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Man hörte Kampfgeräusche. Alle Bewohner suchten im Schutzraum Zuflucht. Oma ordnete an, dass wir uns im hintersten Eck des Kellers versteckten. Aus Decken und Kissen bettete Mama uns in ein bequemes Lager und deckte uns zu. Wir warteten. Wir horchten. Nach jeder größeren Explosion hörte man Geschrei. Jemand betete lautstark. Draußen dröhnte und donnerte es. Unbedingt wollte ich sehen, was passiert. Doch das Kampieren im nicht nur nach Kartoffeln stinkenden Keller zog sich. Nur Mama ging ab und an in unsere Wohnung, um etwas zum Essen und Trinken mitzubringen. Irgendwann sagte sie lächelnd, dass wir schon bald unseren Vater sehen würden. Es wurde ruhig. Plötzlich fielen Russen in unseren Schutzraum ein. Dreckig und stinkend schritten sie durch die liegenden Leute und rissen die Decken von ihnen. Sie suchten Mädchen. Anwesende Männer verhielten sich, als ob sie nicht anwesend wären: sie kauerten unter ihren Decken. Ältere Frauen verfluchten die Soldaten, während sie davon unbeeindruckt entsetzt schreiende Mädchen herauszogen und die Treppen hinaufführten. Nach einer Weile wurde es wieder entsetzlich still. Wir hatten große Angst. Niemand rührte sich.
Das Treffen mit meinem mir unbekannten Vater
Ein Soldat kam die Treppen herab. Mit seinem Blick entdeckte er Mama und nickte mit dem Kopf. Mama wies uns an aufzustehen. Sie führte Rysia und mich ins Nachbarhaus. Dort saß in einem großen Zimmer mit schönen Möbeln an einem ovalen Tisch ein Offizier in sauberer, ordentlicher Uniform und neben ihm stand ein Herr in dunklem Anzug. Mama schob uns vor: „Rysia und Dychu, das ist Euer Vater“, sagte sie, während sie auf den Herren im dunklen Anzug deutete. Kurz dauerte unsere Begrüßung. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass uns unser Vater umarmt hätte.
Wir zogen bei den Großeltern aus und wohnten von nun an in einem Jugendstil-Altbau in der Chopin-Str. Unsere Wohnung im Parterre war groß und schön möbliert. Doch Papa hatte so gut wie nie Zeit für uns. Nachdem er der erste Nachkriegs-Bürgermeister von Tuchola geworden war, besuchten ihn ständig irgendwelche Leute. Gewöhnlich saßen sie am großen Tisch im Arbeitszimmer. Wir durften sie nicht stören. Also liefen wir zu den Großeltern; dort war es interessanter und fröhlicher. Wir streunten durch von Deutschen verlassene Wohnungen. Trippans alte Wohnung (1.Stock) nahmen russische Frontsoldaten ein. Sie hatten Tuchola erobert. Verschmutzt und erschöpft lagen sie querbeet. Trotz eisiger Kälte waren die Balkontüren geöffnet. Ich war dabei, als Trippans alter Wecker zu klingeln begann und einen nebendran schlafenden Soldaten weckte. Erzürnt warf er ihn durch die Balkontür und schickte bei der Gelegenheit einige Schüsse hinterher. Doch nicht nur Wecker riefen Erregung hervor bei den Russen. Von fließendem Wasser aus der Wand waren sie ganz begeistert. Ihr Verhalten veranschaulichte die Primitivität und Habsucht der russischen Soldaten. Nichts war vor ihnen sicher: sie klauten alles. Passanten, die ihre ersten Fahrversuche auf Fahrrädern beobachteten, krümmten sich vor Lachen, während diejenigen, deren Fahräder sie sich einfach genommen haben, protestierten oder weinten.
