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„Das sehe ich auch so. Gehen wir von einer sehr stark blutenden Verletzung aus. Wenn das Opfer sich notdürftig versorgt hat, wären die Spuren plausibel.“ Dann machte Fuchs eine Pause und sah sich hektisch um. „Wenn das Opfer aber so stark verletzt war, dass er sich nicht selbst helfen konnte oder sogar bereits tot war, suchen wir nach einer Möglichkeit, wie das Opfer aus dem Haus gebracht wurde.“ Fuchs war ganz in seinem Element. „Wir machen uns sofort an die Arbeit. Sorgen Sie dafür, dass alle das Haus verlassen, damit wir in Ruhe arbeiten können. Suchen Sie nach Personen, die sich im Haus auskennen. Nur die könnten bestätigen, ob etwas fehlt, falls wir nichts finden sollten.“
„Dazu bräuchte ich Unterlagen.“
„Die hat Ihre Kollegin Untermaier doch schon längst. Reden Sie nicht miteinander?“
„Du willst wieder alles genau wissen, oder? Warum gibst du dich nicht damit zufrieden, dass Esterbauer Opfer einer Gewalttat geworden ist, die im Wohnzimmer stattgefunden hat, nachdem er seinen Peiniger ins Haus gelassen hat?“ Viktoria hatte sich Leos Argumente angehört und heftig mit ihm diskutiert.
„Das ist mein Job. An jedem Tatort stelle ich mir vor, dass ich anstelle des Opfers sei. Und in dem Fall würde ich wollen, dass alles akribisch untersucht wird. Was spricht dagegen?“
„Nichts.“
„Wenn Esterbauer verletzt das Haus verlassen konnte, muss er sich versorgt haben. In diesem Fall muss er Verbandsmaterial in greifbarer Nähe gehabt haben. Ich für meinen Teil habe Verbandsmaterial im Badezimmer, so wie die Esterbauers, das habe ich kontrolliert. Zum Badezimmer führen keine Blutspuren, das können wir also ausschließen. Allein kann sich Esterbauer nicht versorgt haben. Sollte er aber tot sein, muss die Leiche irgendwie aus dem Haus geschafft worden sein. Aber wie? Ein erwachsener Mann von der Größe und Statur Esterbauers ist nicht leicht. Ob tot oder lebendig: Esterbauer muss irgendwie das Haus verlassen haben.“ Leo sah sich um. „Wir sollten uns bei den wenigen Nachbarn umhören, vielleicht hat jemand etwas gesehen.“
„Das übernehme ich“, sagte Hans. „Die wenigen Häuser schaffe ich alleine.“ Leos Ausführungen bestätigten seine Vermutung. Auch er hatte die wenigen Blutspuren gesehen, die an der Straße enden. Für sein Empfinden kamen diese Spuren nicht von einem Toten. Er war überzeugt davon, dass Esterbauer das Haus lebend verlassen hatte. Auch die Kollegen waren dieser Annahme. Denn für alle galt: Solange keine Leiche gefunden wurde, war der Mann lediglich verletzt.
Viktoria übergab Leo kommentarlos den Karton mit den Aktenordnern. Auch weil sie wusste, dass er recht hatte. Leo nahm sich den Ordner mit den Überweisungen vor, der Kollege Werner Grössert half ihm dabei. Schnell fanden sie heraus, dass es außer einer fest angestellten Haushaltshilfe noch einen Gärtner gab, der sich regelmäßig um den riesigen Garten kümmerte, was man diesem auch ansah. Außerdem hat Esterbauer einen persönlichen Sekretär. Als Leo dessen Gehaltszahlung las, pfiff er anerkennend.
„Der verdient so viel wie wir beide zusammen.“
„Das ist bei unseren mickrigen Gehältern kein Kunststück.“, sagte der einundvierzigjährige Werner, der auch heute wieder mit einem modernen, sicher sündhaft teuren Anzug aussah wie aus dem Ei gepellt. Werner entstammte einer reichen Familie, was er aber niemals raushängen ließ. Leo sah wie immer aus: Lederjacke, Jeans, alte Cowboystiefel und ein T-Shirt mit dem Konterfei eines Revoluzzers aus längst vergangenen Tagen, den niemand zu erkennen schien. Sonst waren auf seinen oft viel zu bunten T-Shirts Rockbands oder Sänger aufgedruckt, die auch selten erkannt wurden. Banausen!
