Ganz für mich allein

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Fabienne Chubrieux war eine aufregend schöne Frau. Sie tat alles dafür, um nicht aufzufallen, kleidete sich in matten Farben, band die langen kastanienbraunen Haare stets zu einem Knoten zusammen, schminkte sich nicht und bewegte sich leichtfüßig, fast tänzerisch. Es war ihr ganz und gar nicht bewusst, dass sie gerade deshalb den Menschen, die ihren Weg kreuzten, besonders ins Auge fiel. Ihre Natürlichkeit und Anmut waren etwas Besonderes und jeder, der einen Blick in ihre meerblauen Augen werfen durfte, fühlte sich magisch angezogen.
Schnell öffnete sie die Haustür und trat ein, danach drehte sie den Schlüssel im Schloss und atmete auf. Es war eine Weile ruhig gewesen und sie hatte schon begonnen sich sicher zu fühlen, aber nun war die Angst zurückgekommen. Missmutig ließ sie die Rollläden herunter und setzte sich mit angezogenen Füßen auf ihren Lieblingssessel.
Der Mann, der sie Tag für Tag belauerte, hatte angegeben, in sie verliebt zu sein. Fabienne wusste sogar, wer er war: Lars Grückbelt. Schon der Name war furchtbar. Er war fünfunddreißig Jahre alt und arbeitete als Lehrer in Geisenheim, wo er Weinbau-Technik unterrichtete. Sie waren sich bei einer Ausstellung in Wiesbaden begegnet und er war ihr sofort unsympathisch gewesen. Zuerst hatte er nur auf sie eingeredet, später hatte er versucht sie anzufassen und zu umarmen. Fabienne hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er keinerlei Chancen bei ihr hatte.
Es war zu spät gewesen: Für Lars wurde Fabienne zum Nabel der Welt und das Ziel seines Lebens wurde es, ausdauernd und aufdringlich um sie zu werben. Gerade, als es besonders schrecklich war und sie ihre alte Freundin und Psychologin Cordelia Bückler aufsuchte, um sich beraten zu lassen, wie sie jemals wieder zur Ruhe kommen konnte, begegnete ihr Bianca Bonnét.
Cordelia hatte sie einander vorgestellt und erklärte, dass sie das schon seit längerer Zeit geplant hatte, denn auch Fabienne verfügte über einen siebten Sinn. Sie war wie Bianca hochsensibel und konnte Dinge spüren, ehe sie passierten, und sie konnte Stimmungen sofort erfassen. Die beiden Frauen hatten sich auf Anhieb gemocht und eine tiefe Freundschaft war entstanden. Bianca hatte sie bei ihrer Auseinandersetzung mit Lars unterstützt. Alles landete vor Gericht und dem Stalker wurde ein Annäherungsverbot ausgesprochen. Ihre neuen Geheimnummern hatte er immer direkt herausgefunden, aber das gab Fabienne später auf, denn sie war Künstlerin und stand in der Öffentlichkeit, da musste sie erreichbar sein.
Sie nahm ihr Handy und wählte Biancas Nummer. Diese meldete sich fröhlich.
„Hallo, meine Schöne! Ich bin vom Lehrgang zurück. Wie gut, dass du anrufst, wir müssen dringend mal wieder ausgehen.“
„Bianca, ich freue mich, aber nach Ausgehen ist mir nicht zumute. Als ich eben heimkam, lag schon wieder eine Rose vor der Tür. Ich bin bescheuert, weil ich Rosen hasse, oder? Sie können ja nichts dafür.“
„Oh, das tu mir leid. Bist du sicher, dass sie von ihm ist?“
„Von wem sonst sollte sie sein? Nur dieser Irre legt mir Rosen vor die Tür.“
„Es ist gut, dass du mir das gesagt hast. Ich werde mit Michael mal bei ihm vorbeischauen und ihm ein paar Takte erzählen. So ein dämlicher Typ! Aber ausgehen lenkt doch wunderbar ab, meine Süße. Komm, sei nicht so, nur zu einem netten Winzer, ein Glas Wein und dann reden.“
Fabienne gab nach und versprach, in einer Stunde bei Bianca zu sein. Sie lief ins Bad, zog sich danach um und ging durch die innere Tür in die Garage zu ihrem Auto. Sie setzte sich hinein, startete den Motor und fuhr mit der Fernbedienung das Rolltor nach oben, um dann rasant wegzufahren. Den schwarzen Wagen, der ihr einen Augenblick später folgte, nahm sie nicht wahr. Pünktlich klingelte sie an Biancas Tür und wurde herzlich empfangen.
