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Nach Zubiri folgt ein Hexenkessel. In der unheimlich brutzelnden Mittagssonne geht es in eine Senke hinein, in der sich die Hitze unseres Zentralgestirns mit der Hitze des Industriekomplexes nebenan verbindet. Was dort produziert wird, sieht aus wie Kalk. Ich vermute aber, die produzieren da eben einfach nur Hitze. Blanke Hitze. Ich fühle mich wie ein gekochtes Huhn. Ein nicht sehr leckeres gekochtes Huhn. Ein widerlich salzig verschwitztes, gekochtes Huhn.
Völlig durchnässt erreichen wir eine kleine Kapelle zwischen Illaratz und Eskirotz. Nein, das sind keine Beleidigungen, sondern Dörfer. Baskische Namen sind halt einfach immer zur Belustigung geeignet.
Ich freue mich wie ein gerade aus dem Kochtopf entkommendes Huhn. Ich kenne diese Kapelle aus einer Dokumentation über den Jakobsweg. Ein Südafrikaner namens Neil, der auf seinem Camino vor fast zehn Jahren diesen Ort fand und für immer hierher zurückkehrte, hält das Gebäude in Schuss und richtet es langsam wieder her. Wir finden ein schattiges Plätzchen im Eingangsbereich. Leider ist die Tür geschlossen und niemand ist zu sehen. Ein Stempel der Kapelle liegt zur Selbstbedienung bereit. Schade. Ich hätte Neil gerne getroffen. Wenigstens eine kleine Schattenpause zur Rehydrierung des Körpers. Plötzlich öffnet sich am Garten neben der Kapelle ein Tor. Ein Mann und ein kleines Mädchen kommen heraus. Ja, das ist er. Ich erkenne ihn sofort wieder. Ich rufe ihm zu: „NEEIIIIL.“ Völlig überrascht kommt er zu uns. Ich erzähle ihm, dass ich ihn aus dem deutschen Fernsehen kenne und dass ich weiß, er ist Neil aus Südafrika. Richtig erfreut und grinsend kommt er zu uns und begrüßt uns einzeln mit Handschlag und möchte unsere Namen wissen. Seine kleine Tochter hat einen Einkaufszettel in der Hand, da sie gerade zum Baumarkt nach Pamplona aufbrechen wollten, um ein kleines Stück Kapelle in eine bessere Zukunft zu bringen. Dennoch nimmt sich Neil die Zeit, um uns viele Informationen über seine Arbeit und dieses besondere Gebäude zu erzählen. Wunderschön, informativ und leidenschaftlich. Man spürt, dass Neils ganzes Herz an diesem Ort hängt. Wir sind beeindruckt von seinem Tatendrang, seiner Schaffenskraft, seinem Glauben und Willen, diesen Ort nur durch geringe Spendengelder wieder zum Leben zu erwecken. Lange reden wir mit ihm, bevor seine Tochter ihn daran erinnert, dass sie ja eigentlich noch zu besagtem Baumarkt wollten. Wir bedanken uns, spenden großzügig und Neil verabschiedet uns mit den besten Wünschen auf unseren weiteren Weg. Ein tolles Erlebnis nach diesem anstrengenden Tag.
Nach zwei Kilometern entlang des Rio Arga erreichen wir hitzegeplagt den Eingang des Dorfes Larrasoaña. Unser Ziel für heute. Der Camino weist nach links, der Ort liegt rechts. Als wir abbiegen, kommt uns plötzlich der finnische Ed Sheeran aus dem Dorf heraus entgegen. Allerdings ohne seine hübsche, blonde Freundin, sondern stattdessen mit einem rundlichen, bärtigen Mann an seiner Seite. Auf die Frage, warum er in der Hitze noch weiterläuft und nicht hier im Ort bleibt, sagt er nur: „Alle Bars haben zu.“ Und weg ist er. Mit dem Bärtigen. Dass in Spanien um diese Tageszeit oftmals Siesta herrscht und warum er seine hübsche Freundin gegen einen behaarten, dicken Mann eingetauscht hat, scheint er selbst nicht zu wissen. Der Camino erschafft Mysterien.