Werner bestellte die Haushaltshilfe Grete Hofer sowie den Gärtner Franz Lobmann ein. Der Sekretär Tobias Mohr hatte einen Termin in München und versprach, so schnell wie möglich nach Mühldorf zu kommen. Da die Telefonverbindung sehr schlecht war, konnte Werner nicht erklären, worum es ging. Mohr hatte allerdings auch nicht danach gefragt. Sehr merkwürdig.
„Hier hat niemand etwas gesehen oder gehört.“, sagte Hans, der mit den Befragungen der Nachbarn tatsächlich sehr schnell durch war.
„Schade, das wäre auch zu schön gewesen.“
Franz Lobmann war zuerst vor Ort. Der einunddreißigjährige, große, muskulöse und sehr gutaussehende, dunkelhaarige Mann musste warten, bis Fuchs endlich den vermeintlichen Tatort freigab.
„Was soll ich in dem Haus? Ich war nur wenige Male drin und könnte frei Schnauze nicht einmal beschreiben, wie es da aussieht.“ Lobmann war genervt. Esterbauer war nicht sein einziger Kunde, auch wenn er der größte war. Gerade jetzt im Frühjahr hatte er jede Menge zu tun und hatte für so einen Mist hier überhaupt keine Zeit.
„Wie war Esterbauer als Chef?“
„Ganz normal. Ich habe meine Arbeit gemacht und er hat mich bezahlt. Wie lange dauert das hier noch?“
„Der Tod Esterbauers scheint Sie nicht sehr zu berühren“, bemerkte Leo, der den Mann nicht mochte.
„Warum sollte es? Menschen sterben nun mal, das ist der Lauf des Lebens. Esterbauer ist nicht der erste Kunde, den ich verliere.“
„Sie verlieren einen gewichtigen Kunden. Soweit wir das aus den Unterlagen ersehen, waren Sie mindestens die Hälfte der Woche hier beschäftigt, wenn nicht sogar mehr.“
„Und wenn schon. Ich habe sehr viele Aufträge, die ich nicht alle erfüllen kann. Ich bin sehr gut in meinem Job, die Leute reißen sich um mich. Wenn Esterbauer wegfällt, freuen sich andere.“
Die Kriminalbeamten waren schockiert über die Kaltschnäuzigkeit des Gärtners, der neben seiner ruppigen Art auch eine Arroganz ausstrahlte, die so gar nicht zu einem Gärtner passte. Oder hatten sie alle ein falsches Bild von diesem Beruf?
Fuchs gab endlich sein Okay, dass das Haus betreten werden durfte. Als er Leo ansah, schüttelte er den Kopf. Die Spurensicherung hatte also nichts gefunden. Lobmann betrat das Wohnzimmer, danach das Büro. Das Chaos schien ihn nicht zu beeindrucken. Er ging kommentarlos weiter und sah sich im ganzen Haus um. Als er fertig war, sah er Leo an.
„Ich kann Ihnen nicht sagen, ob etwas fehlt. Das habe ich Ihnen doch gleich gesagt.“
„Danke, Sie können gehen. Halten Sie sich zu unserer Verfügung, falls weitere Fragen auftauchen.“
„Was für ein Kotzbrocken!“, sagte Hans, als die Kriminalbeamten dem Gärtner hinterher sahen, wie der mit seinem Lieferwagen davonfuhr. „Wo bleibt die Haushaltshilfe? Müsste die nicht schon längst hier sein?“
Fuchs und seine Mitarbeiter waren längst weg. Die Kriminalbeamten warteten ungeduldig vor dem Haus.