Opa Kazimierz erzählte von einer unglaublichen Begebenheit:
„Ich traf auf einen guten Bekannten und fragte ihn nach der Uhrzeit. Er erwiderte, dass er seine Armbanduhr versteckt habe vor den Russen und hob vorsichtig aber stolz sein Hosenbein an. Im selben Augenblick kam ein russischer Soldat des Weges: er war gerade dabei, angestrengt die Kunst des Fahrens auf einem gestohlenen Fahrrad zu erlernen. Als er die Armbanduhr am Fußgelenk sah, sprang er herab und ließ das Fahrrad links liegen. Er kam zu meinem Bekannten gerannt und schrie: Daj mnie nożne czasy (Gib mir die Beinbanduhr)! U mienia ich mnogo, ale żaden nożny (Ich habe viele Uhren, aber keine fürs Fußgelenk)! Daraufhin zog er aus seinen Taschen die unterschiedlichsten Uhren, drückte sie meinem Bekannten in die Hände und verlangte im Austausch diese einzigartige Beinbanduhr. Mit dieser weiteren, diesmal auch noch so ungewöhnlichen Beute verschwand er zufrieden hinter der nächsten Ecke. Der glückliche neue Besitzer eines guten Dutzends Uhren stellte fest, dass er soeben das beste Geschäft seines Lebens gemacht habe!“
Nach einigen Tagen zogen die russischen Soldaten weiter, „nach Berlin“, sagten sie. Alle atmeten auf, doch nicht für lange, denn es kamen andere Russen: sie brachten Straflager und ein uns fremdes politisches System.
Meine Großeltern hatten alle Wertgegenstände versteckt vor den diebischen Soldaten, was sie dennoch nicht vor Schaden bewahrte. Eines Tages im März klopfte ein adrett gekleideter sowjetischer Offizier an die Wohnungstür meiner Großeltern. Er salutierte und teilte ihnen mit, dass sie ausziehen müssten, da die Armee ihre Wohnung beansprucht: „Nur für eine Woche, vielleicht zwei und ihr werdet zurückkehren können“, sagte er und als Oma damit begann eilig die kleinsten Dinge einzupacken, fügte er hinzu, „bitte lassen Sie alles hier, nichts wird verloren gehen.“
Gerade war mein Kumpel Edek mit seinen Eltern, den Herrschaften Rybicki, in ihr Haus in der Świecka-Str. 73 am Stadtrand von Tuchola zurückgekehrt - ein zweistöckiges Gebäude mit Dachgeschoss. Die Eigentümer zogen ins Obergeschoss, meinen Großeltern boten sie einen Raum im Erdgeschoss an, für die paar Tage.
Mit kräftiger, entschiedener Stimme hatte mich Papa zwischenzeitlich – wegen eines weiteren meiner Streiche - solange unter Hausarrest gestellt, bis ich das kleine Einmaleins auswendig konnte. „Er meint es ernst“, dachte ich mir. So setzte ich mich gehorsam auf meine vier Buchstaben und begann zu büffeln. Als ich fertig war, fragte mich Papa ab. Ich war frei, endlich konnte ich hinters Haus. Dort an den Bahngleisen stand das Wrack eines echten russischen Panzers. Edek wartete schon auf mich. Wir stiegen in dieses unglaubliche Gefährt und schauten uns neugierig um. „Hier ist Munition“, schrie ich begeistert.
Von nun an gingen Edek und ich nach Schulschluss schnurstracks zu unserem Wrack. Stundenlang spielten wir in ihm. Wir zogen Geschosse aus dem Panzer und schlugen sie gegen Steine, um die langen Schießpulversäckchen herauszuziehen. Sie erinnerten an trockene Nudeln. Doch was sollten wir damit? Sie brannten nur schlecht. Dass der Panzer zusammen mit uns nicht in die Luft geflogen ist, wundert mich bis heute.
Außer Panzerwracks standen auch verlassene, beschädigte Lastwagen umher. In alle Schlupfwinkel ihrer Fahrerkabinen krochen wir hinein. Eine tragbare Kurbelsirene, die ich dort fand, interessierte mich nur kurz, so dass ich sie zügig gegen ein Paar wunderbare Rollschuhe eintauschte. Von da an hallte das charakteristische Rattern durch ganz Tuchola. Ich war überall. Sich auf Rollschuhen fortzubewegen war unheimlich kompliziert, denn die Straßen bestanden hauptsächlich aus Kopfsteinpflastern und Gehwege waren weit davon entfernt, eben zu sein. Doch irgendwann begeisterten mich auch die Rollschuhe nicht mehr. Ein Junge hatte wunderbare Holzski mit einer Seilzugbindung. Davon träumte ich schon lange. Bis zum Winter wars noch lange, dennoch tauschte ich sofort meine Rollschuhe ein.