Die Frauen machten sich auf in den Rheingau und ließen sich in einer kuscheligen Winzerstube nieder. Ein Kaminfeuer strahlte eine angenehme Wärme aus und die Wirtin brachte ihnen Wein und eine Schale Salzgebäck.
„Er hatte sich eine Weile zurückgehalten. Aber heute muss er an meiner Tür gewesen sein.“
„Vielleicht war er im Urlaub oder auf einer Dienstreise.“
„Na prima, er kann gerne eine Weltreise unternehmen.“
Die Frauen lachten und Bianca wechselte geschickt das Thema. Die Sache mit Lars war lange genug Hauptgesprächsstoff gewesen, aber es war zu belastend, immer und immer wieder die Frage nach dem WARUM zu erörtern. Lars liebte Fabienne und er bildete sich ein, dass sie ihn auch lieben müsse. Punkt. Wenn man ihm diese wahnsinnige Liebe herausschneiden könnte, hätte Bianca gerne die Rechnung für die Operation bezahlt.
Sie sprachen über Fabiennes nächste Ausstellung und über Biancas Lehrgang. Die junge Künstlerin entspannte sich sichtbar und so reagierte sie freundlich, als sie auf dem Weg zur Toilette mit einem attraktiven Mann zusammenstieß: Sie lachte ihn an und sein Herz machte einen Sprung.
„Na so ein Zufall“, sagte er danach zu Bianca, die allein am Tisch zurückgeblieben war und auf ihrem Handy tippte.
Sie sah auf und wusste sofort, dass es der Mann vom Parkplatz war, der sie auf das defekte Licht aufmerksam gemacht hatte.
„Die Welt ist manchmal sehr klein“, erwiderte sie höflich.
„Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?“
„Nein danke, das ist nicht nötig, meine Freundin ist nochmal auf der Toilette und danach brechen wir auf.“
„Schade. Dann warten wir eben auf den nächsten Zufall.“
Er drehte sich einfach um und ging davon. Bianca blickte ihm nach und fühlte sich unbehaglich. Irgendwas an diesem Mann war falsch, obwohl er sehr gut aussah und einen netten Eindruck machte.
„Wer war das denn?“, fragte Fabienne und starrte ihm fasziniert hinterher. „Kennst du ihn?“
„Keine Ahnung, wer er ist, aber wir sind uns letztens nach dem Lehrgang auf dem Parkplatz begegnet, wo er mich auf eine defekte Rückleuchte aufmerksam gemacht hat.“
„Schade“, seufzte Fabienne, „so ein schöner Mann. Aber du brauchst ja keinen anderen Mann, du hast Michael. Ich würde mich sehr gerne verlieben, aber dieser bescheuerte Lars hat mir alles verdorben.“
„Soll ich ihn wieder an den Tisch rufen?“, fragte Bianca lachend.
Fabienne winkte ab, dann zogen sie sich an und verließen die Weinstube. Draußen startete der schwarze Wagen und folgte ihnen bis zu Fabiennes Haus.
„Gute Nacht, schließ alles gut ab. Oder soll ich noch mitkommen?“
„Nein, lass mal, ich haue ihm eine rein, wenn er irgendwo herumlungert. Ich bin gerade in Stimmung. Gute Nacht.“
5
„Haben Sie schon Hinweise auf den Täter?“, fragte Dr. Hans-Martin Rosenschuh, der neue Staatsanwalt.
„Nein“, erklärte Michael und zuckte mit den Schultern.
„Und wann gedenken Sie mir ein paar Hinweise zu präsentieren?“
„Wenn ich welche habe“, knurrte der Kommissar.
