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Der Sommer war noch nicht vergangen, da erinnerte sich die Geheimpolizei wieder an meinen Vater. Wieder begannen Hausdurchsuchungen, bei denen sie unablässig brüllten. In der Stadt schlossen sie unterdessen der Reihe nach alle privaten Geschäfte, Bäckereien und Werkstätten. Mit einem Mal verschwanden die ausgezeichneten, schmackhaften und duftenden Erzeugnisse. Denn sie passten nicht in die kommunistischen Pläne der stalinistischen Besatzungsmacht. Private Tätigkeiten polnischer Gewerbetreibender und Unternehmer entsprachen nicht der Parteilinie. Von da an sollte alles vergemeinschaftlicht sein; ganz gleich wie schlecht, Hauptsache staatlich.
Es kam der schmerzhafteste Tag für unsere Familie. Unerwartet war Onkel Edek gekommen. Papa sei in ernstem Zustand im Krankenhaus in Bydgoszcz. Mama fuhr sofort hin. Die kleine Żaba wurde unter Oma Ludwikas Obhut gegeben, während mich und Rysia unser Onkel zu sich nach Bydgoszcz mitnahm. Lebendig habe ich Papa nicht mehr gesehen. Niemand sagte mir, was passiert war. Warum war Papa im Krankenhaus? Er war gesund, jung und fuhr Motorrad. Und wieso benachrichtigte uns gerade der Onkel? Warum hat er uns mitgenommen? Warum war Papa plötzlich in Bydgoszcz? Niemand wollte uns diese Fragen beantworten. Man ruinierte unsere Leben, indem man uns über die Gründe im Dunkeln ließ.
Erst im Seniorenalter erfuhr ich von meiner Cousine Gercia: Ungefähr zwei Wochen lag mein Vater im Krankenhaus. Er konnte nicht essen und hat stark abgenommen. Aus Zembrze kam sein älterer Bruder Bolesław mit Gertruda, der Tochter seines jüngeren Bruders Józef, ihn besuchen. Papa bat Gercia (Gertruda) ihm Essen mitzubringen, denn dem was ihm im Krankenhaus serviert wurde, traute er nicht. Sie kochte bei ihrer Tante in Bydgoszcz und versuchte Papa mit zarten, aber nahrhaften Brühen zu Kräften zu bringen, doch es war zwecklos. Er litt sehr, doch er wusste, dass er im Krankenhaus nicht länger bleiben konnte, dass er fliehen musste. Mit letzter Kraft zog er sich an und verließ das Gebäude. Doch er war zu schwach und konnte sich nicht auf den Beinen halten. Schnell wurde seine Flucht bemerkt und man legte ihn zurück ins Bett. Am darauffolgenden Tag, am 12.November 1948 starb Papa. Er wurde nur 42 Jahre alt.
Am nächsten Tag rief Onkel Edek mich und Rysia zu sich und gab uns kurz und knapp bekannt: „Euer Vater hatte einen Unfall und ist nach der Operation gestorben. Morgen ist das Begräbnis. Danach bleibt Dychu in Bydgoszcz bei mir und wird hier zur Schule gehen”.
Was für ein Unfall? Ich dachte mit dem Motorrad … .
Im Grunde genommen kannte ich meinen Vater kaum: Zunächst war es der Krieg und das Oflag und danach die Arbeit und politische Tätigkeit, welche mir nicht erlaubten, ihn besser kennenzulernen. Er war nie da. Wie geht es jetzt weiter? Soll ich in Bydgoszcz bleiben? Was passiert mit meinem Hund? Und meine Freunde, wir hatten doch so viele Pläne!? Was wird aus Mama? Bittere Tränen liefen mir übers Gesicht. Meine kleine Welt war wieder zusammengefallen. Punkt, Ende, so soll es sein, es ist wie es ist! Es gab keine Diskussion. Ich fühlte mich wie ein weggeworfenes Staubkorn, ein Holzblock, eine unbedeutende Person, die niemandem wichtig ist … .