Nach einem kleinen Stück durch den Ort kommen wir an der Herberge St. Nicolas an. Diese haben wir uns grob vorgemerkt, dank einer App auf Alex‘ Handy. Muss ich mir auch mal zu Gemüte führen, scheint nützlich zu sein. Fünf Betten sind frei. Wuppi Fluppi. Ein Sechs-Bett-Zimmer haben wir sogar nur für uns. Mal schauen, ob das für uns überflüssige Bett noch belegt wird. Aus Freude über den geglückten Tag bemerkt Alex nicht, dass das Dosenbier am Verkaufsautomaten alkoholfrei ist. Mit großem Genuss trinken wir es trotzdem und schauen einem spielenden Hund im Hof der Herberge zu. Die Tochter der Wirtin findet das nicht so toll, denn der Hund gehört gar nicht der Familie. Er kam vor wenigen Tagen mit einer Pilgerin hier an und seitdem werden sie ihn nicht mehr los. Das ist ein großes Problem am Camino. Viele herrenlose Hunde sind hier unterwegs. Manche davon schließen sich vorbeiziehenden Pilgern an und bleiben bei ihnen. Oder bleiben eben einfach da, wo es ihnen gefällt. Ich habe mittlerweile viele Schilder gesehen. Immer mit der Aufschrift: Lieber Pilger, bitte achte darauf, dass dir keine streunenden Hunde folgen. Ganz vermeiden lässt es sich allerdings leider nicht.
Nach dem Körper- und Wäscheprogramm gehen wir nebenan einkaufen. Heute wollen wir kein Pilgermenü. Definitiv nicht. Der kleine Supermarkt mit integrierter Bar hat alles, was wir wollen und brauchen. Wir decken uns mit Chorizo, Schinken, Oliven, Tomaten, Käse, Brot und Bier ein. Natürlich trinken wir vor Ort auch erstmal ein Bierchen und den Wein, den mir der Wirt schenkte, nachdem ich ihm 20 Cent Trinkgeld gegeben hatte. Ich fühle mich wie Krösus. Ein toller Pilgertag nimmt langsam ein noch tolleres Ende.
Zurück in der Herberge wird mir klar, wie wichtig ein von Opa empfohlenes Utensil ist: Meine Wäscheklammern. Gut, dass ich sie habe. Man kann zwar überall Wäsche aufhängen, Ständer oder andere Möglichkeiten sind immer vorhanden, aber selbst bei dem leichtesten Wind bringt das ohne Wäscheklammern alles überhaupt nichts. Demzufolge ist der ganze Hof übersät mit einem bunten Potpourri aus umherfliegenden Wäscheteilen. Meine Wäsche flattert dagegen einsam, aber majestätisch im Wind. Das ist sehr, sehr schön.
Zufrieden sitzen wir im Hof der Herberge und verspeisen unsere spanischen Köstlichkeiten. Ohne Karin, die sich entschied, am Pilgermenü teilzunehmen. Nebenan am Tisch sitzen Claudia und Steffi, auch zwei Damen, die mit uns am ersten Abend im Refuge Orisson übernachteten. Bei ihnen sitzt Diederik aus Dänemark. Er scheint Schwierigkeiten zu haben, sich für eine der beiden Damen zu entscheiden. Der Blick sagt eindeutig: Mmhh, ist die hübscher? Oder doch die? Aber er scheint ein sehr lustiger Typ zu sein.
Eigentlich wollen wir heute früh ins Bett, aber daraus wird nichts. Die Stimmung ist einfach zu gut. Da ich heute nicht nur mein Hemd, sondern mein komplettes Johnny-Depp-Fear-and-Loathing-Feierabend-Outfit trage, inklusive Hose, Mütze und Nachtfahrbrille kommt Däne Diederik irgendwann zu uns an den Tisch und fragt mich, warum ich ein Hip-Hop-Outfit anhabe.
Hä?
Warum ich denn nicht mal ein paar tighte rhymes droppe?
Hä?
„Falsche Assoziation Diederik“, sage ich, schweige und Alex spielt auf seinem Handy ganz lässig „Magic Moments“ von Perry Como ab.
Heute habe ich 23 Kilometer hinter mir und Inga sagte: „Schön, dass wir dich getroffen haben!“
30.08.2019 07:15 Uhr
Aufbruch. Das frühe Aufstehen hat sich nach diesen ersten wenigen Tagen schon komplett ins biologische Gedächtnis und den Rhythmus eingebrannt. Das nenne ich mal gelungene Integration.
