- -
- 100%
- +
Das erste Mal seit dem Beginn meines Camino habe ich Lust auf Musik. Also Ohrstöpsel rein. Eine Playlist ist seit dem Aufbruch vorbereitet, damit ich jederzeit ohne Empfang und Netz darauf Zugriff habe. Diese Liste ist jenseits von Gut und Böse. Jede erdenkliche Musikrichtung meines manchmal merkwürdigen und bunt durcheinandergewürfelten Musikgeschmacks ist mit mindestens einem Titel vertreten. Es läuft sich gleich etwas leichter und rhythmischer.
Feststellung: In dieser Kulisse, mit dem Berg vor Augen, während die Morgensonne alles rundherum rötlich einfärbt, „Space Oddity“ von David Bowie zu hören, ist einfach nur strange. Närrisch. Und gleichzeitig vollkommen passend. Sieht ja fast aus wie auf dem Mars hier. Hergehört Welt: ICH bin Major Tom. Kraul mir meine verhornten Füße.
Da der Schalter für meinen Berg-Fetisch irgendwo auf den ersten Kilometern bereits umgelegt wurde, bin ich der Erste unseres Trüppchens in Zariquiegui. Was für ein Name. Es schlicht Zaziki zu nennen, wäre wohl zu einfach gewesen. Es ist der letzte Ort, bevor der endgültige, letzte Anstieg zum Alto de Perdon beginnt. Dementsprechend herrscht im einzigen kleinen Café neben der Kirche ein ziemlicher Kaffeepilger-Andrang. Aber einen Tisch ergattere ich gerade noch. Bekannte Gesichter rundherum, man kennt sich so langsam untereinander zumindest vom Sehen. Während meines zweiten Kaffees kommen auch Hanne, Alex und Inga an und wir dehnen unsere Frühstückspause mal wieder äußerst großzügig aus.
Gesättigt, aber etwas widerwillig, kommt der Rucksack auf den Rücken und los geht der relativ harte, lange Anstieg hinauf auf den Berg. Ich haue mir nochmal zünftig David Bowie auf meine Ohren, zünde meinen Turbo und flitze durch dorniges Gestrüpp auf einem schmalen Geröllweg nach oben. Vorbei an Pilgerkunst, aus Steinen gelegten Symbolen oder einfachen kleinen Türmen aus Kieseln.
Auch wenn die Fersen immer mehr schmerzen, das Laufen bergauf macht Spaß. Kurz vor dem Gipfel höre ich I shall not walk alone, ein herrliches Lied von den Five Blind Boys of Alabama. An diesem Ort mit diesem Lied…Unvermittelt kommen mir Tränen in die Augen. Einfach so. Was für ein passender Text. All meine Lieben, jeder der mir wichtig ist, ist in diesem Moment und auch in allen anderen Momenten am Camino bei mir. Auf jedem einzelnen Kilometer. Auch du. Das weißt du. I shall not walk alone.
So ist es.
Etwas ausgezehrt und ausgeweint, aber sehr glücklich, komme ich endlich oben an. Es ist mehr als lohnend. Ein unbeschreiblich erhebendes Gefühl. Man kann kilometerweit in alle Richtungen schauen, die Sicht ist besser, als man es sich zu erträumen vermag. Es haut mich richtig aus den Wandersocken. Hinter mir in der Ebene verschwindet langsam Pamplona vor der immer blasser werdenden Kulisse der gerade noch zu erahnenden Pyrenäen. Ich sehe, wo ich herkam. Viel wichtiger: Ich sehe, wo ich noch hinwill. Auf der anderen Seite des Alto liegt die nächste Ebene und ich müsste wirklich lange überlegen, ob ich jemals eine Aussicht hatte, die so unglaublich weit reicht. Die ganze Herrlichkeit Navarras scheint vor mir zu liegen. Weite Felder und strahlend blauer Himmel. Vielleicht hätte ich dem finnischen Ed Sheeran seine Monsterkamera stehlen sollen.
Hier oben auf dem Alto de Perdon steht die berühmte Statuengruppe der Pilger, die gegen Wind und Wetter nach Santiago ziehen. Metallene Profile von Frauen, Männern, Kindern, Pferden und Hunden, die allen Widrigkeiten zum Trotz einfach immer weiter gehen. Ultreïa. Immer vorwärts. Einfach vorwärts.