Derweilen war Mamas Bruder Edek Biskup nach Tuchola gekommen. Er wollte nicht zurück in die zerstörte Warszawa. Seine Arztpraxis eröffnete er im Erdgeschoss eines mehrstöckigen Hauses. Selbst zog er mit seiner wunderhübschen Frau Barbara Gilewska ins 1.OG. Tante Barbara (Basia) war Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin. In den Jahren 1931-1934 trat sie unter anderem an den Revue-Theatern „Qui Pro Quo“ und „Morskie Oko“ in Warszawa auf. Bekannt wurde sie durch ihre Rollen in den Filmen ”Pieśniarz Warszawy” (Der Sänger von Warszawa) und „Kochaj tylko mnie” (Liebe nur mich). An der Seite von Filmgrößen wie Jadwiga Smolarska oder Eugeniusz Bodo trat sie auf. Bodo wurde im Zweiten Weltkrieg aufgrund falscher Anschuldigungen als „Spion des Westens“ vom sowjetischen NKWD verhaftet, verhört und in ein russisches Straflager gebracht, wo er Hunger und Erschöpfung erlag.
Im Salon bei Tante und Onkel thronte der Flügel an dem Tante Basia Melodien komponierte. Ab und an begleitete sie Onkel Edek aus dem Gedächtnis und stichelte sie dann scherzhaft: „So spielt man!“
Tante Basia sang wunderschön. Ich hatte sie sehr gern, weshalb ich oft bei Tante und Onkel war. Manchmal blieb ich zu Mittag. Eines Tages kam Onkel Edek aus seiner Praxis direkt ins Esszimmer. In der Hand hielt er ein metallisches Geschirr, eine sog. Nierenschale. Von organisatorischen Fragen vereinnahmt setzte er sich an den Tisch und stellte dieses Geschirr neben seinen Teller. Ich warf einen Blick drauf und sah, dass zwei menschliche Finger drin lagen. Der Onkel hingegen achtete nicht weiter drauf. Er aß sein Mittagessen und den Dessert, stand auf, nahm die Nierenschale mit samt ihrem Inhalt und verschwand wieder. Meine Großeltern kehrten nicht mehr zurück in ihre Wohnung im dritten Stock. Die sowjetische Armee hatte die Wohnung zwar verlassen, doch als meine Großeltern sie betraten sahen sie lediglich Spuren der Gemälde und Möbel an den verschmutzten Wänden. Omas geliebte, schöne Möbel, das Tafelservice, die Bettwäsche, einfach alles wurde in den Osten gebracht; irgendein Offizier wahrscheinlich hat sich mit unseren Einrichtungsgegenständen sein zu Hause verschönert.
Tage und Wochen vergingen während das Leben dabei war, seine verloren gegangenen Gleise wiederzufinden. Etwas jedoch hatte sich zu Hause verändert. Unbeschwert konnte ich nun in all unseren Zimmern umhertoben. Papa war nicht da, Gäste kamen keine mehr zu Besuch. Mama war ganz anders und weinte häufig. Was war passiert?
Papa war verhaftet worden. Er hatte das Bürgermeisteramt verloren, weil er sich mit den Russen nicht einigen konnte. Die anfängliche „Freundschaft“ offenbarte ihr wahres Gesicht. Es fielen Dinge vor, für die mein Vater kein Verständnis fand – nicht zuletzt trat er auch gegen das Unrecht der Wohnungsausräumung bei seinen Schwiegereltern ein.
Mama und ich wollten Papa im Gefängnis (gegenwärtig das Gebäude der Staatsanwaltschaft) besuchen. Der Wachmann öffnete uns das große Eingangstor, ließ uns aber nicht unseren Besuchstermin wahrnehmen. Wir gingen zu den Großeltern, wo wir alle auf dem Boden niederknieten um zu beten: „Erbarme Dich unser“, wiederholten wir immer wieder – die Knie schmerzten schon lange. In Tuchola sah ich meinen Vater nie wieder.
Ich zog zu Tante Basia und Onkel Edek - traurig war ich deshalb aber nicht. Aus Wrocław war zu ihnen Tantes Neffe gekommen. Ich freute mich über meinen neuen Freund. Grzegorz erwies sich als ein äußerst sympathischer und intelligenter Junge. Er war ein paar Jahre älter als ich. Eines Tages setzte uns Tante Basia gleich nach dem Mittagessen aufs Sofa und begann mir zu erklären, weshalb ich bei ihnen und nicht in meinem Elternhaus bin: Papa sei aus dem Gefängnis entlassen worden unter der Bedingung, dass er sich in den zurückerlangten Gebieten (im Westen Polens) niederließe, im kleinen Städtchen Kamień Pomorski. Mama und Rysia seien schon gemeinsam mit Papa hingefahren und wollen, dass ich zu ihnen dazustoße. „Alleine lass ich Dich nicht, aber unter Grzegorzs Aufsicht, ist das etwas anderes“, beendete sie ihren Monolog.
