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Als er im Mühldorfer Hart eintraf, blickte er sich erschrocken um. Das war alles, was bisher gebaut wurde? Die Anlage befand sich noch mitten im Bau und nichts deutete darauf hin, dass hier in Kürze Flugzeuge gebaut werden konnten. Nur sieben der zwölf geplanten Außengewölbe waren bisher fertig. Noch bevor Demmelhuber mit einem Verantwortlichen sprechen konnte, fuhren mehrere Lkw vor. Es folgte eine hektische Betriebsamkeit, die er nicht verstand.
„Was ist hier los?“, fragte er einen Gefreiten.
„Die Amerikaner sind nicht mehr weit weg. Hier wird alles evakuiert.“
„Und was ist mit der Produktionsstätte? Was ist mit der Me262?“
„Hast du es immer noch nicht verstanden? Der Krieg ist vorbei! Sieh zu, dass du dich in Sicherheit bringst!“
Demmelhuber konnte es nicht fassen. War wirklich alles zu spät? Gab es für das Deutsche Reich keine Hoffnung mehr? Was würde werden? Ging jetzt alles in Feindeshand über? Nein! Das konnte und durfte nicht sein! Die vielen Opfer konnten nicht umsonst gewesen sein. Er suchte nach einem Verantwortlichen, um diesen Wahnsinn hier zu beenden. Die Me262 musste gebaut werden, er hatte doch das Serum und die Liste mit den Inhaltsstoffen! Für einen Mann mit chemischen Fachkenntnissen dürfte die Herstellung des Serums eine Kleinigkeit sein.
Niemand wollte mit ihm sprechen, alle wimmelten ihn ab. Er fand ein Telefon und brauchte mehrere Anläufe, bis er endlich eine Verbindung nach Berlin bekam. Wiederholt verlangte Demmelhuber, einen Verantwortlichen zu sprechen.
„Verstehen Sie nicht?“, schrie der Mann ihn an. „Hier ist niemand mehr, alle sind abgehauen oder haben sich ergeben.“
„Ergeben?“
„Die Russen sind in Berlin, die Amerikaner und Engländer haben bereits große Teile des Deutschen Reiches besetzt. Der Krieg ist vorbei.“
Jetzt hatte Demmelhuber endlich verstanden. Resigniert legte er auf und beobachtete das Chaos um sich herum. Sollte er nicht einfach auf einen der Lkw aufspringen? Nein! Auch für ihn war der Krieg vorbei. Er setzte sich in den Wagen, startete, aber er kam nur wenige Meter weit. Der Tank war leer. Hier in diesem Chaos Sprit zu finden, war zwecklos. Er beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen. Nur eine Stunde trennte ihn von seinen Lieben.
Ihm ging es immer schlechter. Er begann, stark zu schwitzen. Der Ausschlag hatte sich über den Körper ausgebreitet. Sein Körper juckte fürchterlich und die dicken Pusteln begannen zu nässen. Seit er losgelaufen war, musste er sich mehrfach übergeben.
Demmelhuber kam nicht weit. In einem Waldstück des Mühldorfer Harts hielt unweit ein Jeep: Die Amerikaner waren bereits hier! Nein, das waren Engländer! Er musste nicht nur sich selbst, sondern vor allem das Serum und die Liste der Inhaltsstoffe in Sicherheit bringen. Trotz seiner zunehmenden Schwäche rannte er los, aber zwei Uniformierte liefen ihm hinterher; auch der Jeep folgte ihm. Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich rasch. Nicht mehr lange, und sie hatten ihn. Das Serum und die Liste durften nicht in Feindeshand gelangen. In Berlin bekam er den Befehl, beides mit seinem Leben zu verteidigen. Und Befehl war Befehl. Wohin damit? Mit zitternden Händen öffnete er die Mappe und riss die wichtige Seite heraus. Dann nahm er den Glasbehälter aus dem Lederetui und wickelte ihn aus den Tüchern. Er steckte nur die eine Seite und das Serum ein, alles andere warf er in hohem Bogen weit von sich. Es war ihm klar, dass die Verfolger ihn beobachteten, darauf hatte er es abgesehen.