Mit den drei anderen ankommenden Beatles mache ich Bilder, fülle an einem Stand meinen Flüssigkeitshaushalt auf und freue mich einfach nur, dass ich bin, wo ich eben gerade bin. Jeder von uns nimmt sich hier seine Momente, bevor wir gemeinsam den Abstieg in die weite Ebene riskieren, in der man in der Ferne bereits das für heute grob angedachte Ziel Puente la Reina sieht. Aber erstmal: Wieder ein beknackter Abstieg. Nicht so schlimm wie der Weg hinab nach Zubiri, aber auch kacke. Anders kacke. Steil, staubtrocken, über riesige Steine auf dem Weg, vom Regen rundgelutscht. Auch hier gilt wieder die Devise: Schaut man einmal nicht auf den Boden, hat man sich die Füße schon komplett ruiniert. All das obendrein in der prallen Sonne und mit schmerzenden Fersen. Was macht man in solch einer Situation?
Option Eins: Man erträgt es geduldig und leidet still.
Option Zwei: Man setzt sich auf der Stelle auf den Boden und beginnt ein klägliches Wimmern.
Option Drei: Man bittet den bärtigen Riesen Alex darum, getragen zu werden.
Ich entscheide mich spontan für Option Vier: Ich stimme das Rennsteig-Lied an.
Die Hymne des Thüringer Waldes und somit meiner Heimat. Sehr laut, aber mit zittriger Stimme, da ich gleichzeitig darauf achten muss, mir auf dem Geröll nicht sämtliche Knochen zu brechen. Astrein, es funktioniert. Läuft sich gleich viel leichter. Auch die textunsicheren Mitstreiter summen und klatschen mit. Letzteres lasse ich lieber sein, ich brauche die Hände schließlich zum Balancieren. Ich würde mich gerne als Außenstehender beobachten, wie ich singend und schwingend mit meinem bunten Rucksack auf dem Camino in die Ebene tänzele. Endlich auf etwas ebenerem Grund angekommen, schmettere ich direkt das Zilleborn-Lied hinterher, die Dorfhymne meines geliebten Dörfchens Steinbach. Wie üblich in Steinbacher Platt, was hier keiner versteht, aber das ist vollkommen egal. Für einen Moment sind Nord-, Mittel- und Süddeutsche alle Steinbacher. Ich glaube auch ein leises, gehauchtes Steimich von dem namenlosen Spanier zu hören, der ein paar Meter vor uns läuft.
Gegen Mittag und einigen gnädig ebenen Kilometern Camino erreichen wir das kleine Städtchen Uterga. Die steigende Mittagshitze schreit nach einer langen Pause. In einer Bar Utergas machen wir Station, trinken Bier und Eistee und holen uns einen Stempel ab. Nach einem zweiten Bier stellt Alex fest: Harald Juhnke hatte Recht. Keine Termine und leicht einen sitzen. Stimmt. So kann man es aushalten. Harald ist mit uns. Ist ja auch irgendwie Urlaub. Alex durchforstet seine App nach guten Herbergen in Puente la Reina, denn für uns steht nun definitiv fest, dass wir heute nicht weiter gehen. Ich finde es toll, dass meine Mitpilger das auch möchten, denn diese Stadt ist ein weiterer legendärer Ort des Camino. Wir finden eine ansprechende Unterkunft am Ausgang Puente la Reinas, die sogar einen Pool hat und neben einfachen Betten auch Bungalows für vier Personen anbietet. Für 15 Euro pro Person. Ja Mensch, das ist doch wie für uns gemacht. Inga entscheidet, sofort dort anzurufen und ausnahmsweise mal etwas zu reservieren. Den Bungalow müssen wir haben. Gesagt, getan, erledigt.