Er mochte den Staatsanwalt nicht, denn der benahm sich eher wie ein Beamter vom Ordnungsamt. Ständig zitierte er Paragraphen oder Verordnungen. Anscheinend kannte er sie alle auswendig.
„Herr Verskoff, ich bitte mir ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit aus! Eine junge Frau ist tot und Sie brummen hier nur herum. Was wissen wir denn schon?“
Michael fasste das Wenige zusammen, was sie ermittelt hatten und beobachtete, wie das Gesicht seines Gegenübers immer düsterer wurde.
„Hatte sie nun einen Freund oder nicht?“, fragte Hans-Martin Rosenschuh aufgebracht.
„Benedikt hat die Eltern ausgefragt und ja, sie hatte vor über einem Jahr einen Freund, aber anscheinend war das eine ganz geheime Sache. Vielleicht war er verheiratet und die Tote wollte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen.“
„Na gut, nein, natürlich nicht gut. Es ist bereits eine Woche her und Sie haben nichts, aber auch gar nichts. Der Chef hätte Sie vielleicht doch besser versetzen sollen.“
Mit einem süffisanten Lächeln drehte er sich um und verließ das Büro. Michael nahm die Akte und warf sie ihm hinterher. Der blaue Ordner klatschte gegen die Tür und fiel wie ein Stein zu Boden. Der Inhalt ergoss sich über den grauen Teppich. Michael seufzte, erhob sich und sammelte die Unterlagen wieder ein. Dann rief er Bianca an und erzählte ihr vom Auftritt des Staatsanwaltes.
„Mein armer Schatz, das tut mir leid. Es ist Mittag, komm, wir fahren irgendwo essen und überlegen, wer die junge Dame getötet haben könnte.“
Michael lächelte nun wieder, griff nach seiner Jacke und traf sich am Auto mit Bianca. Er schaute sich um, fühlte sich unbeobachtet und küsste sie liebevoll.
„So ein Arsch. Ich will Nele zurückhaben. Was bildet der sich ein? Denkt der, wir sitzen nur rum und drehen Däumchen?“
„Ja, genau das denkt er und im Falle von Benedikt hat er vielleicht recht? Wo ist der Typ schon wieder?“
„Ich habe keine Ahnung. Aber wenn er sich mal wieder blicken lässt, frage ich ihn.“
Lachend stiegen sie ein, fuhren an den Rhein und bestellten sich ein üppiges Mittagessen. Danach küsste Michael Bianca abermals und sie liefen ein Stück an Rheinufer entlang. Auf einer Bank setzten sie sich und unterhielten sich über den Fall. Gerade schaute die Sonne zwischen den Wolken hervor. Bianca sehnte sich nach dem Frühling und schmiegte sich an Michael.
„Dorothee hat gesagt, dass sie manchmal ein sehr attraktiver Mann abgeholt hat. Ob das der war, mit dem sie zusammen war? Wir vermuten, dass er verheiratet war.“
„Hm“, sagte Bianca, „wenn ich einen verheirateten Liebhaber hätte, würde ich ihm nicht erlauben, mich auf der Arbeit zu besuchen. Und dieser Mann würde sich mit mir auch nicht in der Öffentlichkeit zeigen. Vielleicht gibt es einen zweiten Mann. Oder sie hat ihn aus einem anderen Grund nicht den Eltern und der Freundin vorgestellt. Gibt es eine Beschreibung?“
„Dunkle kurze Haare, braune oder blaue Augen, gepflegter Dreitagebart, sportlich und schlank, gut gekleidet. Aber so sehen viele Männer aus. Dorothee hat ihn nur aus der Ferne gesehen.“
Bianca lachte jetzt und sagte: „Deine Dorothee muss ich mir bei Gelegenheit mal ansehen. Sie scheint dich ja mächtig beeindruckt zu haben.“
„Süße, du bist doch nicht etwa eifersüchtig? Dorothee hat mir unaufgefordert einen Kaffee gemacht und dann versuchte sie mich zum Lesen zu bewegen, obwohl ihr Laden kein Buchladen ist. Sie liebt Bücher und flüchtet mit ihnen in ferne Welten. Ich glaube, ich wäre ihr als Mann viel zu real. Du musst keine Sorge haben, aber ich stelle sie dir gerne mal vor. Du kannst dann in ihre Seele schauen und findest heraus, was sie vorhat.“
„Ich bin gespannt. Aber eines ist richtig: Die Beschreibung passt auf viele Männer. Gerade der Bart ist aktuell absolut in Mode.“
„Soll ich meinen wieder wachsen lassen?“
„Nein, ich mag dich so, wie du bist. Glatt und sanft.“
Sie küsste Michael zärtlich auf die Wange. Dann fiel ihr etwas ein.