„Das muss er sein,“ rief Captain Monroe zu seinen Männern. Er hatte es sich persönlich zur Aufgabe gemacht, Demmelhuber und dieses wahnsinnige Vorhaben zu stoppen. „Hinterher, Männer!“ Er selbst fuhr den Jeep und ließ Demmelhuber nicht mehr aus den Augen. Er lenkte den Jeep waghalsig durchs Gelände und riskierte einen Unfall. Das war gleichgültig. Sollte Demmelhuber das Serum bei seiner Flucht verlieren, waren sie sowieso alle dem Tod geweiht, das wussten er und seine Kameraden, als sie sich freiwillig meldeten. Monroe beobachtete, wie Demmelhuber die Tasche weit von sich warf. Sie war offen und der Inhalt verteilte sich übers Gelände. „Dort hinten! Holt die Tasche und sammelt den Inhalt ein!“, befahl Monroe.
„Was ist mit dem Deutschen?“, rief der junge Corporal Johnson.
„Erst die Unterlagen! Den Mann kriegen wir später!“
Während die Engländer die Tasche und den Inhalt einsammelten, rannte Demmelhuber weiter. Wohin mit der Liste und dem Serum? Er konnte sie nicht einfach im Wald verstecken, das war zu gefährlich. Die Verfolger würden jeden Zentimeter absuchen und würden beides finden. Er musste sich dringend etwas einfallen lassen. Dann sah er ein Marterl mit einer Marienfigur. Wann wurde diese aufgestellt? Und vor allem warum? Er wusste, dass viele dieser Marterl an Stellen aufgestellt wurden, an denen Familienmitglieder verunglückten. Einige wurden auch aus Dankbarkeit oder als Fürbitten aufgestellt. Der Unterschied war wichtig, denn wenn dieses Marterl für einen Verunglückten errichtet wurde, könnte die Figur hohl sein. Das wusste er von dem Marterl, das sich auf dem Grundstück seiner Großeltern befand, das im Jahr 1832 nach einem tödlichen Unfall eines Kindes errichtet wurde. Die Figur an dem Marterl war hohl, wovon er durch Zufall Kenntnis bekam. Man gab damals persönliche Dinge oder Andenken in den Hohlkörper, was aber in den letzten Jahrzehnten nur noch selten gemacht wurde.
Wie alt war diese Figur da vorn? Das war jetzt nicht wichtig. Er riss die Figur vom Sockel und schüttelte sie. Er drehte und drückte an der Figur, sie war jetzt seine einzige Rettung. Die Engländer hatten seine Spur wieder aufgenommen und kamen näher. Dann spürte er, wie der Fußteil der Marienfigur nachgab. Hektisch drehte er solange, bis das Teil ab war. Die Figur war tatsächlich hohl! Er nahm die verschiedenen Andenken aus der Figur und steckte sie in seine Jackentasche. Dann stopfte er die Liste und das Serum in den Hohlkörper, beides fand gerade so Platz darin. Rasch stellte er die Marienfigur zurück an ihren Platz. Hatten die Engländer gesehen, was er gemacht hatte? Darum kümmerte er sich nicht, sondern rannte weiter.
Captain Monroe war wütend. Genau die Seite, die wichtig war, wurde herausgerissen. Auch das Serum hatten sie nicht gefunden. An dem Befehl und den Anweisungen zum Bau der Bombe war er nicht interessiert. Sein Interesse galt einzig und allein der Anleitung und dem Serum, von dem er nicht wusste, welche Auswirkungen es hatte. Aufgrund des Lederetuis und der Tücher vermutete er, dass Demmelhuber beides immer noch bei sich trug. Dieser hinterlistige Teufel hatte sie getäuscht. Der verdammte Deutsche war sehr gerissen und hatte sich einen zeitlichen Vorsprung verschafft, den sie so schnell wie möglich aufholen mussten. Noch vermutete er die Pläne und das Serum bei Demmelhuber. Er würde nicht so dumm sein, beides im Wald zu verstecken. Es würde ein Leichtes werden, beides zu finden.
Endlich hatten sie ihn aufgespürt und näherten sich ihm. Seine Kräfte schwanden.