Mit einem guten Gefühl geht es weiter. Ich habe für mich schon entschieden, heute noch einen Umweg zu gehen. Ich möchte auf jeden Fall zur kleinen Kirche Santa Maria de Eunate. Eigentlich stand das schon fest, bevor ich überhaupt aufbrach. Sie liegt nicht direkt am Haupt-Camino, aber dieses Fleckchen ist etwas ganz Besonderes. Selbst die Omi aus der Herberge in Cizur Menor riet gestern dazu. Meine Gefährten wollen spontan entscheiden, ob sie mitkommen. Nach einem weiteren, sehr schönen Stück Weg, mit toller Aussicht auf das umliegende Tal, stehen wir im Dorf Muruzábal schon an der Kreuzung, wo der Weg zur Kirche Eunate abzweigt. Kurz davor kommt uns noch ein spanischer Cowboy auf seinem Pferd entgegen, reitet zum Ausweichen extra ab aufs Feld und grüßt mit einem Howdy an uns vorbei. Entschuldigung dafür, dass ich nicht weiß, wie man Howdy auf Spanisch schreibt.
Alex und Inga wollen vorausgehen nach Puente la Reina. Insgesamt fast fünf Kilometer Umweg wollen sie in der blanken Mittagssonne nicht laufen. Verständlich. Hanne will mir folgen und so biegen wir ab und sind augenblicklich wieder raus aus Muruzábal und auf einem Feldweg. Es ist wirklich heiß. Richtig, richtig heiß. In der Ferne sieht man bereits den Umriss der kleinen, achteckigen Kirche Santa Maria de Eunate durch das Hitzeflimmern der abgeernteten Weizenfelder. Fast wie eine Fata Morgana. Ich hoffe, sie ist echt. Ich sage zu Hanne, dass ich mir Musik auf die Ohren haue und etwas vormarschiere. In dieser Hitze muss man einfach nur einen Fuß vor den anderen setzen. Nicht denken. Nur Laufen. Eventuell Musik hören. Zu den Klängen von Bob Dylan und da außer mir niemand zu sehen ist, marschiere ich laut „Mr. Tambourine Man“-singend durch die flirrenden Weizenfelder. Das hat schon fast etwas Psychedelisches. Nach etwas mehr als zwei Kilometern und der Überquerung einer Bundesstraße stehe ich vor ihr. Vor der einzigartigen Kirche Santa Maria de Eunate.
Ich erschrecke kurz. Das Eingangstor ist mit einer Eisenkette verschlossen. Hier bin ich auf der Reise vor neun Jahren einfach durchgegangen. Eine innere Enttäuschung macht sich breit. Plötzlich taucht neben mir eine aufgeregte Spanierin auf. Sie erklärt mir auf Spanisch und dann auf Englisch, dass das jetzt Eintritt kostet, dass das eine Frechheit ist und Bla und Bla und Bla. Zwei Euro sind ihr zu viel, sie verschwindet mit wütendem Gesicht im Auto ihres Begleiters und rauscht davon. Jedem das Seine. Mich beruhigt das allerdings. Egal wie, aber man kann wenigstens hinein.
Hanne und ich gehen zum Tickethäuschen, zahlen den Pilgerpreis von einem lächerlichen Euro und bekommen den Eintritt sowie einen wunderschönen Stempel in unseren Pilgerausweis. Tja. Auch die Instandsetzung und -haltung dieser wichtigen, historischen Gebäude will eben zumindest minimal bezahlt sein. Schade, wenn man das nicht akzeptiert.
Wir setzen uns in den schattigen Garten neben der Kirche und trinken Wasser. Sehr wichtig. Abwechselnd schlendern wir danach eine Runde um das Gebäude herum und schauen ins Innere. Diesen Ort muss man in Ruhe auf sich wirken lassen. Alles hier ist ungewöhnlich. Die achteckige Form des Bauwerks, der Säulengang um es herum, das Alter, die Reliefs, die Funde der Ausgrabungen. Unbestimmbar. Historiker zermartern sich bis heute ihre akademisch verstaubten Hirnwindungen über den Bau. Es ist ein wirres Gemisch aus Stilrichtungen und geschichtlichen Epochen. Wer weiß, wer im Lauf der Jahrhunderte hier alles am Werkeln war. Man sollte es einfach einmal gesehen haben.
