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„Was ist mit den Handys? Konnten sie geortet werden?“
Endlich war Fuchs dran, denn das persönliche Umfeld des Ehepaars Esterbauer interessierte ihn ebenfalls nicht.
„Die fraglichen Handys können beide nicht geortet werden, kein Signal. Die letzten Funkzellen beider Handys sagen aus, dass sie sich im Stadtbereich Mühldorf aufgehalten haben. Von der Gerichtsmedizin München kam die Information, dass die Waffe, mit der Frau Esterbauer getötet wurde, bisher nicht erfasst wurde. Es handelt sich um das Kaliber 9mm Parabellum. Die Auswertungen des Hauses Esterbauer stehen noch aus.“ Fuchs war mit seinen Ausführungen so weit fertig. Sollte er einfach aufstehen und gehen? Der Chef hatte schlechte Laune, da war es besser, ihn nicht weiter zu reizen.
Hans war über die Aussage Fuchs‘ bezüglich der letzten Funkzellen enttäuscht, er hatte sich mehr davon versprochen, besonders bezüglich der Eichendorffstraße.
„Wann können wir mit der Auswertung des Laptops rechnen?“
„Daran arbeiten meine Kollegen bereits. Wir kommen eben vom Tatort zurück, Sie müssen Geduld haben, Chef.“, beruhigte Werner. Schon seit Tagen sah Krohmer sehr schlecht aus. „Geht es Ihnen nicht gut?“ Krohmer winkte nur ab.
„Ich habe zuhause einen pubertierenden Dreizehnjährigen, der mir tierisch auf die Nerven geht. Bei jeder noch so kleinen Gelegenheit geraten Mason und ich aneinander. Momentan hat er keine Lust auf Schule, letzte Woche hat er den Klavierunterricht geschmissen. Ständig kommt er mit etwas Neuem daher, das macht mich wahnsinnig!“ Es war sonst nicht Krohmers Art, Privates auszuplaudern. Er ließ sich dazu hinreißen und bereute sofort seinen Gefühlsausbruch.
Alle kannten Mason und alle mochten ihn. Die Umstände, wie das Kind zu den Krohmers kam, hatten sie hautnah mitbekommen.
„So schlimm ist Mason bestimmt nicht“, beschwichtigte Hans, der ein ganz besonderes Verhältnis zu dem Jungen hatte und immer wieder etwas mit ihm unternahm, wenn es seine Zeit erlaubte und wenn Mason Lust dazu hatte. „Er ist in einem schwierigen Alter, das wissen wir alle aus eigener Erfahrung. Der beruhigt sich irgendwann schon wieder.“
„Denselben Mist muss ich mir täglich von meiner Frau anhören“, maulte Krohmer und bereute seinen Ausspruch sofort. Er murmelte eine fast unverständliche Entschuldigung, die Hans mit einem Kopfnicken quittierte.
Von Viktoria und Werner folgten kluge Ratschläge, auf die Krohmer gerne verzichtet hätte. Leo hielt sich raus. Er hatte keine Ahnung von Kindern, er kam ja kaum mit Erwachsenen zurecht. Und Fuchs interessierte auch dieses Thema nicht. Warum brachten die Kollegen und auch der Chef, immer ihre privaten Probleme mit zur Arbeit, wo sie nichts zu suchen hatten? Er entschied, jetzt zu gehen. Dann ging die Tür auf und Frau Gutbrod trat ein. Alle Blicke waren sofort auf sie gerichtet. Krohmer war froh über ihren übertriebenen Auftritt, den sie sicher geplant hatte, denn dadurch wurde vom Thema seines längst amtlichen Adoptivsohnes abgelenkt.
Frau Gutbrod wurde von allen Seiten begrüßt, obwohl keinem klar war, was sie hier eigentlich wollte. Fuchs nutzte die Gelegenheit und ging einfach. Erleichtert schloss er die Tür hinter sich. Ob Frau Gutbrod hier war und warum, ging ihn nichts an. Der Chef hatte sie gerufen und er hatte sicher seine Gründe dafür.