„Wir müssen doch nicht alle hier blöd rumstehen“, maulte Werner. „Ich fahre ins Büro und fange mit der Durchsicht der Unterlagen an. Ist das in Ordnung?“
„Ich begleite dich!“, rief Hans schnell. Das würde eine der wenigen Gelegenheiten sein, in denen Viktoria und Leo allein sein konnten. Vielleicht hatte er Glück und sie würden ihre Differenzen endlich aus dem Weg räumen. Außerdem ließ ihn diese Eichendorffstraße nicht in Ruhe. Er musste dringend eine Liste mit gleichnamigen Straßen erstellen. Hatte er überhaupt richtig verstanden? Schließlich war heute Morgen alles sehr schnell gegangen. Er nahm sich vor, auch über ähnlich klingende Straßen eine Liste zu erstellen.
Leo war sauer. Er war nicht schnell genug gewesen und musste nun allein mit Viktoria hier warten. Musste das sein?
Auch Viktoria war nicht scharf darauf und stöhnte genervt. Als sie allein waren, ging sie die Straße auf und ab. Die Schaulustigen hatten sich längst verzogen, es gab hier nichts mehr zu sehen. Sollte sie mit Leo sprechen? War das jetzt der richtige Zeitpunkt? Leo war die Situation genauso unangenehm wie ihr, das konnte sie an seinem Gesichtsausdruck erkennen. Er versuchte ununterbrochen, Frau Hofer zu erreichen, bekam aber immer nur die Mailbox. Er fluchte leise.
„Wir müssen miteinander reden.“, fasste sich Viktoria ein Herz. „So kann das nicht weitergehen. Wir sind doch erwachsen. Ich habe mich sehr darauf gefreut, dich wiederzusehen. Deine kalte, abweisende Art schockiert mich. Warum sprichst du nicht mit mir? Können wir das, was zwischen uns steht, nicht endlich aus der Welt schaffen? Du kannst mir doch nicht ewig aus dem Weg gehen. Komm schon, sprich endlich mit mir!“ Ihr Herz klopfte, als sie direkt vor Leo stand, der ihrem Blick auswich.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Ich verhalte mich ganz normal.“ Während er sprach, merkte er selbst, was er für einen Blödsinn von sich gab. Natürlich war er nicht normal, sondern hatte eine Stinkwut auf seine frühere Lebensgefährtin. Seit sie zurück war, ging es ihm schlecht und natürlich gab er ihr die Schuld. Wem sonst?
Viktoria wollte etwas darauf erwidern, kam aber nicht dazu. Eine junge Radfahrerin hielt direkt neben ihnen.
„Sorry, dass ich so spät komme. Ich hatte einen Arzttermin und konnte nicht früher weg. Können wir?“ Grete Hofer war Anfang dreißig und voller Temperament. Sie stellte ihr Fahrrad ab und strahlte die Kriminalbeamten an. Leo musste schmunzeln, er mochte fröhliche Frauen. Vor allem aber kam die Frau genau zum richtigen Zeitpunkt, sonst hätte er sich noch mit Viktoria privat unterhalten müssen und das wollte er auf keinen Fall.
Grete Hofer wusste bereits, weshalb sie hier war, und sah sich im ganzen Haus um. Das Chaos erschreckte sie zunächst, aber sie gewöhnte sich schnell daran.