Mit dem guten Gefühl, diesen Ort erlebt zu haben, begeben wir uns wieder auf den Weg und in die Hitze. Muschel und Pfeil führen uns sicher nach Obanos. Hier trifft der Nebenweg der Eunate wieder auf die Hauptroute. Ich bin froh darüber. So ergiebig der Umweg war, so erschöpfend war er auch. Auf den Straßen von Obanos herrscht ein reges Treiben. Auch hier scheint mal wieder ein Dorffest stattzufinden. Weiß gekleidete Einheimische mit rotem Halstuch lassen nur diesen Schluss zu. In den Straßen aufgestellte Schutzzäune und ein unverkennbarer Geruch sagen mir, dass hier vor wenigen Minuten noch mindestens ein Stier durchgetrieben wurde. Oder ein sehr stark schwitzender, dicker, ungeduschter, haariger Mann. Vielleicht der, für den der finnische Ed Sheeran seine Freundin hat sitzen lassen.
Ich bin sehr froh, als Hanne und ich fast gleichzeitig endlich den Stadtrand von Puente la Reina erreichen. Für heute reicht es langsam. Sowohl für die Füße, als auch für die Schweißdrüsen. Wir sehen eine erfrischende Dusche schon vor Augen und stürzen uns in die Gassen der Stadt. Aber weit gefehlt. So einfach hier durchlaufen is‘ nicht. In Puente la Reina ist ebenfalls ein großes Fest. Ein Motorradtreffen. Das ganze Stadtvolk drängelt sich auf der engen Hauptstraße, die gleichzeitig der Jakobsweg ist, und begrüßt die einfahrenden Biker. Ebenfalls mitten auf dem Weg steht eine große Gruppe Trommler mit mehreren Schlagzeugen und gibt ihr dröhnendes Können zum Besten. Prima. Normalerweise finde ich sowas toll. Sehr toll. Aber nicht jetzt. Wir wollen hier einfach nur durch, raus aus der Hitze und zu unserer Unterkunft. Also wie in Pamplona, irgendwie Aufmerksamkeit erhaschen und Verwirrung stiften. Ich reiße die Arme auseinander und nach oben, rufe mehrfach sehr laut und deutlich „Peregrino soy“ und verschaffe Hanne und mir so den benötigten Platz, um uns durch die Massen zu schlängeln. Wie stressig dieses Pilgern sein kann.
Geschafft. Kurz danach erreichen wir die uralte Bogenbrücke, die dem Ort seinen Namen gab. Da im Hochmittelalter Flussüberquerungen immer gefährlich waren, stiftete die damalige spanische Königin Dona Mayor eine Brücke, um den Pilgern den Camino zu erleichtern. Puente la Reina. Brücke der Königin. Hier vereinen sich endgültig die letzten beiden Hauptwege aller aus Europa führenden Jakobswege. Der aragonesische und der navarresische Zweig. Ab hier gibt es traditionell nur noch den einen, ursprünglichen Camino de Santiago. Fast so alt wie unsere moderne Geschichtsschreibung. Mein innerliches Gefühl und Interesse für Geschichte und Tradition fährt Achterbahn.
Hanne und ich überqueren die Brücke und finden am Ende ein Schild, das zu unserer Herberge weist. Durch Alex‘ App wissen wir ja schon, sie muss hier irgendwo am Ortsende sein. Der Schock folgt auf verschwitztem Fuße: Nicht nur am Ortsende, sondern außerhalb des eigentlichen Städtchens, abseits des Camino und auch noch auf einem Hügel liegt unser Ziel. Heute ist wohl alles kräftezehrend. Ein letzter steiler Anstieg fordert jede noch so kleine, letzte Kraftreserve des Körpers, bevor endlich die kleinen Bungalows und das Herbergsgebäude der Unterkunft Santiago Apostol vor uns auftauchen. Hanne und ich sind unfassbar froh, das heutige Ziel erreicht zu haben.
Alex und Inga sitzen im Schatten unter einem Holzdach und winken uns zu sich. Der Verzweiflung fast anheimgefallen und völlig abgekämpft, lassen wir uns nieder und beglückwünschen uns zu dieser anstrengenden Etappe. Alex checkt uns ein, Inga besorgt kalte Getränke und wir kommen langsam zur Ruhe. Das kalte Bier ist so schnell im Schlund verschwunden, dass ich mich frage, ob da nicht ein wenig Verdunstung seitens der Sonne im Spiel war. Ein neues Getränk lässt nicht lange auf sich warten. Inga spricht mit dem Herbergsbetreiber über die Möglichkeiten des Abendessens und fragt außerdem, ob es hier oder in der Nähe Zigaretten zu erstehen gibt. Denn es steht fest: Heute bewegen wir uns nicht mehr hier weg. Die Füße haben genug. Kurzerhand verkauft uns der Wirt die angebrochene Zigarettenschachtel seines Sohnes. Argument: „Der soll sowieso weniger rauchen.“ Schön hier.