„Der Typ, der mich wegen des Lichtes angesprochen hatte, sah auch so aus. Wir haben ihn gestern Abend in der Winzerstube getroffen und er hat Fabienne gut gefallen. Wollen wir sie verkuppeln?“
„Ich glaube nicht, dass sich deine Freundin verkuppeln lässt. Aber dieser Mann … ähm … was hat er da gemacht?“
„Jetzt bist du eifersüchtig? Ich weiß nicht, was er dort gemacht hat, wir haben ihn erst entdeckt, als wir gehen wollten.“
„Wir sind dann wohl quitt: Dorothee gegen den schönen Unbekannten.“
Nach ihrer Rückkehr ins Büro saß dort Benedikt am Computer und starrte auf den Bildschirm.
„Kommt mal her, schnell!“, rief er, ohne seinen Blick von den Bildern zu lösen.
Bianca und Michael gingen um den Schreibtisch herum und sahen Benedikt über die Schulter. Er hatte ein Programm aufgerufen, mit dem man Phantombilder erstellen konnte. Bianca blickte in das Gesicht des schönen Unbekannten, auch wenn es vereinzelte Fehler enthielt. Sie war zusammengezuckt.
„Wer ist das?“
„Das ist der, der Sophia am Café abgeholt hat. Ich war in jedem Laden und habe an jeder verdammten Haustür geklingelt. Tatsächlich hat ihn ein älterer Herr genauer gesehen. Der Opa saß direkt an der Tür und als dieser Mann hereinkam, lächelte Sophia nach seinen Angaben total verliebt. Opa dachte sich: Die müssen ein Paar sein. Soll ich ihn herholen lassen oder willst du hin?“
„Er hat doch nicht rumgesessen und Däumchen gedreht, sondern gearbeitet“, sagte Bianca. „Erstaunlich.“
Michael lachte und sah dabei Benedikt an, der wieder einmal gar nichts verstand. Der junge Mann war in seiner Naivität kaum zu toppen und verschwand manchmal stundenlang, aber merkwürdigerweise tauchte er immer mit handfesten Ergebnissen wieder auf.
„Gut gemacht!“, lobte Michael. „Ich möchte, dass wir zusammen nochmal dorthin fahren. Was denkst du, ob er es war?“
„Ob er was war? Der Sophia umgebracht hat? Solange wir das Motiv nicht kennen, ist alles reine Spekulation. Also dann, Chefin, wir sind weg!“
Bianca lachte schallend über den eifrigen, frechen Kerl und winkte ihnen nach. Auf der Treppe nach oben traf sie Jürgen.
„Was gibt es Neues von der Chef-Front?“
„In drei Wochen ist der vorletzte Lehrgang. Ich bin froh, wenn das vorbei ist und ich euch endlich herumkommandieren kann.“
„Liebe Kollegin, ich kann mir keinen besseren Kommandeur vorstellen. Komm mal mit in mein Büro, dann bekommst du einen Kaffee und wir reden über den Fall.“
Bianca folgte Jürgen und setzte sich mit ihm an den Schreibtisch. Er kochte frischen Kaffee und kramte aus der Schublade eine Tafel Schokolade hervor. Diese zerbrach er in kleine Stückchen und ließ sie auf einen Teller rieseln. Bianca stieg der Duft in die Nase und sie überlegte, wie lange sie keine Schokolade mehr gegessen hatte.