„Der Teppich im Gästezimmer fehlt. Er ist dunkelblau mit roten Akzenten. Sehr schwer, sehr wertvoll und potthässlich. Frau Esterbauer hatte ihn vor einem Jahr von einer alten Tante geerbt und brachte es nicht übers Herz, ihn zu verkaufen oder zu verschenken. Also landete er im Gästezimmer.“
„Sie sind sich sicher?“
„Klar. Ich arbeite hier seit zwei Jahren und kenne jedes einzelne Stück. Wenn ich sage, dass der Teppich fehlt, dann ist das so.“
„Was können Sie uns über das Ehepaar Esterbauer sagen? Wie war deren Ehe? Gab es Streit?“
„Es gab sicher Streit, wie überall. Ob die beiden eine glückliche Ehe führten, kann ich nicht beurteilen und das steht mir auch nicht zu. Ich habe meine Arbeit gemacht und wurde anständig und pünktlich bezahlt. Frau Esterbauer war zu mir persönlich immer freundlich, aber distanziert. Zwischen uns gab es nur sehr wenige private Worte. Wenn ich meine Arbeit machte, war sie entweder beim Einkaufen oder hatte sonstige Termine. War sie zuhause, saß sie meist mit einem Buch im Wintergarten. Herrn Esterbauer habe ich nur sehr selten gesehen. Wenn er zuhause war, hat er sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und die Tür geschlossen. Herr Esterbauer und ich haben uns nie unterhalten, das hat sich nicht ergeben. Aber er grüßte immer freundlich, wenn wir uns doch zufällig begegneten.“
„Sie haben verstanden, dass Frau Esterbauer ermordet wurde und dass wir nach Herrn Esterbauer suchen?“
„Sicher. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Das ist alles sehr schrecklich, keine Frage. Aber ich kannte die beiden nicht näher, habe kaum ein persönliches Wort mit ihnen gewechselt. Ich habe meine Arbeit gemacht und die beiden gingen mir aus dem Weg. Außerdem hätte ich meinen Job nach der gewonnenen Wahl sowieso verloren.“
„Warum das denn?“
„Esterbauer wäre als Minister des Bundes beruflich einen riesigen Schritt nach vorn gekommen. Es war ein offenes Geheimnis, dass die Esterbauers nach der gewonnenen Wahl nach Berlin umgezogen wären. Bei einer verlorenen Wahl wären sie wieder nach München gezogen. Herrn Esterbauers Eltern sind nicht mehr die Jüngsten und er als Sohn wollte in deren Nähe sein, was ich verstehen kann. Ich habe mitbekommen, dass das Haus hier verkauft werden sollte.“
„Wenn die beiden hiergeblieben wären, hätten sie ihren sicheren Job behalten können.“
„Früher oder später wäre ich für einen Mann in Esterbauers Position nicht die Richtige in seinem Umfeld gewesen, das wurde mir schon lange durch die Blume mitgeteilt. Ja, ich bin nicht die Klügste und kann auch nicht behaupten, dass ich von Ehrgeiz zerfressen bin. Als alleinerziehende Mutter eines kleinen Jungen hätte ich mich als Vorzeigeobjekt bestens geeignet. Allerdings gibt es zwei dunkle Flecke in meiner Vergangenheit, die sich für einen Saubermann in der Politik nicht gut machen. Sie finden es sowieso heraus, deshalb beichte ich lieber gleich, dass ich zwei Vorstrafen kassiert habe.“ Grete Hofer blickte in fragende Gesichter. „Drogendelikte in jungen Jahren, auf die ich als Mutter heute nicht stolz bin. Aber was soll ich machen? Ich kann die Vergangenheit nicht mehr ändern.“ Sie lachte. Es war offensichtlich, dass sie sich längst damit abgefunden hatte und nicht mehr darüber nachdachte.
„Der Verlust Ihres Jobs hätte Ihnen also tatsächlich nicht viel ausgemacht?“, fragte Viktoria.
„Nein. Jobs in Haushalten gibt es wie Sand am Meer. Ich bin sauber, ordentlich und zuverlässig. Leute wie ich werden gesucht, glauben Sie mir. Außerdem hätte ich sowieso in naher Zukunft gekündigt, denn ich bin echt nicht scharf darauf, ständig von irgendwelchen Security-Leuten überprüft zu werden oder mein Gesicht in Klatschzeitungen zu finden. Nein, danke, darauf kann ich gerne verzichten. Meine wilden Jahre sind längst vorbei, heute mag ich es eher ruhig.“
„Ist Ihnen in letzter Zeit irgendetwas Außergewöhnliches aufgefallen? Gab es Streit, waren Fremde im Haus, verdächtige Post oder dergleichen?“
„Nein, nicht, dass ich wüsste. Aber das heißt nichts. Ich interessiere mich nicht für meine Arbeitgeber, ich habe mit meinem eigenen Leben genug zu tun. Ich will einfach nur arbeiten und meine Kohle pünktlich kassieren, mehr nicht.“ Grete Hofer sah auf die Uhr. „Sind wir fertig? In zwei Stunden kommt mein Sohn nach Hause, und der möchte gerne sein Mittagessen pünktlich auf dem Tisch haben.“
„Eine Frage habe ich noch.“, sagte Leo, der von der herzerfrischenden Art der Frau begeistert war. „Nach den Unterlagen werden Sie fünf Tage die Woche beschäftigt. Warum waren Sie heute nicht hier?“
„Frau Esterbauer hat mir freigegeben.“
„Warum?“
„Ich habe nicht nach dem Grund gefragt, sondern habe den freien Tag gerne genommen.“
„Kam das oft vor?“
„Nein, eigentlich nicht. War es das jetzt? Ich muss los, das Essen macht sich nicht von allein.“
Leo und Viktoria sahen der jungen Frau hinterher.