Im Vorhof der Herberge machen wir uns fertig und starten in die morgendliche Stille Larrasoañas. Karin, Hanne, Alex, Inga und ich sind gut gelaunt, mit schnellem Schritt unterwegs, und legen die ersten Kilometer gemeinsam zurück. Der Camino hat heute vorerst etwas von einem Dschungel. Er führt uns neben einem kleinen Fluss entlang, auf einem sehr schmalen Pfad. Wir müssen uns unter Blättern und herabhängenden Ästen hindurchschlängeln. Wenig Licht scheint durch die ausufernde Vegetation. Von der Flussseite aus erwarte ich ständig den Angriff eines Krokodils. Von der anderen Seite den Angriff eines Ureinwohners. Mit Giftpfeilen. Von oben eine Schlange oder eine Liane, die mich nach oben zieht. Ich sollte mir dringend eine Machete besorgen.
Im Dorf Zuriain machen wir direkt am Fluss unsere erste Pause. Eine tolle Bar, überfüllt mit frühstückswilligen Pilgern, lädt zum Verweilen ein. Mit Café con leche und einem Stück Tortilla lassen wir uns neben einem großen Feigenbaum am Flussufer nieder. Dort treffen wir erneut auf Lucy. Sie schwärmt von ihrer Herberge der letzten Nacht. Sie hatte ein Einzelbett, einen Pool und natürlich ihren geliebten Wein. „I was relaxing and swimming and of course drinking wine." Lucy. Genau. Auch Steffi und Claudia von gestern Abend setzen sich zu uns. Da sie nur bis Pamplona gehen und von dort wieder abreisen, werden wir sie wohl nicht wieder antreffen. Unter großer Freude erreicht auch Anna von Sylt, die wir am ersten Abend im Orisson kennenlernten, unseren Pausenbereich. Sie hatten wir nun gar nicht mehr erwartet. Sie geht sehr gemächlich, aber gleichmäßig und trägt 17 Kilo im Rucksack mit sich herum. Ernsthaft. 17 Kilo. Keine Ahnung, wie sie das macht. Oder warum.
Wir wollen so langsam weiter, die Pause zieht sich schon viel länger als gedacht. Einige Verabschiedungen folgen. Auch Karin bleibt zurück. Der Schritt, den wir vorlegen, ist ihr zu schnell. Mit besten Wünschen geht es weiter. Ringo, George, John und ich ziehen los. Abbey Road. Dieses Bild verfolgt mich seit den Postkarten am Beginn meiner Tour in Saint-Jean. Mittlerweile passt es. Hanne, Inga, Alex und ich. Die Vier glorreichen Sieben. Oder so ähnlich. Four on the road. Santiago Road. Es sollte wohl so kommen.
Da wir eine Weile direkt an der Straße entlanglaufen, winkt uns das erste große Zwischen-Ziel am Camino von den Schildern am Straßenrand schon auffällig zu. Pamplona. Wir kommen. Es ist erst kurz nach 09:00 Uhr, aber die Sonne beweist schon jetzt ihr Potenzial. Daher ist die Freude groß, als der Weg von der Straße in ein kleines Waldstück abzweigt. Davon haben wir leider nicht lange etwas, gleich darauf geht es steinig bergauf und neben einer Schlucht entlang. Extrem eng, staubig, geröllig und trocken. Obacht ist geboten. Besoffen sollte man hier jedenfalls nicht sein.
An einer Brücke über den Rio Arga treffen wir auf einen Mann, der gegen Spende selbst hergestellte Stempel in die Pilgerpässe vergibt. Da machen wir natürlich mit. Man kann sich ein Motiv des Stempels auswählen, bekommt ihn mit heißem Flüssigwachs in den Ausweis gegossen und darf sich sogar Anhänger aussuchen, die der nette Herr in den Stempel gießt und somit daran befestigt. Ich entscheide mich für die Sonne als Stempelmotiv und zwei Füße als Anhänger. Schönes Wetter und gesunde Füße. Was brauche ich am Camino mehr?