Papas Begräbnis: Die weinende Mama, Antosia – Onkel Edeks Magd – mit Żaba in ihren Armen, Rysia und ich. Neben uns stand Onkel Edek und Tante Basia. Aus Legnica war Tante Ola, Mamas jüngste Schwester, in schönem Pelzmantel angereist. Papas Brüder Bolek aus Zembrze und Józef aus Radoszki waren auch da. Aus Tuchola waren Oma Ludwika und Opa Kazimierz gekommen. Erst nach vielen Jahren erfuhr ich von Tante Ola, die dann in Gdańsk-Wrzeszcz lebte, die Wahrheit über den Tod meines Vaters; die so sorgfältig verborgene Wahrheit. Es war Mord. Die Geheimpolizei hatte meinem Vater eine Falle gestellt. Fünf Schüsse wurden auf ihn abgefeuert. Es spielte sich in den Jahren 1945-48 ab, als den Händen des NKWD (aus dem 1954 der KGB hervorging) und der Geheimpolizei („Sicherheitsbehörde”) KBW (Korpus Bezpieczeństwa Wewnętrznego – Korpus für Innere Sicherheit) so viele Menschen zum Opfer fielen wie nie. Zugehörigkeiten zur Polnischen Heimatarmee oder andere als kommunistische Ansichten über die neueste Geschichte wurden streng bestraft durch die unterwürfigen Gerichte. Für Oppositionsgeist bekam man nicht nur - wie in späteren Jahren - eine „vier-acht“ (also 48 Stunden Arrest) oder schlimmsten Falls eine mehrjährige Gefängnisstrafe. „Volksfeinde“ erwartete eine Kugel oder eine Deportation nach Sibirien, das unmenschliche Land.
Mein Vater bekam eine tödliche Serie in den Bauch. Wir wurden zu Waisen. Mama wurde ihr Leben zerstört. Meine glückliche Kindheit nahm ein jähes Ende. Ich war zwölf.
Bitteres Waisenbrot – Bydgoszcz
Beim Onkel in Bydgoszcz wollte ich nicht sein, das war nicht mein zu Hause! Machtlos versuchte ich mich dagegen aufzulehnen. Schließlich wohnte ich doch in seiner geräumigen Wohnung, Platz jedoch gab es dort für mich keinen. Mal stellten sie mir ein Bett im Salon oder Speisezimmer auf, mal in der Küche - wenn sie Besuch hatten. Außerdem gab es Onkels Arbeitszimmer und ein Schlafzimmer, doch da hatte ich keinen Zutritt. In der Küche regierte Marysia, den Haushalt führte Antosia. Marysia war eine ältere Dame, die ich aber schon aus Kriegeszeiten kannte. Als Großelterns Pflegekind wohnte sie bei uns in Tuchola. Auch Antosia stammte aus Tuchola. Der Biskup (der Onkel) hatte sie als 19-jähriges Mädchen eingestellt.
Die Wohnung war riesig: vier Zimmer, zwei Bedienstetenkammern, eine Küche, eine Speisekammer, ein Bad und eine Toilette. Es gab zwei Eingänge: einen festlichen aus dem marmornen Treppenhaus und den Bediensteteneingang zur Küche. Das Gebäude, in dem sich die Wohnung befand war ebenfalls riesig. Die steinernen Balkone gingen auf die Focha-Str. hinaus, wo sich auf der Schmalspur die klappernden Straßenbahnen entlang schoben. Gegenüber des Hauses fließt die Brda und über sie drübergeworfen war eine Brücke. Auf der anderen Flussseite sah man die alten Speicher und die gothische Backsteinkathedrale. Vielleicht war es auch schön in Bydgoszcz, doch ich sehnte mich nach Kamień Pomorski. Onkel Edek mochte ich nicht. Seine Frau, Tante Basia, hingegen war mir sympathisch. Sie war hübsch, fröhlich und sang gerne; nur gelegentlich wirkte ihr Frohsinn etwas aufgesetzt. So schön hatte sich ihre Filmkarriere angekündigt, sie erhielt verschiedenste Rollen im Theater und Spielfilmen (z.B. in „Pieśniarz Warszawy“ - 1934), doch plötzlich war sie Hausherrin in einer Provinzstadt, Ehefrau eines Arztes. Kein Wunder, dass sie sich nach ihrem damaligen Künstlerleben und der vom Krieg unterbrochenen Karriere sehnte.