Mehrmals versuchte Monroe, ihn zum Aufgeben zu bewegen und kramte alle deutschen Worte aus seinem Gedächtnis, die ihm einfielen. Aber Demmelhuber reagierte nicht.
Sebastian Demmelhuber konnte nicht mehr. Er blieb völlig entkräftet stehen und drehte sich zu den Verfolgern um. Wie konnte er die Engländer davon abhalten, ihn nicht einfach abzuknallen? Es war Krieg und niemand würde sich für seinen Tod interessieren. Er griff in die linke Jackentasche, wo er das Foto seiner kleinen Tochter immer aufbewahrte. Er wollte es hochhalten und damit die Engländer besänftigen.
Während Monroe das Foto als solches erkannte, verstand Johnson die Geste falsch. Er vermutete, dass der Deutsche nach seiner Waffe griff, zog seine Waffe und schoss auf Demmelhuber. Der brach tot zusammen.
Erst jetzt erkannten die Engländer Demmelhubers Zustand und waren schockiert. Der Mann sah furchterregend aus, das Gesicht war eine einzige Fratze. Alle hielten sich sofort Tücher vors Gesicht.
„Keiner fasst die Leiche an. Zurück!“, befahl er. „Sofort!“
Monroe geriet in Panik. Demmelhuber musste sich infiziert haben. Monroe musste schnell handeln, vielleicht war es für ihn und seine Kameraden noch nicht zu spät. Er holte den Benzinkanister vom Wagen und begoss die Leiche damit. Monroe suchte in seiner Jacke nach einem Feuerzeug. Das dauerte Johnson zu lange. Er warf seine eben angezündete Zigarette auf die Leiche, die sofort in Flammen aufging. Die Gerüchte um das Serum waren also wahr. Aber um was ging es genau? Hatten sie sich bei ihm angesteckt? Sofort nach ihrer Rückkehr mussten sie sich untersuchen lassen, aber das musste warten. Hatte Demmelhuber die Pläne und das Serum bei sich? Wenn ja, wäre jetzt beides vernichtet. Konnten sie sich darauf verlassen?
Mehrmals gingen sie den Weg ab, den Demmelhuber gegangen war. Hier war nichts.
„Verlieren wir keine Zeit, Männer. Ich rufe Verstärkung. Sollen die sich alles nochmals vornehmen und jeden einzelnen Stein umdrehen.“ Monroe war besorgt. Er hatte nicht nur Angst um seine Gesundheit, sondern war auch für die seiner Kameraden verantwortlich. Als die Verstärkung in Schutzanzügen eintraf, machten sich er und seine Männer auf den Weg zum Arzt, der sie lange untersuchte. Alle waren im Moment in blendender Verfassung, niemand hatte sich augenscheinlich angesteckt. Der Arzt bestand darauf, dass Monroe und seine Männer in Quarantäne blieben, bis wirklich ausgeschlossen werden konnte, dass sie erkrankt waren.
Mehrere Tage durchkämmten die Engländer mit Unterstützung der Amerikaner das ganze Gebiet um den Toten. Weder das Serum, noch die Pläne dafür konnten gefunden werden. Alle trösteten sich damit, dass alles in Flammen aufging. War das so? Keiner konnte sich wirklich sicher sein.
2.
Über 70 Jahre später…
Die Mühldorfer Kriminalbeamten diskutierten über die Anweisung von Rudolf Krohmer, dem Leiter der Polizeiinspektion Mühldorf am Inn. Da kein aktueller Fall vorlag, sollten alte Fälle überarbeitet werden.
„Sie kommen immer wieder mit demselben Mist daher,“ maulte Hans Hiebler. Der 55-Jährige hasste stupide Büroarbeit und hatte keine Lust darauf, staubige Akten zu wälzen, während sich draußen noch die letzten warmen Tage des ansonsten so traurigen Sommers ankündigten. Die Aussicht darauf, die wenigen sonnigen Tage im Büro zu verbringen, demotivierten ihn.
„Hans hat Recht,“ sagte Leo Schwartz. Auch der 51-jährige gebürtige Schwabe hatte keine Lust auf die Arbeit.