Wenig später gelangen wir an eine Kreuzung, vor der uns Neil, der Südafrikaner, gestern warnte. Ein Geschäftsmann hat die Kirche des Ortes Zabaldika gekauft und vermarktet sie nun touristisch. Auf dem Weg, der bis zur Kirche verläuft, hat dieser Mann auch alle Geschäfte und Bars aufgekauft. Da der eigentliche Camino nicht direkt entlang dieser geldgeilen Straße führt, hat dieser Mensch eigene Schilder und Pfeile angebracht, die den Pilger täuschend echt in eine falsche Richtung führen. Profit. Eine babylonische Hure, die alles korrumpiert. Wir wissen dank Neil Bescheid, biegen links ab und gehen am Fluss entlang zügig auf Pamplona zu.
An einer nächsten Kreuzung in der Nähe eines Wasserfalls sind wir etwas unschlüssig. Mehrere gelbe Pfeile zeigen sowohl nach links, als auch nach rechts. Alle jeweils mit der Aufschrift: „Santiago“. Na, herzlichen Dank auch. Auf Nachfrage erklärt uns eine niedliche, alte Spanierin, dass wir lieber weiter am Fluss laufen sollen. Ich danke dem Universum, dass Sprachen verstehen immer einfacher ist, als sie zu sprechen. Ich verstehe, dass der Weg rechts durch die Vororte führt, über hässlichen Asphalt und ohne Schatten. Der Weg links sei zwar etwas länger, aber meist ohne die pralle Sonne und mit schöneren Fotomotiven. Wir nehmen den linken Weg. Selbstverständlich.
Vorbei an bunten Gärten neben dem rauschenden Wasser. Vorbei an riesigen Tomatenpflanzen, mit Früchten, die größer sind als mein Kopf und mich kurz überlegen lassen, ihretwegen in die Gärten einzubrechen. Ich möchte aber ungern einen Gefängnisausbruch in mein Camino-Erlebnis integrieren.
Der Weg ist schön. Sehr schön. Hanne und ich legen ein ordentliches Tempo vor und lassen Inga und Alex vorerst zurück. Die beiden kennen Pamplona schon und möchten sowieso auf einem anderen Weg in die Stadt laufen. Ich kenne Pamplona durch unsere Reise im Jahr 2010 auch schon. Aber nicht zu Fuß. Das ist ein völlig anderes Ankommen. Daher folge ich brav und gehorsam Muschel und Pfeil. Irgendwann kommen Hanne und ich uns etwas veralbert vor. Der Weg folgt exakt dem Fluss. Folglich auch exakt den Biegungen des Flusses. An manchen Stellen sind wir nur wenige Meter entfernt von einem Punkt, an dem wir bereits hunderte Meter zuvor waren. Närrischer Camino. Nun ist es zu spät. Weiter geht’s. Der Weg ist zwar immer noch schön, aber er zieht sich eine halbe Ewigkeit durch unsere Füße und Gedanken. Er scheint kein Ende zu nehmen und Pamplona rückt auf Teufel komm raus einfach nicht näher.
Dem Camino sei Dank, stehe ich mit Hanne nach einer halben Ewigkeit am Ortseingangsschild Pamplonas. Warum jemand unter all die verschieden-sprachigen Willkommen das Wort Döner gesprayt hat, weiß wohl nicht mal der Heilige Jakobus persönlich. Und wenn er es weiß, kann er es mir ruhig mal erklären.
An der Puente la Magdalena, einer Brücke, die einen der Eintrittspunkte in die Altstadt markiert, treffen wir wieder auf Wein-Lucy und ihren frisch aufgerissenen Begleiter, wer auch immer er sein mag. Ein buen camino ist nicht zweckdienlich, da er vollständig in der Tiefe von Lucys dunklen Augen versunken ist. Sonst registriert er nichts.
Wir beobachten ein paar Minuten lang einige Jugendliche, die tollkühn von der Brücke in den Fluss springen. Ich überlege, ob ich in diesem Alter auch so verrückt war. Eine Antwort darauf habe ich schnell parat. War ich nicht. Ich war schlimmer.