„Das mit dem freien Tag ist sehr interessant.“, sagte Leo.
„Stimmt. Hast du gesehen, dass sie ein relativ neues E-Bike fährt?“
„Selbstverständlich. Diese Fahrräder kosten ein Vermögen. Wir sollten uns näher mit Grete Hofer beschäftigen, auch wenn ich einen guten Eindruck von ihr habe. Sie geht mit dem Tod ihrer Arbeitgeberin für meine Begriffe zu teilnahmslos um. Und der Gärtner gefällt mir auch nicht. Den scheint das Schicksal seiner Kunden auch wenig zu interessieren. Lass uns ins Präsidium fahren, vielleicht ist der Herr Sekretär schon eingetroffen.“
„Ich befürchte, dass wir zuerst mit Krohmer sprechen müssen. Er hat sicher schon mitbekommen, um wen es sich bei der Toten handelt.“
2.
Rudolf Krohmer war geschockt, als er von Hiebler und Grössert die Identität der Toten erfuhr. Selbstverständlich sagte ihm der Name Uwe Esterbauer etwas, er kannte ihn sogar persönlich. Dessen Frau kannte er zwar nur vom Sehen, trotzdem traf ihn deren Tod. Der ehrgeizige Politiker Esterbauer war nicht sein Favorit bei den bevorstehenden Wahlen, aber er bewunderte dessen Eifer und den Einsatz für die noch recht junge Partei. Esterbauer zog erst vor zwei Jahren von München nach Mühldorf und pendelte davor ein Jahr zwischen den beiden Städten täglich hin und her. Als er im letzten Jahr Spitzenkandidat der Bürgerpartei Bayern wurde, kündigte er seinen Job und setzte für die Partei alles auf eine Karte. Jetzt schien er kurz vor dem Ziel zu sein, denn die Wahlprognosen standen nicht schlecht.
Heiderose Esterbauer war also tot, ermordet direkt vor seiner Polizeistation. Das war schrecklich und löste mit Sicherheit einen Skandal aus. Er konnte die Vorwürfe der Presse bereits hören. Aber das war nicht wichtig. Uwe Esterbauer war verschwunden. In seinem Haus wurden Blutspuren gefunden. Was war da los? Krohmer brauchte mehr Informationen, Grössert und Hiebler wussten allerdings auch nichts. Wo blieben Untermaier und Schwartz? Er sah immer wieder nervös aus dem Fenster. Auf das ununterbrochene Klingeln des Telefons reagierte er nicht mehr. Frau Esterbauers Tod hatte sich herumgesprochen, das war klar. Irgendjemand hatte wieder mal nicht den Mund halten können! Krohmer hatte den Bürgermeister und den Parteivorsitzenden der Bürgerpartei Bayern, Kilian Martlmüller, informiert, das musste vorerst reichen. Das ständige Läuten des Telefons machte Krohmer wütend. Warum hatte er gerade in dieser Woche seiner Sekretärin Urlaub gegeben? Er konnte sie nicht zurückbeordern, sie befand sich seit gestern auf einem Kreuzfahrtschiff im Mittelmeer. Wie sollte er die bevorstehende Arbeit ohne Hilfe bewältigen? Bis er vom Innenministerium eine Hilfe bewilligt und zugewiesen bekäme, würde er unnötig Zeit verlieren. Und wenn er daran dachte, dass diese auch noch eingearbeitet werden musste, war seine Sekretärin längst aus dem Urlaub zurück. Während er wartend am Fenster stand, zermarterte er sich den Kopf, wie er dieses Problem aus der Welt schaffen konnte. Dann hatte er endlich die zündende Idee: Was war mit seiner alten Sekretärin Hilde Gutbrod? Sie kannte sich aus und er vertraute ihr, obwohl sie mit ihrer Neugier oft übers Ziel hinausgeschossen war. Hatte sie trotz ihres Pflegekindes überhaupt Zeit? Er musste diese Möglichkeit zumindest versuchen.