„Das tut jetzt gut, danke! Hat der Täter DNA hinterlassen oder vielleicht ein einzelnes Haar?“
„Schön wäre es, aber es war windig. Ein Haar hätte der Wind mitgenommen. Es gibt einen winzigen Fussel aus schwarzer Baumwolle. Mehr nicht. Er hat eine Jacke oder Handschuhe oder einen Pullover oder eine …“
„Hör auf! Mist, Baumwolle trägt heute jeder. Aber dieses einfache Material passt nicht zu dem Mann, der vielleicht ihr Freund war. Benedikt hat ein Phantombild angefertigt“, erklärte Bianca. „Der ist richtig gut.“
„Ich dachte erst, er ist ein Komödiant, der nur einen auf Polizist macht, aber ich glaube, er tut nur so albern, damit ihm keiner in sein schlaues Köpfchen schauen kann. Einen Verdächtigen würde sein Verhalten auf jeden Fall dazu bringen, ihn zu unterschätzen.“
„Damit hast du sicher recht. Danke für den Kaffee und den Fussel.“
Sie lief hinüber in ihr Büro und rief Michael an, um ihm von Jürgens Entdeckung zu berichten.
6
Er steckte die weiße Maske in die Jackentasche und lächelte seinem Spiegelbild zu. Dann drehte er sich um und verließ das Haus. Mit seinem schwarzen Auto machte er sich auf den Weg nach Kiedrich, wo er nahe einer Einfamilienhaussiedlung in den Weinbergen anhielt.
Im Schutz der einbrechenden Dunkelheit schlich er an einer Hecke entlang, bis er das Haus genau im Blick hatte. Der Zufall wollte es, dass die Seitentür zur Garage offenstand, die er jetzt betrat. Ein roter Kombi parkte in der Mitte der braunen Fliesen, Gartengeräte waren in einem Plastikschrank zu sehen, auch alle anderen Dinge, die man so in einer Garage abstellte, waren ordentlich in Regalen aufgereiht. Er versteckte sich in der Ecke hinter dem Schrank und verharrte regungslos. Der Mann hatte das Haus eine Zeit lang beobachtet und kannte den Tagesablauf der Familienmitglieder.
Maja Fringholm telefonierte mit ihrem Mann, der noch bei der Arbeit auf dem Weingut seiner Eltern war. Er war Winzer, die zweijährige Tochter Charlien war am Vormittag mit ihrem Vater dorthin gefahren. Die Oma betreute das kleine süße Mädchen, bis Maja nach der Arbeit zu ihnen stieß, um ihrem Mann und den Schwiegereltern zu helfen.
„Ach, Clemens, ich habe doch gesagt, dass ich das alles bestellt haben. Nun mach bitte nicht so ein Theater. Es wird sich zeigen, dass ich recht habe. Ich bin auf dem Weg. Wenn du mal aufhören würdest zu schreien, dann könnte ich schon längst im Auto sitzen.“
Am anderen Ende wurde gesprochen.
„Ja, das habe ich besorgt. Und jetzt lege ich auf. Bis gleich.“
Maja schnaufte wütend, denn ihr Mann hatte sie beschuldigt, eine wichtige Bestellung vergessen zu haben.
„Der soll froh sein, dass ich neben meinem Job überhaupt noch mitarbeite“, grollte sie vor sich hin.
Sie hatte eben die Einkäufe im Kühlschrank verstaut und rannte hoch ins Bad, wo sie sich auf die Toilette sinken ließ. Irgendwie habe ich immer Pech mit den Männern, dachte sie. Seit zwei Jahren waren sie verheiratet und bis dahin war Clemens nett und freundlich gewesen. Nach ihrer Hochzeit und der Geburt vom Charlien hatte sich einiges verändert. Er war schroff, kommandierte sie herum und seit Wochen war es zu keinen Zärtlichkeiten mehr gekommen. Ihr Leben bestand nur noch aus Arbeit und Kinderbetreuung. Vormittags arbeitete sie in einem Steuerbüro, dann kümmerte sie sich um Haushalt und Kind und abends war sie bis zum Umfallen im Weingut beschäftigt.