Schon wenige Tage später packte Tante Basia unsere Sachen in kleine Pappkoffer. Selbstverständlich nahm ich meine Ski mit. Onkel Edek fuhr uns mit seinem schwarzen Automobil zum Bahnhof und kaufte uns Fahrkarten. Am Bahngleis fuhr eine enorme Lokomotive mit einer Schnur an Waggons vor. Sie keuchte, Rauch stieg aus ihrem Schornstein auf. Der Onkel setzte uns ins Abteil und unter Aufsicht meines älteren Freundes fuhr ich zu meinen Eltern; ins fremde Kamień Pomorski.
Die Fahrt dauerte lang. Eilig betriebsam schleppten Menschenmassen ihr Hab und Gut in Koffern und Paketen mit sich: erschöpfte Menschen. Es war eine Völkerwanderung! Nach mehrmaligem Umsteigen und einem wunderbaren, heißen Tee mit darin umher tanzenden Zitronenflocken, setzte sich unser Zug Szczecin-Stargrad für die letzte Etappe unserer Reise in Bewegung. Bei jedem Halt wurden die Abteilstüren sperrangelweit geöffnet. Fahrgäste kamen und gingen mit ihrem ungewöhnlichen Gepäck. Gregorz und ich setzten uns ans Fenster, dennoch ließ uns dieses Gewusel nachts nicht schlafen. Tagsüber sogen wir dafür förmlich die sich vor unseren Augen verschiebenden Landschaften auf. Ich konnte nicht mehr sitzen und musste auf die Toilette, also kämpfte ich mich den Durchgang entlang durch die aneinander gedrängten Reisenden und ihr Gepäck. Durch das Türfenster des letzten Waggons beobachtete ich die Gleise. Wir fuhren über eine Brücke - über die Oder; eine furchteinflößende Brücke. So unendlich lang, nur aus Gleisen, die nur auf einer schmalen Unterlage befestigt waren. Wie wenn diese Unterlage schweben würde über dem faul dahinließenden grauen Fluss. So zart war diese kunstvolle Konstruktion, dass sie unter dem tosenden Zug jeden Augenblick mit uns in den Fluss stürzen könnte. Ich hatte ganz vergessen wofür ich mich bis hierher durchgekämpft hatte. Es war eine lange Reise, meine Erinnerungen daran verschwimmen mit dem monotonen Zugrattern. Das letzte Stück nach Kamień Pomorski, bis zur verlassenen Ruine seines stilechten Bahnhofs fuhren wir mit dem Pferdewagen. Die Russen hatten die Bahngleise, welche die Ortschaft mit der Welt verbindeten mitgehen lassen.
Mein geliebtes Kamień Pomorski
Mama und Rysia erwarteten uns. Nach einem kurzen Marsch durch die menschenleeren Straßen erreichten wir unsere Wohnung: drei Zimmer und eine Küche im zweiten Stock; in einem der drei Grundschulgebäude – gegenwärtig die Jan-Długosz-Str. Nach einiger Zeit wurde Grzegorz abgeholt, zurück zu seiner Mutter, die nicht nach Warszawa zurückgekehrt war, sondern sich in Wrocław wiedergefunden hatte. Zwar verliefen entlang der Schule Bahngleise, doch hier fuhren keine Züge. Etwas weiter entfernt befanden sich Gebäude und Anlagen der Lokschuppen. Die Gebäude standen leer. Genau hierhin zog es uns Jungs, umso mehr, da es beim Lokschuppen ein Kran zum Beladen der Dampflokkohlewägen gab. Er erinnerte an ein Karussell und so nutzen wir ihn auch. Eine Reihe Wägelchen stand auf der Schmalspur, die zur Kohleverladestelle führte. Wir hoben das mit einem Stahlseil an den Kran befestigte Wägelchen an. Wie man einen Eimer aus dem Brunnen mit einer Kurbel herauszieht, gab es hier zwei Kurbeln, an denen je zwei Jungs benötigt wurden, um das Wägelchen, in dem der Glückliche saß, anzuheben und das Karussell drehen zu können. Mit Sperrklinken wurden die Kurbeln gesichert. Aus ganzer Kraft schoben wir nun den Wagen an. Jeder wartete auf seine Reihe, um dieses faszinierende Kettenkarussell zu erleben. Doch eines Tages rutschte mir beim Anheben des Wagens die Kurbel aus den Händen, brach mir die Finger meiner linken Hand und schnitt die Haut auf. Mit einem Lappen verband ich meine Hand, damit man das Blut nicht sah, damit die Eltern davon nicht erfuhren. Ihr Gerede, ihre Verbote und Einschränkungen meiner Freiheit brauch ich nicht. Meine Hand verheilte, doch ein Finger ist bis heute krumm gebliben, denn so wollte es die Natur. Meine Eltern haben nichts von alledem mitbekommen. Sie waren von den außergewöhnlichen Nachkriegsjahren vollends in Anspruch genommen.