„Ich darf doch sehr bitten!“, sagte Krohmer ernst, wobei er einen verächtlichen Blick auf Leos T-Shirt warf. Über die Abbildungen von Rockbands hatte er sich längst gewöhnt, aber diese Freiheitskämpfer in den letzten Wochen, deren Konterfei von knallbunten Symbolen unterstrichen wurden, kränkten seine Augen.
„Ich habe gehört, dass die Kollegen einen interessanten Fall bearbeiten,“ sagte Werner Grössert, der nichts gegen Aktenarbeit einzuwenden hatte. Allerdings interessierte ihn das, was er vorhin auf dem Flur aufgeschnappt hatte, sehr viel mehr. „Es geht um Diebstahl und Schmuggel von Heiligenfiguren, die vermehrt in unserer Gegend auftreten. Wir sollten die Kollegen unterstützen,“ sagte der 40-Jährige voller Überzeugung. Wie immer trug Werner Grössert einen modischen Anzug mit Hemd, Weste und Krawatte und hob sich rein optisch sehr von Leo und Hans ab, die hauptsächlich in bequemer Freizeitkleidung zum Dienst erschienen. Warum auch nicht?
„Um was geht es dabei?“, wandte sich Leo an seinen Vorgesetzten.
„Es stimmt, was Herr Grössert sagte. Eine Diebesbande hat sich offenbar darauf konzentriert, Heiligenfiguren zu klauen, wobei das Material nicht wichtig zu sein scheint. Die Diebstähle betreffen nicht nur unsere Gegend, die Bande agiert im gesamten süddeutschen Raum. Ich habe mit meinen Kollegen gesprochen, die sich seit Monaten damit herumschlagen müssen.“
„Sind die Figuren so wertvoll, dass sich ein Diebstahl lohnt?“
„Nein, eben nicht. Das ist es, was den Fall so kompliziert macht. Es scheint auch völlig gleichgültig zu sein, wer dargestellt wurde. Ich hoffe, dass dieser Unsinn so schnell wie möglich aufhört. Es wird nicht mehr lange dauern und die Presse wird hellhörig. Können Sie sich vorstellen, was dann los ist?“, stöhnte Krohmer.
„Gerade deshalb sollten wir die Kollegen unterstützen,“ wiederholte Werner. Leo und Hans stimmten zu. Dieser Fall war sehr viel verlockender als trockene Aktenarbeit.
„Meinetwegen,“ brummte Krohmer.
„Wer bearbeitet den Fall?“
„Asanger und Stumpf.“
Leo stöhnte auf. Ausgerechnet Asanger! Mit ihm war er mehrfach aneinandergeraten, die beiden waren zu unterschiedlich. Tobias Asanger war 42 Jahre alt und wollte auf der Karriereleiter bis ganz nach oben kommen. Das war nicht verwerflich, wenn er dabei nicht so plump und hinterfotzig vorgehen würde. Er verkaufte Ideen und Erfolge anderer als seine eigenen. Dabei überging er Kollegen, die auch deshalb nicht scharf darauf waren, mit ihm zusammenzuarbeiten. Joachim Stumpf war aus ganz anderem Holz geschnitzt. Der 48-Jährige war immer höflich und hielt sich gerne zurück. Er war nicht fürs Rampenlicht geschaffen. Außerdem hatte Stumpf eine Vorliebe für warme Leberkäs-Semmeln, von denen sich der Junggeselle fast ausschließlich ernährte. Immer und überall musste man zur Nahrungsaufnahme anhalten. Metzgereien liebten Joachim Stumpf, aber Kollegen konnten irgendwann den Geruch von warmen Leberkäs-Semmeln nicht mehr ertragen. Asanger reagierte gereizt auf die Marotte seines Kollegen, was diesen aber nicht störte. Was blieb den beiden anderes übrig, als sich zusammenzuraufen? Niemand wollte mit ihnen zusammenarbeiten. Also lag es auf der Hand, dass sie irgendwie miteinander auskommen mussten.
Krohmer bat Asanger und Stumpf ins Besprechungszimmer. Auch jetzt hatte Stumpf eine Leberkäs-Semmel in der Hand. Deren Geruch griff schnell um sich und füllte den Raum. Nach wenigen Minuten knurrte Leos Magen. Er hatte heute verschlafen und noch nichts gegessen.