Die vierundsechzigjährige Hilde Gutbrod erkannte die Telefonnummer auf ihrem Display sofort.
„Hallo, Chef. Wo brennt’s?“, begrüßte sie ihn.
„Ich mache es kurz. Wir haben einen Mordfall, der eventuell mit einer Entführung zusammenhängt. Ich habe im Moment keine Sekretärin. Sie ist im Urlaub und kommt erst in zwei Wochen zurück. Sie können sich sicher vorstellen, dass hier die Hölle los ist. Also: Hätten Sie Zeit und Interesse, den Job kurzfristig zu übernehmen?“
„Ich bin gerührt, Chef. Selbstverständlich können Sie auf mich zählen, ich bin quasi unterwegs.“
„Was ist mit Martin?“
„Der ist seit einigen Wochen in einer Ausbildungsstätte untergebracht und kommt nur übers Wochenende nach Hause. Martin macht eine Ausbildung zum Feinmechaniker, er ist sehr geschickt darin und die Arbeit macht ihm Spaß. – Geht es um den Mord an Frau Esterbauer?“
„Woher wissen Sie das denn schon wieder?“, lachte Krohmer. Wie früher auch entging der Frau nichts.
„Ich habe meine Quellen. Bis gleich, Chef.“
Hilde Gutbrod langweilte sich nicht wirklich. Sie hatte ein Pflegekind, um das sie sich rührend kümmerte. Aber Martin war unter der Woche in der Schule, jetzt machte er sogar schon eine Ausbildung. Wie schnell doch die Zeit verging. Nicht mehr lange, und Martin brauchte sie überhaupt nicht mehr, aber daran wollte sie nicht denken. Seit Frau Gutbrod pensioniert war, hatte sie Frauen und Männer unterschiedlichen Alters kennengelernt, mit denen sie Sport machte und sich gelegentlich auf ein Glas Sekt traf. Darüber hinaus hatte sie genug mit ihrer Nichte Karin zu tun, die trotz der vielen Verkupplungsversuche immer noch keinen Mann gefunden hatte. Die Zeit drängte, denn Karin war nicht mehr die Jüngste, die biologische Uhr tickte schon sehr, sehr laut. Heute Nachmittag war sie mit ihrer Nichte verabredet, aber jetzt musste sie ihr leider absagen. Das Telefonat war tränenreich, denn Karin hatte wieder einmal Liebeskummer. Nachdem Frau Gutbrod mehrmals versuchte, ihr zu erklären, warum sie nicht kommen konnte, legte sie einfach auf. Krohmer und die ehemaligen Kollegen warteten bestimmt schon auf sie. Von der toten Frau Esterbauer hatte sie bereits von ihrer Nachbarin erfahren, von der geschwätzigen Else, die stets erstaunlich gut informiert war. Aber von welcher Entführung sprach Krohmer? Davon hatte Else kein einziges Wort erwähnt.
Die Fahrt ins Büro war für Leo und auch für Viktoria ätzend. Niemand wollte mit dem anderen sprechen, also fuhren sie schweigend.
Krohmer kam den beiden entgegen. Er war gespannt darauf, ob es neue Erkenntnisse gab. Als Krohmer noch im Flur der Polizeiinspektion von dem fehlenden Teppich erfuhr, wurde ihm schlecht. Das deutete darauf hin, dass Esterbauer vermutlich nicht mehr am Leben war. Das wäre eine Katastrophe! Im Besprechungszimmer wiederholten Viktoria und Leo das Gespräch mit der Haushälterin.