Rysia und ich besuchten die nahe gelegene Schule. Ich kam in die zweite Klasse, jedoch beschlossen die Lehrer nach einiger Zeit mich in die dritte Klasse zu versetzen. Zwar war ich viel jünger als die anderen Drittklässler, doch der Unterbrechung ihrer Schulzeit des Krieges wegen, hatten sie viel aufzuholen. Außerdem versprachen sich die Lehrer von meiner Höherstufung, dass mich der Einfluss meiner älteren Mitschüler zügeln würde. Und tatsächlich, in der Schule trieb ich keinen Unfug mehr, dafür boten mir die älteren Jungs Zigaretten an. Doch es sollte nicht sein, dass ich in die Fänge der Sucht falle. Den stickigen und brennenden Rauch empfand ich abstoßend.
Papa war nur selten zu Hause. Er hatte viel zu tun, da er in der Aufsichtsbehörde des Bildungswesens Szczecin den Wiederaufbau des Schulwesens in der gesamten Wojewodschaft verantwortete. Außerdem organisierte er Lehrerseminare für zukünftige Pädagogen. Währenddessen erwartete Mama ein weiteres Kind. Niemand hatte Zeit, auf mich aufzupassen. Einem Jungen gefällt das natürlich. Denn damals war ich wie all meine Freunde in den Fängen einer neuen Leidenschaft gefangen. Gleich nach der Schule hörte man es flüsternd: „Wir gehen schabern (na szaber)!"
Einige Quellen besagen, dass die Kriegshandlungen Kamień Pomorski zu 70% zerstört haben. Tatsache ist, dass das Rathaus ausgebrannt war, der Bahnhof zerstört war sowie die Molkerei und am meisten sichtbar war das Bombeneinschlagsloch in der örtlichen Brauerei unten am Kai. Kamień Pomorski war wie ausgestorben. Die leerstehenden Wohnungen waren noch vollständig eingerichtet, wie wenn sie auf neue Bewohner warten würden. In leeren Sraßen standen die Türen der verlassenen Häuser offen. Es machte großen Spaß, die Straßen entlang zu gehen und Fensterscheiben mit Steinschleudern einzuschlagen. Wir betraten die Wohnungen und zerrissen wunderschön gebundene, mit deutscher Gotik bedruckte Bücher. „To szwabskie - das ist deutsch!" Diese Worte waren die einzige Rechtfertigung unserer jugendlichen Gedankenlosigkeit. Wir gingen in die Keller, in denen reihenweise Eingemachtes in den Regalen stand. Mit Stöcken, die unabdingbare Gesellschafter unserer Expeditionen waren, schlugen wir enthusiastisch in Gläser voll mit Gutem aus Sommertagen.
Wenn wir etwas fanden, was uns gefiel, nahmen wir es mit, wie wenn es uns gehörte. Nicht selten trafen wir auf Erwachsene. Sie verjagten uns, nahmen aber selbst auch was sie irgendwie gebrauchen könnten. Die Szabersleut wüteten in den verlassenen Wohnungen und Häusern. Sie trugen alles heraus, womit man nur handeln konnte. Daher stammt das Wort „Szaberplac", also ein Platz, auf dem geplünderte Güter verkauft wurden. Auch die russische Armee trug zur Verwüstung dieser Gebiete bei. Sie eigneten sich alles an: Eisenbahngleise, eiserne Brücken, Maschinen, doch am liebsten nahmen sie ganze Fabriken auseinander, die sie bei sich wieder aufbauten. Doch zurück zu den ehemals deutschen Mietshäusern in Kamień Pomorski. Scheibenlose Fenster und Dächer, die nicht selten ihrer guten Dachziegel oder Bleche beraubt waren, konnten die Gebäude nicht mehr schützen vor Wind und Wetter. Sie verkamen zu Ruinen, bis schließlich die kommunistischen Herrscher die Überreste dieser Altbauten dem Erdboden gleichmachten und an gleicher Stelle sozialistische Wohnblöcke erbauten, wie sie bis heute stehen.