Dann sichten wir das Areal. Das Hauptgebäude erscheint mir wie eine alte Jugendherberge, die nur geringfügig umgestaltet wurde. Ein riesiger Saal mit Bar, ein Billardtisch, ein paar Schlafsäle, fertig. Im Außenbereich daneben ist der Pool. Schräg gegenüber sieht man ein separat angelegtes Gelände, auf dem sich die Bungalows befinden. Alex und Inga zeigen uns das Hüttchen für die heutige Nacht. Wow. Ein Bad nur für uns, ein Aufenthaltsraum mit kleiner Küche, zwei Zimmer mit je zwei Betten und eine kleine, schattige Terrasse davor. Geniale Entscheidung hier zu reservieren. Danke Inga. Ganz schnell Wäsche waschen, windgeschützt oder mit Klammern aufhängen und auf zum gemütlichen Teil. Während Inga auf unserer kleinen Terrasse ihr Reisetagebuch schreibt, finden sich Hanne, Alex und ich im Pool ein. Ist das herrlich. Ein absoluter Hochgenuss. Die Abkühlung der Muskeln und des gesamten Körpers tut unbeschreiblich gut. Von oben knallt uns zwar die blanke Sonne auf den Latz, aber das interessiert uns jetzt nicht. Der Camino verändert dich sowieso. Und sei es nur durch einen gepflegten Sonnenstich.
Wir duseln vor uns hin und können unser bisheriges Glück mit den Herbergen kaum fassen. Die gestrige war ja schon gut. Die heutige ist auch ganz gut. Nur halt mit Pool und einer Hütte nur für uns. Gestern hatten wir quasi das i. Heute das Tüpfelchen obendrauf. Aber ohne das ι. Man kann nicht alles haben. Wollen wir auch nicht. Wir sind schließlich keine Luxuspilger.
Während wir im Pool entspannen, stiefelt am Zaun des Geländes eine bekannte Gestalt in militärischem Stechschritt schnurstracks auf den Eingang des Gebäudes zu. Ich glaub es nicht, das ist David. Gleich danach tauchen auch Heidi und Kelly auf. Unsere Lieblings-Amis aus Florida, die wir seit dem ersten Abend im Orisson nicht mehr gesehen haben. Sie checken auch hier ein. Welch eine tolle Überraschung.
Wir lassen uns noch ein wenig im Pool treiben und finden uns schon bald schattig platziert mit David zum Bierchen wieder. Heidi und Kelly sind kaputt und liegen den ganzen Nachmittag auf der faulen Haut. David redet noch immer sehr viel. Sehr, sehr viel. Keine Veränderung bisher. Wir finden einen Weg, den Heidi angeblich auch praktiziert, um David klarzumachen, dass er gefälligst mal seinen Mund halten soll. Er gibt mir zu verstehen, er wird auch nicht böse sein. Der einfache Code dafür lautet: „David, shut the fuck up.“ Es funktioniert. Manchmal kann es so einfach sein.
Später am Abend finden wir uns alle zusammen zum Pilgermenü in der Herberge wieder. Aus Mangel an Alternativen. Hauptsache, der Hunger wird gestillt. Am meisten freut mich immer, dass ich alles an Süßkram an Hanne weiterreichen kann und sie sich wie ein kleines Weißwürstchen darüber freut. David und Heidi sitzen mir gegenüber und sprechen mal wieder beide gleichzeitig mit mir. Kelly hat Schmerzen am ganzen Körper und hat bei jedem persönlichen Gespräch nach wie vor sofort Tränen in den Augen. Veränderungen am Camino brauchen eben ihre Zeit.
Nun sitze ich draußen und genieße ein wenig Ruhe, während neben mir die Sonne über den Hügeln langsam ihren wohlverdienten Feierabend einläutet. Ist gut so Sonja, hast heute dein Bestes gegeben. Und mehr noch. Auch der Rest gesellt sich allmählich nach draußen und gemeinsam lassen wir diesen anstrengenden Tag ausklingen.
