort: „All Paris“ bekommt und der eine verbliebene Zahn im Mund des Verkäufers dabei so verführerisch funkelt, ja Leute…
Zwei Tickets bitte, macht drei Euro, hier haste vier, Schüss. Es hat funktioniert. Die Drehkreuze gingen auf. Ein-Zahn-Jean hat mir meinen Stopp in Paris gerettet.
Sechs Metro-Stationen und einen hitzegeschwängerten Schlag in die Fresse später stand ich vor Notre-Dame. Fast. Denn seit dem Brand im April ist sie natürlich abgesperrt. An die weltberühmte Fassade kommt man nicht ran. Aber für ein Foto reichte es. Gut, dass ich die Dame schon von 2003 kenne. Dann bemerkte ich zwei Dinge. Erstens: Scheiße, es ist echt verflucht heiß hier. Zweitens: Die Zeit reicht, ich schaffe eine Runde um die Kathedrale, um mir das Ausmaß voll klar zu machen. Und los. Zusammengefasst lässt sich sagen: Die alte Dame von Paris ist vorne herum top in Schuss. Aber hintenrum…Hui, da liegt einiges im Argen. Das wird noch ein Weilchen dauern.