Mit Hanne, Lucy, ihren Weinflaschen und dem verliebten Begleiter setzen wir den Weg entlang der alten Stadtmauer Pamplonas gemeinsam fort. Obligatorischer Fotostopp am Stadttor und hinein geht es in die erste Großstadt unseres Camino. Sehr schöne, enge Gassen bilden den ersten Eindruck der Stadt. Ruhig und gelassen schlendern wir hindurch. Es bleibt nicht so. Ein Gewimmel aus Pilgern und Touristen wird immer dichter, je mehr wir uns dem alten Zentrum Pamplonas nähern. Auf diesem Weg kamen wir damals nicht in die Stadt, es muss an einer anderen Stelle gewesen sein. Unterhalb der Kathedrale, die mir dann doch endlich wieder bekannt vorkommt, finden Hanne und ich einen Brunnen, an dem wir unsere Rucksäcke abstellen können und Wasser auffüllen. Äußerst nötig und erfrischend. Abwechselnd gehen wir zum wuchtigen Gotteshaus Pamplonas und holen uns einen wohlverdienten Stempel ab, der zur Selbstbedienung bereitliegt. Von innen kenne ich die Kathedrale schon, also kehre ich zurück zu Hanne und dem Brunnen.
Da Alex und Inga nicht auftauchen, werfe ich zum ersten Mal seit Saint-Jean tagsüber den Empfang meines Handys an. Verflixt. Alex hat mir schon geschrieben und seinen Standort geschickt. Nicht weit weg. Weiterlaufen müssen wir ja sowieso. Verrückterweise. Seit dem Morgen schwärmte ich von einer Tapas-Bar, in der ich 2010 mit Opa und Onkel war. Da muss ich wieder hin. Unbedingt. Die anderen schleif ich einfach mit. Also schmeißen Hanne und ich die Rucksäcke auf den Rücken und stürzen uns weiter in die Hektik der Stadt.
Es wird immer schlimmer. Furchtbar. Es ist Wochenende und die Straßen quillen über vor lauter Menschen. Die Zivilisation haut mir nach den letzten Tagen voll in die Fresse. Mit ordentlich Schmackes. Total ungewohnt ist der ganze Trubel. Nachdem wir Alex und Inga in der Nähe der Stierkampfarena gefunden haben, biegen wir in die Restaurantmeile der Stadt ab. Beziehungsweise in die Stierstraße. Ich nenne sie jetzt einfach mal so. Hier werden beim alljährlichen Fest San Fermin die Stiere durchgetrieben, vor denen die Männer der Stadt zu flüchten versuchen. Mal mehr, mal weniger erfolgreich. Haben wir bestimmt alle schon mal im Fernsehen gesehen. Davon kann man halten, was man will. Tradition ist Tradition.
Da ist sie endlich. Die Bar, in der ich damals war. Schon bei ihrem Anblick läuft mir das Wasser in den Beinen zusammen. Tapas, tapas, tapas. Wie ein Wilder pfeffere ich meinen Rucksack an die Hauswand und stürze mich an die Bar. Auf der Theke aufgereiht stehen die zweitbesten tapas, die ich bisher aus Spanien kenne. Genau wie vor neun Jahren. Ich hoffe, sie wurden mal aufgefrischt.
Wo es die erstbesten tapas gibt? Verrate ich nicht. Was da genau da alles dran und drin ist? Keine Ahnung. Wusste ich damals nicht und weiß ich heute nicht. Spielt auch keine Rolle. Diese tapas sind ein Gedicht. Mehr als das. Ein Sonett. Von Shakespeare. Von Goethe. Das haben beide gemeinsam geschrieben. Während sie sturzbetrunken waren. Einfach nur göttlich. Jeder Bissen ist ein gelungener Reim. Dazu gibt es ein eiskaltes Bier und die Mittagspause ist perfekt gelungen.
Uns alle stört allerdings der Trubel. Es wird immer schlimmer. Haufenweise Touristen. Schreckliches Volk. Machen keinen Platz und haben keine Rücksicht auf rucksackbeladene Pilger. Frechheit. Damals, als ich hier war, war ich auch einer von ihnen. Von diesen merkwürdigen Touris. Aber ich hatte großen Respekt vor den Pilgern, die sich, durchnässt von Schweiß und beladen mit allem Hausrat, den sie für Wochen brauchen, ihren Weg durch die überfüllten Straßen zu bahnen versuchten. Nun bin ich einer davon.