Es war Anfang Dezember 1945, Schnee war gefallen. Eines Abends durften wir unsere Wohnung nicht betreten. Unsere Nachbarin nahm uns zu sich und sagte, dass wir bei ihr schlafen würden, weil Mama krank sei. „Aber macht Euch keine Sorgen. Morgen gibts eine Überraschung", fügte sie geheimnisvoll hinzu. In der Früh des 5.Dezember kamen wir ins elterliche Schlafzimmer. Mama lag im Bett. Sie winkte uns zu, uns vorsichtig ihrem Bett zu nähern. „Ihr habt ein kleines Schwesterchen", flüsterte sie uns zu. „Wollt ihr sie sehen", schaute sie uns fragend an. Ich nickte. Mama beugte sich über das kleine Bettchen neben dem elterlichen. Zuerst beugte sich Rysia hochgespannt drüber, richtete sich aber sofort wieder auf und auf ihrem Gesicht erschien eine Grimasse: „Ganz schön hässlich und klein", sagte sie und ging zu ihren schönen und großen Puppen. Nach einem Augenblick erblickte auch ich das kleine Geschöpf. So winzig und so wehrlos! Und was für große Äuglein sie hat. Ich lächelte Mama zu. „Mami, sie ist wie ein kleiner Frosch (Żaba)", flüsterte ich. Żabcia, Żaba, Żabulek. Damals nannte niemand unser kleines Schwesterchen anders. Unser Mädchen sollte den Namen Joanna erhalten. In der Behörde schrieb der Sachbearbeiter Johanna auf und der nächste korrigierte den Fehler auf Hanna. Und so ists geblieben.
Schnell waren die ersten Nachkriegs-Weihnachtsfeiertage vergangen und das Neue Jahr 1946 wurde mit einem Knall aus von uns inszenierten Explosionen begrüßt. Überall lag Munition! Damals wühlten alle Jungs in Munition. Einige gingen an die Bucht und warfen die Ladungen ins Wasser, um die Fische zu ertauben. Schießpulver gab es im Überfluss - man musste es lediglich aus jeglicher Art von Geschossen aushülsen, die auf den Straßen, Höfen und in verlassenen Gebäuden zuhauf umherlagen. Warnungen unserer Eltern und Lehrer überhörten wir, solange es zu keiner Tragödie gekommen war.
Doch eines Tages kam es in unserer Straße zu einer ungeheueren, von einer riesigen Staubwolke begleiteten Explosion. Unweit der Schule stand ein langes, gemauertes Haus. Zwei Burschen, die in desem Haus wohnten hatten eine Panzerfaust gefunden. Sie nahmen sie mit in den Keller, wo es zur Tragödie kam. Beinahe gänzlich wurde das Haus zerstört. Die gesamte Nachbarschaft kam zusammengelaufen. Ich lief voraus, dort waren schließlich meine Freunde! Ätzender Rauch verschloss den Kellereingang. Lange konnten wir den Keller nicht betreten. Jedoch fand ich mich als erster unten und was ich dort vorfand, kann man nur schwer vergessen. Auch Rysia war unter den herbeigelaufenen Schulkindern. Von diesem Tag an fürchtete sie sich alleine einen Keller zu betreten. Dieser Unfall führte uns vor Augen, wie gefährlich unsere Spielchen waren. Trotzdem verschwanden die Schießpulversäckchen nicht aus unseren Hosentaschen.