Da ich heute wieder mein komplettes Feierabend-Outfit anhabe, steht Däne Diederik auf einmal wieder vor mir und fotografiert mich. Ich hatte ihn erst gar nicht bemerkt. Ich frage ihn: „Warum machst du das Foto von mir?“
Antwort: „Das Outfit an dir sieht so geil aus, das stelle ich als Profilbild auf meine Dating-Website und reiße damit Frauen auf.“ Okaaaaay…
Viel Erfolg.
Ich schrubbte an diesem Tag 24 Kilometer weg und bin nie allein. I shall not walk alone.
01.09.2019 07:05 Uhr
Blasen.
Nochmal bedrohlicher: BLASEN!
Nicht schön. Zwei riesige Blasen an jeweils einer Ferse. Unter der Hornhaut. Klasse Gefühl. Ich habe nicht die geringste Erfahrung mit sowas. Ich bin den Rennsteig hoch und runter gewandert. Aber eine Blase hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie. Jetzt weiß ich auch, was sich da gestern schon anbahnte. Kein Wunder, dass der Abstieg vom Alto so schmerzte. Dank der Erfahrung meiner Mitpilger kann ich meine Füße zumindest vorläufig einigermaßen verarzten. Aber heute Morgen tun mir nichtsdestotrotz die ersten Kilometer extrem weh. Jeder Schritt ist eine Herausforderung. Purer Wille hält mich am Laufen. Heute Abend muss ich sie unbedingt vollständig ausmerzen, diese beiden mit Flüssigkeit gefüllten Widerlinge.
Von unserer Herberge hinab geht es wieder zurück auf den eigentlichen Camino. Ganz Puente la Reina leuchtet mystisch im frühen Morgengrauen. Das ist der Vorteil an der Herberge auf dem Hügel. Diesen Blick hat man vom eigentlichen Weg aus nicht. Aufragende Kirchtürme und kleine Häuser vor den Bergen im Hintergrund, die vom violetten Himmel der Morgendämmerung überlagert werden. Wahnsinnsbild. Am Fuß des Hügels weist uns das nächste Muschelschild im Halbdunkel den Weg.
Beim Fotostopp an der gestern erwähnten Bogenbrücke kommt uns das schnarchende kanadische Holzfällerpärchen aus der vorgestrigen Herberge aus Puente la Reina heraus entgegen. Sie haben wohl direkt im Ort übernachtet. Es folgt ein lautes „Good morning Canada“ meinerseits und ein noch lauteres „Good to see you Sir“ andererseits. Zu höflich, diese kanadischen Schnarcher.
Die nächsten Meter sind mir bekannt. Hier liefen wir auf unserer Reise 2010 die erste der wenigen Etappen der Tour. Es geht auf einem bekiesten Weg entlang der Felder ebenerdig weiter. Ich treffe auf ein italienisches Pärchen, das gerade sein Lager im Feld abbaut, um weiterzuziehen. Wir reden kurz und mal wieder danke ich dem Universum für mein angeborenes Sprachgefühl. Sie laufen auch den kompletten Camino, aber schlafen immer draußen. Sie haben angeblich nicht einen einzigen Cent dabei. Respekt. Ich weiß nicht, ob ich das wagen würde.
Es folgt ein steiler Anstieg. Hier mussten wir uns vor neun Jahren gegenseitig stützen und helfen, da die Steigung mit Felsspalten und kleinen, ausgewaschenen Schluchten übersät war. Das wurde vor ein paar Jahren geändert. Der Weg ist immer noch steil, aber wenigstens ohne große Blessuren zu bewältigen. Danke an all die namenlosen Helfer des Camino. Sprintend schnaufe ich an drei jungen Damen vorbei, die mich anschauen, als wäre ich Speedy Gonzales. Ja Mädels, ich bin schnell. Arrrrriba!
Ich erreiche die erste Anhöhe und somit den Ortseingang von Mañeru. Ja, das kenn ich. An diesem Brunnen hier erfrischte ich mich damals ausgiebig und duschte mich regelrecht ab. Die Hitze ist aber in dem Moment dieser frühen Stunde noch erträglich. Und außerdem ist der Brunnen sowieso aus.