In der heißen Sonne Pamplonas gehen wir im Gänsemarsch weiter. Anders geht es nicht. Als eine weitere Touristengruppe aus einem Gebäude am Weg strömt und keiner von ihnen nach links oder rechts schaut, brülle ich im Affekt unglaublich laut und wahrscheinlich für jeden der Gruppe unverständlich: „MACHT EURE GLOTZEN AUF UND GUCKT VOR DIE FÜßE.“ Aufgrund meiner Lautstärke ist für einen kleinen Moment genug Verwirrung vorhanden, damit wir schnell aus dieser Nummer flüchten können und aus der überfüllten Innenstadt rauskommen. Für uns steht fest: In Pamplona bleiben wir nicht. Wir möchten eine ruhigere Übernachtung. Aber weit gehen wir heute auch nicht mehr. Schier endlos ziehen sich die Randbezirke Pamplonas sehr asphaltbetont dahin. So wirklich hässlich ist es nicht, aber nicht besonders fußfreundlich. Dank Alex‘ App wissen wir, wir sind bald da, wo wir hinwollen. Wo wir ungefähr geplant haben, hinzuwollen. Echt nützlich, diese Technik.
Neben einer äußerst stark frequentierten Bundesstraße hinaus aus Pamplona und einem zünftigen Anstieg, der uns nochmal alles abverlangt, geht es hinauf nach Cizur Menor. Winziges Dörflein auf einer Anhöhe, von der aus man fast noch bis Pamplona spucken kann. Die kirchliche Herberge des Malteserordens lassen wir links liegen und gehen ein paar Meter weiter zur privaten Unterkunft Maribel Roncal. Ruckifatzi ist die Sache auch schon erledigt. Vier Betten? Na klar. Prima. Danke. Pilgern kann manchmal sehr einfach sein. Fette Betonung auf manchmal.
Zusammen mit einem kanadischen Paar sind wir in einem Fünf-Doppelstockbett-Zimmer untergebracht. Nach dem üblichen Ablauf von Wäsche waschen, duschen und Hin-und-Her-packen für den nächsten Tag, setzen wir uns in den herrlichen Innenhof unter Palmen und gönnen uns ein eiskaltes Bier aus dem Verkaufsautomaten des Hauses. Herrlich. Eine lustige, ältere Señora kommt vorbei. Wir vermuten, sie ist die Herbergsomi der Unterkunft. Mit einem Schlauch spritzt sie kaltes Wasser auf die Pflanzen und das heiße Pflaster und ruft dabei unentwegt: „To make it all fresh.“ Nebenher grinst sie über alle Ohren, die sie hat. Es müssen viele sein. Herzergreifend. Alex und ich haben heute etwas Probleme mit unseren Sehnen auf dem Spann des rechten Fußes. Als die Dame mit dem Schlauch kommt, halten wir instinktiv unsere Füße in ihre Richtung und werden ordentlich kalt abgespritzt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich habe nie jemanden erlebt, der so herzlich lacht und sich so darüber freut, zwei Deutschen die Füße kalt abzuspritzen. Gracias Señora.
Nach der Erfrischung schauen wir ins Dorf Cizur Menor hinein. Kurz unterhalb unserer Herberge besorgen wir uns Voltaren für unsere geschundenen Füße. So zumindest der Plan. Gibt es aber nicht. Also besorgen wir uns Thrombactiv. Lustiges Wort und duftet nach Menthol. Kaufen wir. Hauptsache was für die Füße. Neben der Apotheke steht eine Bühne auf dem Dorfplatz. Auf Nachfrage erklärt uns die Apothekerin, dass über das ganze Wochenende ein Dorffest stattfindet. Sie verlässt sogar ihren Laden und zeigt uns, wo. Jeder könnte nun ihre Apotheke ausrauben, während sie uns vom Fest und vom Ort vorschwärmt. Das ist Gastfreundschaft, die unbezahlbar ist. Danach kaufen wir im Supermarkt wieder einige spanische Köstlichkeiten für wenig Geld und machen uns auf den Rückweg.
Im Innenhof erwartet uns wieder die Herbergsomi. Mit dem breitesten Grinsen, das man sich überhaupt vorstellen kann, gibt sie uns Tipps für den Camino und die morgige Route. Sie sei selbst noch nie den Camino gelaufen, ist aber auf einem Segelschiff mit 50 anderen Menschen von der französischen Küste bei Bordeaux bis nach Galizien gesegelt. Als einzige Spanierin. Damals noch ohne Fremdsprachenkenntnisse. Den höchsten Respekt für diese Frau.