Am liebsten hatte ich es wenn der Onkel nach Warszawa fuhr. Dann schlich ich in sein Arbeitszimmer und sah mir neugierig die auf dem schönen, stilvollen Schreibtisch aufgestellten Gegenstände an. Das schöne Tintenfäßchen samt marmornen Untersetzer, eine Federrinne, eine Schatulle für Stahlfedern, ein Papiermesser und eine schwere Löschwiege: alles in einer Ordnung aufgestellt, für die nur der Onkel bekannt war. Nichts durfte umgestellt werden. Nicht selten ermahnte er Antosia ihrer „nachlässigen" Putzweise wegen: keinesfalls durfte sie seine unbezahlbaren Gegenstände auch nur ein Stückchen verstellen. Mit der Zeit begannen des Onkels Bemerkungen auch mich zu betreffen. Für alles was ich getan oder nicht getan habe, wurde ich bissig zurechtgewiesen. Ich stellte mich auf die Hinterbeine, lebte aber mit dem Gefühl verletzt und ungerecht behandelt worden zu sein.
In dieses zu Hause kehrte ich nur ungern zurück. Solange wie möglich trieb ich mich in den Straßen umher. Einmal ging ich an der Brdabrücke vorbei. „Was soll ich nur tun? Kann ich was ändern“, fragte ich mich. Ich hielt am eisernen Brückengeländer und schaute auf die gemächlich vorbeifahrende Barkasse. Ich beugte mich weit vor und bemerkte hervorstehende eiserne Haken. „Ich zeigs dem Onkel, soll er sich mal etwas Sorgen um mich machen! Menschen sind hier viele, also werden sie mich bemerken und vielleicht dringt der Trubel wegen dem, was ich mache auch zu ihm durch! Vielleicht würden sie sogar auf den Balkon gehen, um nachzusehen, was die Menschenansammlung auf der Brücke zu bedeuten habe.“
Ich kletterte über die Barriere und setzte mich auf einen hervorstehenden Haken. Die Beine baumelten hinunter und ich glotzte ins Wasser. Wie erwartet bemerkten die Passanten sofort meine Klettereinlage und es versammelten sich viele Menschen auf der Brücke. Sie warnten mich, dass ich runterfallen und ertrinken würde. Einen Augenblick lang beobachtete ich die Leute, griff mit den Händen nach dem Haken und ließ mich herabgleiten. Eine Zeit lang hing ich an meinen Armen. Die Leute versteinerten vor Entsetzen. „Oh nein! Ob sie wohl denken, dass ich springen werde? Na, genug von dieser Vorstellung“, dachte ich und zog langsam die Beine wieder hoch, so dass ich wieder bequem auf dem Haken sitzen konnte. Nun konnte ich problemlos die Barriere ergreifen und sprang zurück auf den Gehsteig der Brücke. Die Leute traten zurück, es wurde still und ich lief davon. Als ich abends in die Wohnung kam, wussten bereits alle von meiner Vorstellung. Insbesondere Basia war erschrocken, dennoch sagte niemand ein Wort. Aber in der Tat wurde es zu Hause viel angenehmer.