„Wie weit sind die Ermittlungen im Fall der Heiligenfiguren?“
„Bisher gibt es nicht viel,“ sagte Asanger und öffnete die dünne Akte. „Insgesamt wurden in den letzten vier Monaten in unserem Zuständigkeitsbereich 68 Figuren gestohlen.“
„68 Stück?“, rief Leo. „So viele? Alle aus Kirchen?“
„Natürlich nicht. Auch aus kleineren Kapellen, von Marterln und sogar aus Privathaushalten wurden diese Figuren gestohlen. Bevor die Bande bei uns zuschlug, agierte sie in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz.“
„Wie viele geklaute Figuren werden den Dieben bisher insgesamt zugerechnet?“
„527 im süddeutschen Raum. Und das sind nur die, die der Polizei gemeldet wurden. Wir gehen von einer sehr viel höheren Stückzahl aus. Vermutungen nach liegt die Zahl bei über siebenhundert Stück.“
„Es steht außer Frage, dass es sich um dieselben Täter handelt?“
„Ja. Die Diebe treiben ein Spielchen mit den Opfern und der Polizei. An jedem Ort, wo eine Figur geklaut wurde, hinterlassen sie ein Guatl, wobei der Geschmack variiert.“
„Ein was?“ Leo verstand kein Wort.
„Lernen Sie endlich bayerisch Herr Schwartz! Ein Guatl ist ein Bonbon. Hier sind einige Fotos.“
Tatsächlich sah man darauf verschiedene Bonbons.
„Konnten Sie die Spur der Bonbons verfolgen?“
„Keine Chance. Das ist Massenware und kann überall gekauft werden.“
„Was geschieht mit dem Diebesgut?“, wollte Werner wissen.
„Wir vermuten, dass sie verhökert werden. Was sollen die Diebe sonst damit machen? Verheizen? Einschmelzen?“ Asanger wollte einen Witz machen, aber er war der Einzige, der lachte.
„Amerikaner sind ganz scharf auf solche Volkskunst,“ sagte Werner unbeeindruckt. „Wir sollten den amerikanischen Markt im Auge behalten. Was ist mit dem Zoll? Paketdiensten? Internet?“
„Wir sind nur zu zweit. Wie sollen wir das alles bewerkstelligen?“
„Dann bekommen Sie jetzt Unterstützung von drei Kollegen. An die Arbeit. Sehen Sie zu, dass Sie den Fall so schnell wie möglich lösen.“
3.
Die Brüder Kevin und Torsten Kurowski waren ein eingespieltes Team. Die 30- und 32-jährigen Kleinganoven klauten seit geraumer Zeit alles Heiligenfiguren, die ihnen in die Finger kamen. Torsten hatte im Frühjahr letzten Jahres in seiner Stammkneipe ein Gespräch mit angehört, das ihn aufhorchen ließ. Die Männer am Nebentisch unterhielten sich über Reliquienkreuze, ein Wort, das er bis dato noch nie gehört hatte. Als er verstand, dass es sich dabei um Kreuze handelte, in denen Andenken an Verstorbene aufbewahrt wurden, wurde er euphorisch. Die Idee war genial! Allerdings dachte er nicht an Kreuze, sondern an Figuren. Er zog los und klaute einige dieser für ihn wertlosen Figuren, die fast an jeder Ecke standen. Einige waren hohl, wenige beinhalteten irgendwelchen Kram. Bei anderen war es eine Kleinigkeit, darin einen Hohlkörper zu schaffen. Dazu brauchte es nur jemanden, der handwerkliches Geschick besaß.