Mit dem ersten Frühlingstauwetter zogen wir um in ein Zwei-Familienhaus mit abschüssigem Dach in der Konopnicka-Str. 12. Die andere Hälfte bewohnten die Herrschaften Wiśniewski. Den Innenhof teilte eine hohe, rissige Mauer. Parallel zum Wohnhaus befanden sich Wirtschaftsgebäude, die ebenfalls an die Mauer anlagen. Hinter dem Gebäude breitete sich der Obstgarten aus; mit einer Hecke vom Feld abgetrennt, welches auch zu uns gehörte. Zwei Stufen führten zur Eingangstür. Die Nachbarn waren sehr herzlich und ein breiter Riss in der Mauer erleichterte den Austausch der neuesten Nachrichten. Rysia und ich hatten zwei Zimmer im oberen Stockwerk: ein Spiel-, ein Schlafzimmer. In unserem Stock befand sich außerdem ein Badezimmer und eine ungenutzte Küche. Im Erdgeschoss befand sich die zweite Küche, das Speisezimmer und das Elternschlafzimmer. Am Flurende ging es in Papas wunderschönes Arbeitszimmer. Unter der Treppe in einer hölzernen Wand befanden sich zwei Türen. Eine führte in den Keller, die andere in eine beträchtliche, reich sortierte Speisekammer. Nach den hungrigen Kriegszeiten begannen wir nun wirklich herrlich zu essen. Wie Pilze nach dem Regen waren private Metzgereien, Bäckereien, Konditoreien und Geschäfte mit den schmackhaftesten Leckereien aus dem Boden gesprossen.
Mama hatte eine Unmenge an Verpflichtungen mit der Betreuung der kleinen Żaba sowie der Haushaltsführung und Papa - wie üblich - war wochenlang nicht da. Er beschäftigte sich nicht nur mit dem Schulwesen, sondern engagierte sich ebenfalls politisch. Im Namen des PSL (Polskie Stronnictwo Ludowe, welches für ein unabhängiges, demokratisches Polen einstand) gründete er WICI-Kreise, also die Jugendorganisation der PSL. Nach Hause kam Papa zu den unterschiedlichsten Uhrzeiten, doch meistens nachts, wenn wir schon schliefen. Nur selten sahen wir ihn. Wenn er mal da war, hielt er sein Motorrad immer im Garten hinter dem Wirtschaftsgebäude versteckt. Warum nicht im Schuppen, fragte ich mich.
Es war das Jahr 1946. Auf den Straßen lag noch schmutziger Schnee, doch es roch schon nach Frühling. Ich war auf dem Weg zum Schulsportplatz. Im Schulgebäude standen die Fenster weit offen. Plötzlich traf mich ein Schneeball. Auf solch eine Provokation musste ich reagieren, also packte ich in die Mitte meines Schneeballs einen Stein und warf ihn in Richtung der Provokateure in den Fenstern. Und wieder schlug ich eine Fensterscheibe ein. Zur Strafe durfte ich nicht am Unterricht teilnehmen. Ich war sauer, denn ich fühlte mich ungerecht behandelt. Ich hab doch nicht angefangen! Ich zeigs ihnen, dachte ich mir. Also ging ich zu den hölzernen Schultoiletten (Plumpsklos) am hinteren Ende des Sportplatzes. Aus meiner Hosentasche holte ich eine große, aufgerissene Patrone und ein Schießpulversäckchen, mischte eine kleine Sprengstoffladung zusammen und zündete sie an. Ich wusste: sobald dünne Flammen aus dem Geschoss zu sprühen begannen, heißt es werfen und sofort weglaufen. Also ließ ich das Geschoss in der ersten Kabine fallen und versteckte mich hinter der nahe gelegenen Böschung ... Bumm!!! Die Explosion war unerwartet effektiv: Holzstücke und brauner Brei flogen durch die Luft, es stank furchtbar. Lehrer und Schüler kamen aus der Schule gelaufen; ich lief heim. Der besorgten Mama habe ich schnell etwas geantwortet und ging von selbst brav Holz hacken, um mein schlechtes Gewissen rein zu waschen. In der Schule konnten sie sich schnell zusammenreimen, wer die Toiletten in die Luft gejagt hat. Boshaft winkte mir eine Schulfreundin mit einem Briefumschlag zu, als sie mir auf der Straße begegnete: „Ha! Ich habe von der Schule einen Brief an Deine Eltern! Du wirst schon sehen, was für eine Tracht Prügel Du bekommst! Das wirst Du noch bereuen! Hahaha", verspottete sie mich. Das konnte ich nicht ertragen. Mit Fäusten warf ich mich auf das Mädchen, riss ihr den unglückseligen Brief aus der Hand und riss ihn in Fetzen.