Abwechslung in den monotonen Tagesablauf brachte Tante Ola und Onkel Paweł Wolski aus Kamień Pomorski. Sie erzählten mir, dass Mama mit Rysia und Żaba nach Piła umgezogen war, um näher bei ihrer Lieblingscousine, Aneta Skibicka, zu sein. Unser vollständig eingerichtetes Haus hatte sie ihrer Schwester überlassen. Alleine konnte sie nur wenig mitnehmen: einige Erinnerungsstücke, ihre liebsten Sachen sowie ihr Lieblingsgemälde - Mohnblumen. Traurig machte mich, dass ich nichtmal mehr die Sommerferien an meinem Herzensort verbringen werden kann. Doch Tante und Onkel brachten so viel Trubel ins Haus, dass meine Traurigkeit schnell wieder verflog. Sie waren jung, gut aussehend, fröhlich und man konnte sehen, dass sie einander liebten. Im Krieg hatten sie sich in Warszawa kennengelernt, wo die Tante Verkäuferin in einem Geschäft war. Ihre Freundinnen machten sie mit dem sehr gut aussehenden Herrn Paweł bekannt. Von da an liefs ganz von selbst. Im Warschauer Aufstand kämpfte Paweł in einer Aufständischeneinheit bis zur offiziellen Kapitulation, dank derer er mit dem Leben davon gekommen war. Sich vorher ergebende Aufständische behandelten die Deutschen wie Banditen und erschossen sie an Ort und Stelle. Ola und Paweł fanden sich wieder und heirateten. Onkel Paweł war sehr großgewachsen und als einziger der Erwachsenen (für mich ganz ungewohnt!) interessierte er sich für mich und hörte mir aufmerksam zu. Eines Tages gingen wir - die ganze Schar - spazieren. Im Café an der Ecke kaufte mir Onkel Paweł echtes Speiseeis in der Waffel. Drei Kugeln, herrlich kühl und wunderbar fruchtig. Glücklich ging ich neben meinem Onkel. Das ware mein erstes Eis - ein unvergessener Moment!
Bei den ausgedehnten Abendessen schwelgten die Erwachsenen in Erinnerungen an ihre Zeit in Warszawa. Basia erzählte von Theater- und Filmrollen, sie lachte, doch ihre Augen waren traurig. Ola und Paweł erzählten vom Warschauer Aufstand. Nur der finster dreinschauende Edek Biskup saß wortlos im Fauteuil.
Die Biskups zogen um in die Straße-des-24.Januar (gegenwärtig Straße-des-20.Januar), in eine ruhiger gelegene und noch größere Wohnung. Denn Onkel Edek wurde befördert. Er war nun leitender Arzt der Wojewodschaft in Bydgoszcz. Die Wohnung erstreckte sich über die Hälfte des gesamten Stockwerks. Ein weiterer Vorzug: in der Nachbarswohnung gegenüber wohnte Tante Iza mit ihrem Ehemann - Redakteur der Bydgoszcz`er Tageszeitung „Ilustrowany Kurier Polski“. Sie waren ein wunderbares Paar: kultiviert, elegant, hübsch.