Torstens Freund Dominik war ein Genie auf dem Gebiet der Chemie. Im Keller seiner Eltern stellte er Crystal Meth her, das Torsten weiterverkaufte, da Dominik im Verkauf eine Niete war. Das Geschäft lief gut und Torsten konnte sich mit den Einnahmen gut über Wasser halten und sich ab und zu etwas gönnen. Aber Dominik nervte in den letzten Wochen mit seinen ständigen Bitten wegen dem Verkauf zu Kunden, die weit entfernt wohnten, einige davon sogar im Ausland. Von beidem ließ Torsten bisher die Finger und verkaufte nur in einem kleinen Radius um seinen Wohnort. Wie stellte sich Dominik das vor? Torsten hatte kein Auto, somit war er auf Lieferdienste angewiesen. Sollte er die Drogen einfach per Post verschicken? Das würde rasch auffliegen. Und dann noch Lieferungen ins Ausland. Wie sollte das funktionieren? Die Kontrollen an Grenzen waren durch die Flüchtlingsströme verschärft worden, persönlich würde er die heiße Ware nicht schmuggeln wollen. Aber wie sonst würde er die Ware ohne Schwierigkeiten ins Ausland bringen können? Heiligenfiguren waren eine Möglichkeit, die für den Schmuggel geradezu ideal wären. Er spann den Gedanken weiter. Er wusste, dass einige Pakete durchleuchtet wurden. Könnte man das irgendwie umgehen? Torsten konnte in der Nacht kaum schlafen, denn wenn das funktionierte, war er ein gemachter Mann. Er selbst war kein Handwerker, aber sein Bruder Kevin. Der war nicht der Hellste, aber handwerklich sehr geschickt, darin machte ihm so schnell niemand etwas vor. Sollte er den einfachen Charakter wirklich ins Vertrauen ziehen? Warum nicht?
Am nächsten Tag unterbreitete Torsten seinem Bruder die Idee. Der hörte ruhig zu, was sonst nicht seine Art war.
„Ich glaube, dass das funktionieren könnte. Man müsste die Figuren auskleiden. Besorg mir ein paar Heiligenfiguren. Gib mir Geld, ich muss Material besorgen.“
„Was hast du vor?“
„Das erkläre ich später.“ Torsten gab seinem Bruder Geld. Wie immer war Kevin pleite. „Morgen Abend treffen wir uns wieder. Dann werden wir sehen.“
Torsten brauchte nur zuzulangen. Heiligenfiguren standen in Süddeutschland in jedem Haushalt und beinahe an jeder Ecke, er brauchte sich nur bedienen.
Kevin wartete ungeduldig auf seinen Bruder. Als er Torstens Figuren entgegennahm, machte er sich sofort an die Arbeit. Einige Figuren waren nicht hohl, das war aber kein größeres Problem. Mit einem Fräser hatte er Aussparungen geschaffen, die er nun alle mit Blei verkleidete.
„Blei?“
„Das Material ist ideal. Es hat einen niedrigen Schmelzpunkt, ist leicht verformbar und hält jeder Kontrolle stand. Außerdem ist es so dicht, dass kein Geruch durchdringt. Drogenspürhunde haben da keine Chance.“ Kevin grinste stolz. Er wusste, was sein Bruder über ihn dachte: Er war für ihn nicht clever genug. Damit hatte er nicht gerechnet, das konnte er ihm vom Gesicht ablesen.
„Ich bin wirklich beeindruckt. Woher hast du das Blei?“
„Ich habe meine Kontakte,“ grinste Kevin, der vorsorglich einen Schutzanzug trug. Blei war giftig und er war nicht scharf darauf, zu erkranken oder draufzugehen.
„Woher hast du es?“, wiederholte Torsten.
„Ich werde dir meine Quelle nicht nennen, ich habe mein Wort gegeben. Was willst du eigentlich von mir?“
„Ich möchte nicht, dass wir wegen einer Unachtsamkeit auffliegen.“
„Das werden wir nicht. Denkst du, ich habe meinen Namen und meine Adresse angegeben? Ich bin doch nicht blöd.“ Kevin arbeitete sauber und ordentlich, Torsten war auch diesbezüglich beeindruckt. Wann hatte er seinen Bruder zuletzt so arbeiten sehen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Vier Figuren waren fertig ausgekleidet. „Hast du den Stoff dabei?“
„Klar.“ Torsten gab ihm das Tütchen mit Crystal Meth, von dem beide nichts nahmen. Sie hatten noch nie Drogen genommen, das hatten sie ihrer Mutter kurz vor ihrem Tod versprochen. Und daran hielten sie sich.
„Das geht problemlos rein. Hast du mehr?“
Drei weitere Tütchen verschwanden im Inneren der Figur. Torsten nahm die Figur und schüttete den Inhalt auf eine Waage.