„Frau Gutbrod ist so lieb, mir als Sekretärin auszuhelfen.“, erklärte Krohmer den Kriminalbeamten. „Sie können sich sicher vorstellen, was momentan bei mir los ist. Besonders die Pressemeute stürzt sich wie die Aasgeier auf den Mordfall Esterbauer. Alle möchten Informationen dazu haben oder erkundigen sich über den Stand der Ermittlungen. Ohne Hilfe bin ich aufgeschmissen“, erklärte Krohmer. Hoffentlich hielt sich Frau Gutbrod mit ihrer Neugier zurück. Er musste später unbedingt mit ihr sprechen und ihr ins Gewissen reden. Der Fall Esterbauer war sehr speziell, dabei bedurfte es sehr viel Fingerspitzengefühl, das Frau Gutbrod definitiv nicht hatte. Sollte er sie überhaupt über den aktuellen Stand der Ermittlungen informieren? Eigentlich ging sie das nichts an, sie war lediglich hier, um ihm zur Hand zu gehen. Andererseits hatte es in der Vergangenheit, als sie für viele Jahre seine Sekretärin war, immer Probleme gegeben, wenn sie nicht informiert wurde. Überall hatte sie ihre Nase drin und wusste sehr gut, an wen sie sich wenden musste, um an Informationen zu kommen. Es kam sogar vor, dass sie sich an Zeugen gewandt und eigene Ermittlungen angestellt hatte. Nein, es war besser, sie zu informieren und sie dann um Stillschweigen zu bitten.
„Das ist der momentane Stand der Ermittlungen.“, sagte er daher und schob ihr die Unterlagen zu. Frau Gutbrod setzte sich und blätterte begeistert darin. Je mehr sie las, desto schockierter war sie. Uwe Esterbauer war verschwunden und man vermutete ein Verbrechen, mehrere Blutspuren deuteten darauf hin. Er war entführt worden? Frau Gutbrod kannte Uwe Esterbauer und dessen Frau. Nicht persönlich, aber aus diversen Zeitungen und Zeitschriften, natürlich auch von den Plakaten. Ihr war der Mann sehr sympathisch, ihre Stimme hätte er bekommen. Der Name Lobmann kam ihr bekannt vor. War das nicht der Gärtner, von dem ihre Nachbarin Else so schwärmte? Der Hinweis darauf, dass er Witwer war, war sehr interessant. Dann las sie das Geburtsdatum: 1985. Schade, der Mann war für ihre Nichte Karin viel zu jung.
Als Krohmer seine Mitarbeiter verabschiedete, redete er Frau Gutbrod ins Gewissen.
„Kein einziges Wort über die Sache, zu niemandem. Haben Sie mich verstanden?“
„Selbstverständlich. Ich bin doch keine Tratschtante!“ Frau Gutbrod war beleidigt. Was dachte der Chef über sie? Ja, sie war interessiert, das gab sie zu. Aber nicht neugierig! Außerdem lag es ihr fern, Insiderwissen auszuplaudern.
Natürlich war die Information über den gewaltsamen Tod Frau Esterbauers und das Verschwinden des vielversprechenden Politikers Uwe Esterbauers in den Reihen der Bürgerpartei Bayern längst verbreitet worden; irgendjemand hatte mal wieder seinen Mund nicht halten können. Krohmer war verärgert, denn er vermutete den Informanten bei der Polizei. Wer sonst hätte darüber Bescheid gewusst?
Bei der Bürgerpartei waren alle sehr betroffen, viele weinten sogar. Esterbauer war ihre große Hoffnung, endlich auch auf Bundesebene ein Wort mitreden zu können und somit die politische Richtung Deutschlands mit zu beeinflussen. Alle beschäftigte die Frage, wie es nun weiterging.