In der neuen Wohnung waren wir nun drei Kinder. Rysia und Magda, die Tochter einer von Basias warschauer Freundinnnen, wohnten nun auch bei Tante und Onkel. Wir waren alle Halbwaisen, die der „edelmütige“ Onkel Edek bei sich aufgenommen hat, damit die verwitweten Mütter ihre so plötzlich vereinsamten Leben ordnen können. Die Mädchen wohnten in einem Zimmer mit Fenster zum Innenhof und ich schlief in einem Zimmer mit der Tür direkt ins Badezimmer. Außerdem befand sich in der Wohnung ein Schlafzimmer sowie ein großes Speisezimmer, das durch Schiebetüren mit Onkels Arbeitszimmer verbunden war. Im Speisesaal thronte ein ovaler, ausziehbarer Tisch sowie Vitrinen mit dem Tischporzellan und schönen Gläsern. Im Arbeitszimmer, rechts vom Eingang stand Onkels Schreibtisch und gleich beim Fenster der glänzende, schwarze Flügel. Eine Lederklubsesselgarnitur mit kleinem Cocktailtisch rundete die Einrichtung ab. Mit offenen Schiebetüren waren Arbeits- und Speisezimmer der ideale Ort für gesellschaftliche Anlässe. An Marysias große Küche war ihre kleine Bedienstetenkammer angeschlossen. Auf der anderen Seite des Badezimmers befand sich Antosias Bedienstetenkammer. Alle Zimmer lagen an einem langen Flur. In der neuen Wohnung hatte Antosia viel zu putzen und wir Kinder – wie Kinder eben so sind – erleichterten ihr diese Aufgabe nicht wirklich. Rysia und Magda waren gleichaltrig - ein Jahr älter als ich aber schon viel größer. Schnell hatten sie sich angefreundet, ständig ärgerten sie mich. Zu Adend bekamen wir meistens einen großen gemeinsamen Teller mit einer Pyramide aus belegten Broten. Die Mädels hatten ihren Anteil schnell aufgegessen, während ich noch immer an meinem ersten Canapé kaute. Natürlich aßen die Mädchen weiter und anstatt ein zweites Brot zu essen, blieb ich vor einem leeren Teller zurück. Von da an, immer wenn die Mädchen nach dem nächsten Brot griffen, nahm ich auch eines auf Vorrat und legte es auf meinen Teller. Während meine Pyramide wuchs lauerten die Mädchen nur darauf, mir sie wieder zu verkleinern.
Eines Tages rief Tante Basia uns drei in den Salon: wir sollten es uns in den Sesseln bequem machen und selbst setzte sie sich auf die Couch. Sie sah mich an und sagte:
„Ich habe Euch hergebeten, um eine gewisse Sache Dich betreffend zu vereinbaren. Ja wirklich, weder Bubi, wie sie Dich als Kleinkind nannten, noch Dychu, wie Du bis jetzt genannt wirst, ist Dein richtiger Vorname. Jetzt bist Du herangewachsen, also sollte man Dich nun Dionizy nennen.“ Die Mädchen begannen zu kichern, doch die Tante beruhigte sie schnell: „Na, na, lacht nicht, denn Dich Rysia nannte man bis vor nicht allzu langer Zeit Lilu. Rysia ist die Verkleinerungsform von Marysia, also solls so bleiben“ und die Tante sprach weiter, „Dionizy ist so ein nicht alltäglicher, ernster Name und passt nicht wirklich zu Dir. Aber Du hast noch einen zweiten Vornamen: Wojciech. Ich finde, dass wir zu Dir Wojtek sagen sollten! Also heisst Du ab heute Wojtek!“ „Wojtek geht in Ordnung“, dachte ich. Dieser Name gefiel mir sogar besser als mein vorheriger, um so mehr, da Mama mich manchmal auch so nannte.
Samstags kamen zu Tante und Onkel Gäste zu Besuch: Basia sparte dann nicht mehr am Essen, sondern tischte üppig auf. Nach dem schmackhaften Abendessen gingen alle ins Arbeitszimmer Bridge spielen, singen oder sogar tanzen. Wir nutzten dann die Gelegenheit, schlichen unter den Tisch und stibitzten Leckereien vom Tisch wie es sich nur ließ.
Eines Tages sagte mir der Onkel, ich solle beim Schulleiter vorstellig werden. Ich klopfte an die Tür, hörte ein entschiedenes „Bitte!“, drückte die Türklinke herunter und trat ein. Herr Lech, so sein Nachname, sprach mit mir sehr herzlich und erwähnte zum Schluss, dass er ein Freund meines Vaters war und dass sie gemeinsam im Oflag (Offizierslager) II C Woldenberg waren. Erst später erfuhr ich, dass mein Vater wie jeder Kriegsgefangene eine Nummer erhalten hatte, welche ihn die ganzen Jahre der Kriegsgefangenschaft über begleitete: 87/XVIII B Ltn: 87. registrierter Gefangener im Oflag XVIII B Wolfsberg vom Dienstgrad Porucznik - vergleichbar eines (Ober-)Leutnants. Der Direktor fügte hinzu, dass das erste Gefangenenlager, in dem sie waren, sich in Wolfsberg in Kärnten befand: Oflag XVIII B.