„Da geht ordentlich was rein, das lohnt sich,“ freute er sich. Dasselbe machten sie auch mit den anderen Figuren. Unterschiedliche Mengen verschwanden im Inneren, wobei keine gering war. „Perfekt, das funktioniert! Jetzt müssen wir nur noch testen, ob das einer Durchleuchtung standhält.“
Der Onkel der beiden, Gerhard Kurowski, betrat den Keller.
„Was macht ihr da?“
Die Jungs erschraken. Onkel Gerhard war der einzige ihrer Verwandten, der immer zu ihnen hielt. Sie hatten Hochachtung vor dem Bruder ihrer verstorbenen Mutter, der es zu etwas gebracht hatte. Er kannte sich sehr gut mit Computern aus und arbeitete als IT-Spezialist. Kevin und Torsten waren sicher, dass ihr Onkel sehr gut verdiente, da er stets die neuesten Autos fuhr und immer Geld zu haben schien. Es kam nicht selten vor, dass er seiner Schwester Geld zusteckte. Nach deren Tod sah er immer wieder nach seinen Neffen und half auch ihnen finanziell aus.
Jetzt stand Onkel Gerhard vor ihnen und sah sie an. Wie sollten sie die Situation erklären? Sie zögerten. Dann entschieden sie, ihm die Wahrheit zu sagen. Gerhard war zunächst angewidert, aber dann schien er von der Idee begeistert.
„Du dealst mit diesem Teufelszeug? Wie lange schon?“
„Spielt das eine Rolle? Ich nehme nichts davon, auch Kevin nicht. Ich verdiene viel Kohle damit. Und mit dieser Idee könnten wir sehr viel mehr machen. Allerdings wissen wir nicht, ob das funktioniert.“
„Dann lasst es uns ausprobieren.“
„Du bist dabei?“
„Wir werden sehen. Vorher möchte ich testen, ob das Ganze funktioniert. Lasst etwas von dem Crystal Meth in der Figur.“
„Was hast du vor?“
„Ich möchte wissen, ob beim Durchleuchten des Paketes tatsächlich nichts gesehen wird und ob wirklich kein Geruch durchdringt. Denkt ihr, ich möchte im Gefängnis landen?“
„Das ist zu gefährlich, Onkel Gerhard. Wenn du auffliegst, haben dich die Bullen am Arsch.“
„Das lass mal meine Sorge sein.“
Gerhard Kurowski hatte Blut geleckt. Nachdem er nach vielen Jahren seinen gutbezahlten Job als IT-Spezialist quasi von heute auf morgen verloren hatte, brauchte er Geld. Sehr viel mehr, als ihm das Arbeitsamt zahlte. Das hier war eine Möglichkeit, sein Einkommen aufzubessern. Allerdings musste das ohne Risiko ablaufen. Er nahm eine der Figuren mit nach Hause und legte sie in ein Paket. Es war klar, dass er nicht den richtigen Absender angab. Nichts durfte auf ihn oder seine Neffen hindeuten. Dann gab er die Adresse eines Hotels in Prag an, zu Händen Herrn Müller. Sofort nach Aufgabe des Paketes fuhr er in dieses Hotel und wartete. Das Paket wurde am nächsten Tag ohne Probleme ausgeliefert. Das reichte Gerhard Kurowski noch nicht. Er fuhr mit dem Paket zum Zoll in Furth im Wald, das als Nächstes auf seinem Weg lag. Seine Geschichte musste plausibel klingen.
„Ich habe das Paket für einen Kollegen angenommen, der dies allerdings nicht wie vereinbart abgeholt hat. Da ich nicht weiß, was darin ist und ich mit dem Zoll oder der Polizei keine Schwierigkeiten bekommen möchte, bin ich hier. Ich habe das Paket im guten Glauben angenommen, ohne zu wissen, was es beinhaltet. Und dabei habe ich meinen guten Namen hergegeben. Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, denn ich möchte in keine dunklen Machenschaften hineingezogen werden. Ich möchte das Paket nicht öffnen, schließlich gibt es ein Postgeheimnis. Verstehen Sie, in welchem Dilemma ich stecke?“