Wir schlemmen unsere Leckereien und begrüßen freudig ein französisches Ehepaar. Wir kennen ihre Namen nicht, aber auch sie waren seit dem ersten Abend im Orisson immer wieder in unserer Nähe. Durch Zufall auch immer in unseren Herbergen. Heute sind sie spät dran, aber winken beide lachend ab. Sie haben ausnahmsweise reserviert.
Unterdessen setzt unten auf dem Dorfplatz die Musik vom Fest ein. Mitsingend und -tanzend essen, trinken und verquatschen wir den Abend. Die Omi erklärt uns den Programmverlauf des heute beginnenden Festes. Zu späterer Stunde soll der Toro del fuego, der Feuerstier, stattfinden. Ein Mann aus dem Dorf wird in ein Drahtgestell gesteckt, das dem Äußeren eines Stiers nachempfunden ist. Dann läuft er damit durch Cizur Menor und aus dem Kostüm heraus schießen Knaller und Feuerwerkskörper. Okaaaay... Klingt lustig. Aber auch irgendwie irre.
Rauszugehen lohnt sich für uns leider nicht mehr. Wenn das Fest richtig in Schwung kommt, müssten wir wieder zurück, da die Herberge um 22:00 Uhr die Pforten schließt. Danach kommt man zwar raus, aber nicht mehr rein. Ob man ein Bett darin hat oder nicht, vollkommen egal. Klingt extrem, ist aber in so gut wie allen Herbergen am Camino ein völlig normales Prozedere. Macht nichts. Im Innenhof verquatschen wir die frühe Schlafenszeit mal wieder und landen müde, aber froh in unseren Betten. Ich glaube, es ist sogar noch vor Mitternacht. Ausnahmsweise.
Wenn der Kanadier so weitermacht, wird die Nacht sehr geräuschintensiv.
Buenas noches.
20 Kilometer stecken heute in meinen Knochen und die ungewohnt heftige Zivilisation hat mir kräftig in den Arsch getreten.
31.08.2019 07:00 Uhr
Der Kanadier muss Hunger haben. Großen Hunger. Mächtig großen Hunger. Vermutlich vermisst er seinen Ahornsirup. Er hat in dieser Nacht auf jeden Fall sehr viele Bäume dafür gefällt. Mit seinem Mund. Meine Fresse, was für eine Lautstärke. Karin war dagegen ein reinster Ohrenschmaus.
Hanne und ich brechen langsam auf, während Inga und Alex noch morgendlich vor sich hin muffeln. Wichtig ist es, auch morgens genau aufzupassen, dass man nichts vergisst. Denn selbst zu einer solch frühen Stunde gilt: Ist man einmal aus der Herberge raus, kommt man nicht wieder rein.
Schnell sind Hanne und ich hinaus aus dem kleinen Cizur Menor. Die langsam aufgehende Sonne malt Himmel und Wolken in den schönsten Farben an. Vor uns kommt der Alto de Perdon immer näher. Der Berg der Vergebung. Wie ein mächtiger Riese erhebt sich dieser gewaltige Höhenzug. Ähnlich einem Tafelberg. Da muss ich hoch. In einigen Kilometern. Vorerst geht es auf dem Camino durch abgeerntete Getreide- und ausgetrocknete Sonnenblumenfelder. Ein sehr skurriles Bild. Mitten in einem der Felder liegt ein schlafender Pilger. Dick eingelullt in Schlafsack und Decken, den Rucksack als Kopfkissen. Nicht schlecht. Ein noch skurrileres Bild.
Der kommende Berg zeigt seine ersten Anzeichen, es geht stetig bergauf. Mal sanft, mal steil und mit viel Geröll auf dem Weg. Der Alto de Perdon selbst scheint allerdings keinen Meter näher gerückt zu sein. Wird schon. Meine Füße schmerzen etwas. Der Sehne geht es wieder gut, dank Thrombactiv, aber es fühlt sich an, als entwickelt sich da etwas an meinen beiden Fersen. Es kann nichts Gutes sein.