Die Eltern von Clemens hatten ihrem Sohn die Geschäftsführung übertragen und hätten es auch gerne gesehen, wenn sie dort eingezogen wären, aber die kleine Familie wohnte in einem Einfamilienhaus am anderen Ende des Ortes. Maja war froh darüber, konnte sie doch so manchmal abschalten. Die Kleine war oft und gerne bei ihrer Oma, aber irgendwie schaffte es die Mutter von Clemens immer, ihr ein schlechtes Gewissen einzureden.
Sie sagte fast jeden Abend mit vorwurfsvollem Blick: „Du brauchst doch diesen Bürojob gar nicht, hier gibt es genug Arbeit. Du solltest meinen Sohn wirklich mehr unterstützen.“
Maja musste sich dann jedes Mal eine böse Antwort verkneifen, aber sie wollte die angespannte Situation nicht noch schlimmer machen. Jetzt bediente sie die Spülung und wusch sich die Hände.
„Hör auf zu jammern“, forderte sie ihr Spiegelbild über dem Waschbecken auf. „Du hast es so gewollt.“
Seufzend ging sie hinunter, griff mit beiden Händen den schweren Einkaufkorb mit den Dingen, die ihre Schwiegermutter bestellt hatte und schleppte ihn zum Auto. Als sie vorher alles ins Haus getragen hatte, um es in zwei Teile zu sortieren, hatte sie die Seitentür der Garage offengelassen. Nun stemmte sie ihren Fuß dazwischen, schob sie ganz auf und trug den Korb zum Kofferraum. Sie stellte ihn auf den Boden, um nach dem Autoschlüssel zu suchen. Es klickte kurz, die Rücklichter blinkten und Maja öffnete die Klappe.
Stöhnend wuchtete sie den Korb über den Rand und wollte sich gerade den Schweiß von der Stirn wischen, als sich eine Schlinge um ihren Hals legte. Entsetzt versuchte sie, das weiße Seil wegzuziehen, aber der Angreifer riss mit einer Hand ihre Arme herunter. Er drückte weiter zu und presste seinen Körper gegen ihren, sodass sie beinahe in den Kofferraum fiel. Ihre Kraft ließ nach, sie bekam keine Luft und der Schrei, der aus ihrem verängstigten Körper wollte, erstarb mit einem Stöhnen. Sie spürte, wie ihre Beine nachgaben, dann wurde es dunkel um sie herum.
Der Mann ließ den leblosen Körper auf den Boden sacken, hob die tote Frau aber schnell hoch und packte sie in den Kofferraum. Leise drückte er den Deckel zu und verschwand eilig aus der Garage. Er vergewisserte sich, dass niemand auf der Straße war, nahm die Maske ab, steckte sie in die Tasche und lief zu seinem Auto zurück, wo er sich auf den Sitz fallenließ.
„Zwei.“
7
Clemens Fringholm hatte ein paar Minuten später wütend auf die Uhr geschaut.
„Wo bleibt die denn? Ich habe langsam die Nase voll von dieser Frau!“
Er warf den Karton, den er soeben ausgeleert hatte, auf den Boden und wühlte in seiner Hosentasche nach dem Handy. Am anderen Ende läutete es, aber niemand nahm ab.
„Na hoffentlich geht sie nicht dran, weil sie am Fahren ist!“
Weitere zehn Minuten später war Maja immer noch nicht im Weingut angekommen.
Clemens lief ins Haus und fuhr seine Mutter an: „Weißt du, wo Maja so lange herumtrödelt? Sie wollte gleich kommen, aber das ist schon eine Stunde her.“
Charlien fing zu weinen an, weil ihr Vater die Oma so böse angeredet hatte. Irma Fringholm setzte das Mädchen von ihrem Schoß, wo sie gerade ein Bilderbuch angesehen hatten, auf den Boden.
„Mein lieber Sohn, jetzt denke mal darüber nach, wie du mit deiner Mutter sprichst! Du bist schuld, dass die Kleine jetzt weint. Was ist denn los?“
„Maja trödelt wieder herum und ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht vor Arbeit.“
„Hast du mal angerufen?“
„Ja, Mutter, was dachtest du denn?“
Charlien war zu ihrer Oma gekrabbelt und schlang die Arme um ihre Knie. Als Irma sie hochnahm, hörte sie auf zu weinen.