Ich kam in eine Klasse, in der ein sportlicher, mir gleichgroßer, rothaariger Bursche die erste Geige spielte. Er betrieb Boxsport, was ihn seiner Meinung nach an die Spitze der Schulklassenhierarchie stellte. Gleich in der ersten Pause näherte er sich mir, schaute mir gerade in die Augen und drückte langsam, nachdrücklich und drohend folgende Worte zwischen seinen Zähnen hindurch: „Hey Kleiner, muck hier bloß nicht auf! Ich habe hier das Sagen!“ „Niemals“, warf ich ihm geradewegs ins Gesicht zurück, während gleichzeitig meine Faust auf seinem Kinn landete. Wir kloppten uns so lange, bis der Schulleiter in unsere Klasse kam, und uns auseinander brachte. Er würde solch ein Verhalten nicht tolerieren. Doch wir konnten es nicht dabei belassen: einer von uns muss gewinnen, Ehrensache. Ich ergebe mich niemals! Unsere Zweikämpfe verlegten wir ins hinterste Eck des Schulhofs, sogar noch hinter das Toilettengebäude, neben den Mülltonnen. Dort schlugen wir uns in jeder großen Pause. Als wir vor Anstrengung keuchten, spürten wir die Sinnlosigkeit des sich gegnseitigen Verkloppens. Das Duell blieb weiter unentschieden. Die Kämpfe dauerten einige Tage an. Alles tat mir weh und überall hatte ich blaue Flecken, doch ich wusste: ich gebe nicht auf! Endlich war der von mir lang ersehnte Augenblick gekommen, als mein Gegner sich nicht mehr prügeln wollte. Er ergab sich und flüsterte mir zu: „Du bist besser“.
Meine Stellung in der Klasse war nun gefestigt. Jetzt muckt mir kein Bursche auf und mit dem Lernen hatte ich noch nie Schwierigkeiten. Mathematik und Physik liefen wie von selbst. Schlechter wars mit dem Fach Grammatik, doch auch dafür fand ich einen Weg: Den Mädchen half ich bei der Mathematik, dafür retteten sie mich vor Problemen im Fach Grammatik. In den Pausen spielten die Jungs Fußball auf dem Schulhof oder saßen auf den Bänken und spielten Münzfußball. Ich entschied mich meistens für den echten Ball. Unser Musiklehrer bestand darauf, dass ich den Schulchor verstärke. In der Probe sang ich so herrlich falsch, dass ich schleunigst wieder zurück aufs Fußballfeld geschickt wurde. Während eines Spiels traf mich ein Kumpel schmerzhaft am Sprunggelenk. Ich hinkte stark. Es schmerzte so sehr, dass ich schließlich auf einem Bein hüpfen musste. Zu der Zeit sollte ich zur ersten Kommunion. Zu Hause beachtete niemand, nicht mal der Onkel – der Arzt, mein Humpeln. Ich bemühte mich zu verbergen, dass mir was ist. In die Kirche hüpfte ich auf einem Bein. Niemand half mir. Erst einige Zeit später brachte mich Tante Basia zum Fotografen, um das Kommunionsfoto zu machen. Das Sprunggelenk war schließlich verheilt und ich konnte wieder laufen.