Im Dorf warte ich auf meine Bandmitglieder. Da heute Sonntag ist und außerdem gestern im ganzen Ort schon wieder eine Party stattgefunden zu haben scheint, hat keine einzige Bar zu dieser frühen Stunde schon offen. Verdammt. Wir alle hatten gehofft, einen schönen Kaffee zu bekommen, um die morgendliche Trägheit aus dem Frontallappen zu vertreiben. Dann müssen wir eben weiter. Vor zugesperrten Kneipen lungern noch die letzten Partyleichen der Nacht herum und überall auf den Straßen liegen Pappbecher, Girlanden, allerlei Unrat und wer weiß, was noch. Durch die Folgen der nächtlichen Party waten wir hinaus aus Mañeru. Aufgrund der sinnlosen Suche nach den letztendlich geschlossenen Bars hat sich eine stattliche Anzahl von Pilgern angestaut und gesammelt, die nun alle unterkoffeiniert am Friedhof Mañerus vorbei zielgerichtet auf die erste Dröhnung des Tages zumarschieren.
Durch herrliche Weinberge geht es weiter und auf einem kleinen Hügel sehe ich das nächste Dorf Cirauqui direkt vor mir liegen. Malerisch schmiegt es sich auf dem kleinen Hügel in die Landschaft. Mit der Hoffnung auf einen Kaffee und vielleicht auf Zigaretten stürmen wir kämpferisch in den Ort. Auch hier scheint eine Party stattgefunden zu haben. Die navarresischen Dörfer lassen es wohl mächtig krachen. Einzig ein kleiner Mini-Supermarkt hat geöffnet. Vollkommen überfüllt mit Pilgern, die nach dem ersten Koffeinkick des Tages suchen. Uns egal. Dann warten wir eben. Es gibt zwar keine Zigaretten, aber Wurst, Brot und einen Kaffeeautomaten. Läuft. Neben dem Markt befindet sich ein altes steinernes Tor, durch das der Camino ins Oberdorf führt. Unter dem Bogen sitzen etliche Jugendliche, lachen, sprechen unfassbar schnell und laut und die Vermutung tut sich auf: Die haben diese Nacht nicht geschlafen und sind noch ziemlich betrunken. Macht nichts. Die wollen nur spielen. Die tun nix. Sie sind vollkommen harmlos, bis auf einen jungen Kerl, der sich mit einem Sorry an der Schlange im Minimarkt an allen Wartenden vorbeischiebt und die Verkäuferin lallend fragt, ob sie ihm seine Käsepackung aufschneiden kann. Er selbst ist dazu nicht mehr in der Lage. Zudem riecht er extrem nach Erbrochenem. Nach Kotze. Nach Gekübeltem. Wer weiß, ob es sein eigenes ist.
Schmausend sitzen wir auf einer Bank und beobachten das Gewimmel. Unsere beiden Kanadier, unsere drei Lieblings-Floridianer und auch sonst sind fast nur bekannte Gesichter hier. Heute ist wahrlich sehr viel los auf dem Camino. Bis hierhin waren die ersten Kilometer wie auf einer Autobahn. Für Pilger. Ich bin auf spätere Etappen gespannt, die selbst offiziell in allen gängigen Reiseführern und -berichten als Pilger-Autobahn bezeichnet werden.
Langsam ziehen wir weiter, hinauf ins Oberdorf. Dort holen wir uns einen Stempel am Rathaus ab, füllen unser Wasser auf und wenige Meter weiter steigen wir schon wieder hinab vom Hügel Cirauquis. Meine drei Mitpilger machen kurz darauf eine Pause in einer kleinen Hippie-Oase. Ein Pärchen hat hier im Olivenhain einen schönen Rastplatz geschaffen. Ich bin so im Fluss, meine blasengeplagten Füβe schmerzen nicht so sehr, wenn ich einmal im Laufen bin, also winke ich den anderen kurz zu und spurte schon mal weiter. Ich muss. Die Schmerzen einfach weglaufen. Immer nach den Pausen tun die Blasen am meisten weh. Ich muss wirklich unbedingt nochmal was dagegen tun. Also los. Mit Musik auf dem Ohr.