„Dann ist sie unterwegs und beim Fahren kann sie ja schlecht telefonieren. Also sei geduldig. Sie wird gleich da sein.“
Clemens dachte nicht im Traum daran, dass seiner Frau etwas passiert sein konnte, darum wurde er immer wütender. Er lief im Wohnzimmer auf und ab und fluchte vor sich hin. Seine Mutter saß wieder auf der Couch und blätterte mit Charlien im Bilderbuch. Nun sah sie hoch und schüttelte den Kopf.
„Nimm das Auto und fahre heim. Es macht mich ganz irre, wenn du hier herumrennst. Vielleicht hat Maja eine Panne oder sie ist hingefallen.“
„Pah! Die kann was erleben. Sicher sitzt sie vor dem Fernseher und trinkt Kaffee oder tratscht am Festnetz mit ihrer dämlichen Freundin Sina. Ich bin gleich wieder da.“
Er rannte aus dem Haus, setzte sich ins Auto, raste heim und wunderte sich, dass alles ruhig und dunkel war. Das Garagentor war geschlossen und Majas roter Kombi nirgends zu sehen. Clemens parkte vor dem Tor und schloss das Haus auf. Drinnen war es dunkel, die Einkäufe lagen ordentlich verstaut im Kühlschrank. Er lief hinaus und betrat die Garage durch die Seitentür. Verdutzt schaute er auf das Auto.
„Was soll das denn? Wo ist die Alte hin?“
Er drehte sich um, lief zurück ins Haus und riss im Laufen das Handy heraus: „Sie ist nicht zuhause und das Auto steht in der Garage. Mutter, ich glaube, die hat sie nicht mehr alle und ist abgehauen.“
„Komm wieder her, dann reden wir.“
Er legte auf, setzte sich in sein Auto und fuhr zurück zu seinen Eltern, die jetzt ratlos zusammen im Wohnzimmer saßen. Rupert Fringholm, der Vater von Clemens, hatte ein Glas Wein in der Hand und bereitete seinen Feierabend vor, Irma spielte mit Charlien.
Clemens stürmte herein und ließ sich auf den Sessel fallen.
„Von wegen Panne oder etwas passiert! Die treibt sich bestimmt mit ihrer Freundin irgendwo herum oder sie lässt sich von ihrem Ex vögeln.“
„Aber Clemens, doch nicht vor dem Kind!“, rügte ihn seine Mutter.
„Ach was, wer weiß, ob das überhaupt mein Kind ist.“
Sein Vater räusperte sich und sagte ernst: „Also jetzt reicht es. Ruf die Polizei an und gib eine Vermisstenanzeige auf. Wenn man sie nun entführt hat?“
Clemens lachte seinen Vater aus und erwiderte: „Die bringen sie direkt wieder zurück. Mir egal, dann ist sie eben abgehauen. Die wird schon merken, was sie verliert. Ich mache jetzt Feierabend und fahre heim. Aber ich werde nicht nach ihr suchen, sondern schön Fußball gucken und mich ausruhen. Kann Charlien bei euch bleiben?“
Seine Mutter nickte und drückte das kleine Mädchen liebevoll an sich. Clemens stand auf und stapfte hinaus.
Zuhause ging er zuerst in die Küche, holte ein Weinglas und goss es randvoll. Er stürzte den Riesling in einem Zug herunter, goss nach und lief hinüber ins Wohnzimmer, wo er den Fernseher einschaltete. Und nun tat er das, was seine Frau immer hasste: Er zog seine Socken aus und warf sie auf den kleinen Tisch. Dann legte er sich auf der Couch zurecht.
Mitten im Fußballspiel läutete das Festnetztelefon und Clemens nahm schnaufend ab.
„Was?“, blaffte er in den Hörer.
„Hier ist Sina. Ist Maja da?“
„Nein, ist sie nicht. Und wenn sie da wäre, würde ich sie dir auch nicht geben.“
„Oh Mann, Clemens, was ist denn dein Problem? Maja wollte mich vor einer Stunde anrufen, um mir zu sagen, ob wir morgen gemeinsam zur Arbeit fahren. Das sprechen wir immer ab, also gib sie mir.“