Als ich ein andernmal alleine in unserem Innenhof Fußball spielte, bemerkte ich auf dem Nachbarsbalkon Würste. Damals waren Kühlschränke noch nicht alltägliche Küchengerätschaften, so dass die Leute oftmals Wurstwaren auf ihren Balkonen aufbewahrten. Mit jedem Blick auf des Metzgers Meisterstück wurde ich hungriger. Es lockte! Der Balkon war zwar im ersten Stock, doch indem man auf den Holzzaun kletterte, konnte man über den oberen Querbalken hinauf zum Balkongeländer gelangen; sich die Wurst in den Ausschnitt stecken und dann zurück auf den Zaun und in den Innenhof der Nachbarn herabspringen. Mein Plan war geschmiedet. Doch „das ist Diebstahl“, bremste mein Gewissen meine Bestrebungen. „Aber so viel Wurst“ lockte mich immer mehr. Es wurde dunkel und die Fenster schienen leer. „Das geht ganz schnell, niemand wird’s bemerken“, flüsterte mir die in Aussicht stehende Schlemmerei ein. Ich kletterte zum Balkon und schnappte die Beute. Nur noch zurück über den Balken und ein entschiedener Sprung in ein fremdes Gebiet - Nachbars Innenhof. Plötzlich hielt mich etwas fest. Anstatt auf die Beine, fiel ich mit dem Rücken voran. Ich schlug auf dem Betonboden auf. Es tat so weh! Weder bekam ich Luft, noch konnte ich mich bewegen. Über mir erblickte ich eine Wäscheleine. Sie hatte mich zu Fall gebracht.
Die Dunkelheit verdeckte die Sackgasse, in der ich mich befand. Doch endlich konnte ich wieder einatmen und drehte mich vorsichtig auf den Bauch. Unter höllischen Schmerzen gelang es mir aufzustehen. Aber ich hatte die Wurst! Der Rücken setzte mir bei der kleinsten Bewegung zu, doch den Großteil der Leckerei schlang ich sofort herunter. Sie war köstlich, über-köstlich! Der Genuss an jedem weiteren Bissen linderte meine Schmerzen. Aber mehr konnte ich nicht essen, also steckte ich den Rest in die Tasche. Ich schlich mich in die Wohnung, denn ich fürchtete, dass jemand den Geruch der versteckten „Beweistückchen meines Vergehens“ bemerken würde. Im Flur war es ruhig, lediglich hinter verschlossenen Türen hörte man Stimmen: „Ich geh duschen“, gab ich laut bekannt und ging ins Bad. Der pedantische Onkel verlangte von uns, sich täglich zu duschen. „Soll er`s ruhig verlangen, ich werde erst recht nicht duschen“ - um ihn zu ärgern: Wie jeden Abend drehte ich den Wasserhahn auf und setzte mich an den Wannenrand. Den Dreck zwischen Sprunggelenk und Ferse konnte ich nicht mal mehr mit den Fingernägeln abkratzen. Ich konnte mich nicht beugen, vorsichtig wusch ich mich und putzte dann gründlich meine Zähne. Darauf könnte ich nichtmal um den Onkel zu ärgern verzichten. Ich legte mich ins Bett, doch es schmerzte weiterhin. „Wie gut, dass morgen Sonntag ist“, dachte ich. Doch der Sonntag verging und ich konnte mich kaum bewegen. In der Schule erzählte ich den Jungs, dass ich einen Unfall hatte. Sogar der Lehrer bemerkte, dass mit mir etwas nicht stimmt und schickte mich zum Arzt. „Ich wohne doch bei einem Arzt“, antwortete ich.
Ein halbes Jahrhundert später fiel ich beim Rollschuh laufen heftig auf den Rücken: Ich assistierte meinem kleinen Sohn beim Fahrradfahren. Plötzlich bog Albert auf der steilen Straße scharf ab. Er raste auf einen niedrigen Zaun zu. Ich sah schon, wie er sich auf den scharfen Zaunlatten aufspießen würde. Blitzschnell holte ich ihn ein und hob ihn samt seines Fahrrads in die Höhe, jedoch lehnte ich mich dabei zu weit nach hinten. Schließlich fand ich mich im Krankenhaus wieder. Ein Wirbel war gebrochen. „Aber Sie hatten schon mal einen gebrochenen Wirbel“, hörte ich vom Arzt. Damals - wegen der Wurst - zog ich mir also den ersten Wirbelbruch zu. Der Arzt behielt mich im Krankenhaus. Ohne Bewegung lag ich ganze zehn Tage im Bett, bevor ich aufstehen durfte. Damals überzeugte ich mich selbst davon, dass man schon in so kurzer Zeit das Gehen verlernt.