„Gut, nehmen Sie die Frau und den Gärtner auseinander. Noch etwas?“
„In Esterbauers Unterlagen habe ich bisher nichts Auffälliges gefunden“, sagte Werner mit Blick auf Hans. „Wenn ich Hilfe gehabt hätte, wären wir vielleicht schon zur Hälfte durch.“
„Entschuldige mal!“, protestierte Hans. „Ich habe zwei Listen mit den Straßennamen erstellt. Das sind alle Eichendorffstraßen in unserem Einzugsgebiet“, sagte er und legte die Kürzere der Listen vor. „Und das hier sind Straßennamen, die ähnlich klingen.“
Krohmer ging nicht auf das Geplänkel ein. Ihn interessierten nur Fakten. Für ihn war der Hinweis auf die Straße zwar nicht unwichtig, stand aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht im Fokus der Ermittlungen. Wo hätten sie ansetzen sollen? Sollten sie jede der Straßen und damit jedes einzelne Haus durchsuchen? Mit welcher Begründung? Und mit welchem Personal?
„Wie steht es um die Finanzen des Ehepaars?“ Schon lange interessierte sich Krohmer dafür, wovon der Mann eigentlich lebte. Das Haus war riesig und es war allgemein bekannt, dass das Ehepaar Esterbauer auf großem Fuß lebte.
„Frau Esterbauer hat vor Jahren ein beträchtliches Vermögen geerbt, sie stammte aus sehr gutem Hause. Das Haus der beiden in Mühldorf ist abbezahlt und auf den Konten liegt genug Geld für die nächsten Jahre. Allerdings bezieht Esterbauer auch ein monatliches Gehalt von der Partei, das sehr ordentlich ist.“
„Wie hoch?“
„Achttausendfünfhundert Euro.“
„So viel? Seit wann?“
„Seit April letzten Jahres. Bis dahin arbeitete Esterbauer in einer Münchner Immobilienfirma, in der er auch nicht schlecht verdiente. Die Kontoauszüge weisen Beträge zwischen sechs- und zwölftausend Euro auf; monatlich, versteht sich.“
„Wenn ich mir überlege, dass diese Partei noch recht klein ist, möchte ich nicht wissen, was man dann in etablierten Parteien verdienen kann.“, sagte Hans.
„Nicht zu vergessen sind ein dreizehntes Monatsgehalt und Spesen, die nicht unerheblich sind.“ Selbst Werner war erstaunt über die Höhe dieser Zahlen, die auf Esterbauers Konto auftauchten. Konnte das wirklich sein?
„Achttausendfünfhundert Euro“, wiederholte Krohmer und schüttelte den Kopf. „Ist das normal? Wie kann sich die Partei dieses üppige Gehalt leisten?“
„Um das beurteilen zu können, bräuchte ich Einblick in die Buchhaltung der Partei.“, sagte Werner.
„Vergessen Sie das, das kriegen wir niemals durch.“ Krohmer konnte diese hohe Gehaltszahlung nicht fassen. Die Bürgerpartei Bayern war noch sehr jung und auf ganz Deutschland umgerechnet auch sehr, sehr klein. Er konnte sich nicht erklären, wie das funktionieren sollte. Aber das war nicht sein Problem, das ging ihn eigentlich nichts an. Oder doch?
Friedrich Fuchs sah ständig auf die Uhr. Wann war er endlich mit seinen Ausführungen dran? Er hatte nicht die Zeit, hier sinnlos herumzusitzen. Wer was und wie viel verdiente, interessierte ihn absolut nicht, Geld interessierte ihn grundsätzlich nicht. Außerdem war er auf nichts und niemanden neidisch, das Gefühl war ihm fremd. Wieder sah er auf die Uhr. Auf ihn wartete sehr viel Arbeit. Gerade, als er ansetzen wollte, kam ihm der Kollege Grössert schon wieder dazwischen.
„Augenscheinlich hatten die Esterbauers außer den Parteifreunden keine weiteren Freunde oder Bekannten. Wir müssen uns trotzdem das Privatleben der beiden genauer vornehmen.“
„Die Esterbauers hatten keine Freunde? Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte Krohmer. „Die beiden wurden seit Monaten von allen möglichen Leuten eingeladen. Es gab kaum eine Veranstaltung, bei denen ich sie nicht gesehen habe.“
„Der Festnetzanschluss zeigt momentan dieses Bild. Es könnte allerdings möglich sein, dass beide mit Freunden oder Bekannten Kontakt über ihre Handys oder per Email hielten. Die Einzelverbindungsnachweise sind angefordert, der Laptop ist noch nicht ausgewertet.“