Allmählich gewöhnte ich mich an mein „neues Leben“ in Bydgoszcz. In der Schule hatte ich eine gefestigte Stellung unter meinen Schulkammeraden. Zu Hause hatte ich gelernt, dem finsteren Onkel aus dem Weg zu gehen, mit Tante Basia konnte ich mich immer einigen. Rysia und Magda störten mich nicht, sie hatten ihre Mädchen-Angelegenheiten. Von der Schule eilte ich nach Hause; aß das von Marysia servierte Mittagessen, machte schnell meine Hausaufgaben und der im Haus umherschwirrenden Antaosia warf ich im Vorbeilaufen zu: „Ich bin in der Modellwerkstatt“; und schon war ich weg. Spät abends kam ich heim.
Als wir noch in der Jagiellońska-Str. (Focha-Str.) wohnten, entdeckte ich in der Gdańska-Str. ein Lokal der „Liga Lotnicza“ (Flugsport-Liga: öffentlicher Luftfahrt-Verband). Lange unterhielt ich mich über mein Interesse an der Fliegerei. Ich erzählte von meinen ersten Flugmodellen, die ich gemeinsam mit meinem älteren Kumpel im Speicher in Tuchola gebaut hatte sowie von den Piloten, deren Kampf ich am Kriegshimmel beobachtet hatte. Die Herren führten mich zur Flugmodellwerkstatt in derselben Straße; ebenfalls ein früheres Geschäftslokal mit großem Schaufenster und einer Eingangstür direkt von der Straße. In ihr thronten Tische, an denen Jungs unter der Anweisung älterer, erfahrener Kollegen Drachen bauten und die Fortgeschritteneren komplizierte Segelflugzeug- und Motorflugzeugmodelle. Hier baute ich mein erstes, selbst konstruiertes Segelflugzeugmodell. Bei gutem Wetter trugen wir stolz unsere Modelle außerhalb der Stadt, um ihren Widerstreit mit den Luftmassen zu beobachten. Häufig kehrten wir zurück mit zerbrochenen Modellen, die ihren Kampf mit dem Wind und der gnadenlosen Erdanziehungskraft verloren hatten. Die Modellwerkstatt wurde mein neues zu Hause.
Es kamen heiße Sommertage. Abends füllten sich die Straßen mit spazierenden Pärchen und Mädels in farbenfrohen Kleidern schmückten die grauen, mit nur wenigen und dazu noch ärmlichen Leuchtreklamen beleuchteten Straßen. Unsere Antosia machte einen unruhigen Eindruck als sie eines Tages das Abendessen auftischte und auffällig häufig auf die Wanduhr blickte. Schließlich verschwand sie in der Bedienstetenkammer. „Antosia hat heut abend eine Verabredung“, teilten mir Magda und Rysia die ungewöhnliche Neuigkeit mit. Ja! Unsere Antosia hat einen Verehrer. Und schon hörten wir schnelle Schritte im Flur und wie die Wohnungstür leise geschlossen wurde. Wir liefen auf den Balkon zur Straße hin. Vor dem Haus ging ein Herr in einer Radrennmütze auf und ab. Antosia kam aus der Haustür. Sie war nervös und unnatürlich steif. Der Herr näherte sich ihr, berührte charmant seinen Mützenschirm und nahm Antosia an der Hand. Sie schritten die Straße herab. Wir begannen zu applaudieren und zu kichern. Antosia würdigte uns keines Blickes. Doch selbst von hier oben konnte man sehen, dass sie rot geworden war wie eine Tomate. Erst spät kam sie nach Hause, wir schliefen schon. Am nächsten Tag wollten wir sie ärgern, doch sie drückte nur zornig ihre Lippen zusammen und wendete sich ab; sie erzählte nichts. Eine weitere Verabredung gab es genauso wenig.