Als Dieter Marbach davon erfuhr, war er erleichtert, auch wenn er öffentlich seine Betroffenheit zum Ausdruck brachte. Endlich war der Schleimbeutel und Querulant Esterbauer weg! Dieter Marbach war bis zum Erscheinen Esterbauers das große Zugpferd der Partei gewesen. Er war zwar kein Gründungsmitglied der Bürgerpartei Bayern, lebte aber fast ausschließlich nur für sie. Rund um die Uhr hatte er sich neben seinem Beruf als Sachbearbeiter einer Importfirma für die Partei aufgeopfert, worunter auch sein Privatleben sehr gelitten hatte. Seine Frau Klara wollte sich mehrmals von ihm trennen, was er zum Glück immer abwenden konnte. Wie würde er denn als geschiedener Mann dastehen? Nein, das ging überhaupt nicht und hätte ihn viele Stimmen gekostet. Er war kurz davor gewesen, als Kandidat aufgestellt zu werden. Und dann wurde von der Parteispitze Esterbauer als Spitzenkandidat nominiert, obwohl der erst seit einem Jahr dabei gewesen war. Dieser ekelhafte, überhebliche Kotzbrocken hatte ihm den Posten vor der Nase weggeschnappt, wobei dieser nicht einmal ein schlechtes Gewissen hatte. Seit Esterbauer bei der Bürgerpartei aufgetaucht war, hatte er sich in den Vordergrund gedrängt und war bei jeder noch so kleinen Gelegenheit wortführend. Ja, er hatte viele Kontakte, die auch der Partei zugutekamen. Esterbauer war auch ein besserer Redner als er, das musste er ihm neidlos zugestehen. Er konnte die Mengen anheizen und fand immer die richtigen Worte, während Marbach selbst seine Reden von einem Profi ausarbeiten ließ und sie meist auswendig lernte, was für ihn sehr viel mehr Arbeit bedeutete und was niemand sah. Ja, er hatte stets die schriftliche Rede auf dem Pult liegen und las viele Passagen davon ab, aber das machten die großen Politiker auch und das war nicht verwerflich. Trotz Esterbauers Vorzügen befand Marbach, dass er selbst der bessere Mann gewesen wäre, besonders hier in der Provinz. Er war hier geboren und aufgewachsen, außerdem liebte er seine Heimat. Esterbauer hingegen war erst vor zwei Jahren aus München gekommen und war keiner von hier, auch wenn er immer den Anschein erweckte und sich große Mühe gab, sich als Landei darzustellen. Alle wussten, dass Esterbauer aus München stammte, trotzdem applaudierten sie, wenn er sich besonders für die Belange der Landbevölkerung stark machte. Widerlich, dieses schleimige Anbiedern.
Marbach konnte sich noch gut an letztes Jahr erinnern, als ihm mitgeteilt wurde, dass man sich für Esterbauer als Kandidat entschieden hatte. Es klang wie Hohn, als man ihm schulterklopfend erklärte, dass die Entscheidung nur im Sinne der Partei gefällt wurde und man nichts gegen ihn persönlich hätte. Man bedankte sich bei ihm für seine aufopfernde Arbeit und überreichte ihm eine teure Flasche Wein, die er aus Trotz in den nächstbesten Mülleimer warf. Niemand wusste, dass er bereits seine Kündigung in der Firma vorgelegt hatte, die er aufgrund der Absage wieder zurücknehmen musste. Das war einer der peinlichsten Momente seines Lebens gewesen, den er nur Esterbauer und der Parteiführung zu verdanken hatte.
Marbach lehnte sich zufrieden zurück, das Blatt hatte sich jetzt augenscheinlich zu seinen Gunsten gewendet. Sein Konkurrent und das strahlende Licht der Partei war verschwunden, dessen Frau wurde ermordet. Hinter vorgehaltener Hand wurde sogar schon mit Esterbauers Tod gerechnet. War der Typ wirklich tot? Ganz sicher. Esterbauer wurde vom Scheinwerferlicht geradezu angezogen, der würde doch niemals freiwillig untertauchen. Nein, Esterbauer war auch tot, wie dessen Frau. Warum und wie interessierte Marbach nicht. Für ihn war nur wichtig, dass Esterbauer weg war. Dadurch war der Platz des Spitzenkandidaten frei geworden, und das so kurz vor der Wahl. Wie lange würde es dauern, bis die Parteiführung bei ihm auf der Matte stand und ihn bat, die Kandidatur zu übernehmen? Das würde nur eine Frage von Stunden sein. Er hatte munkeln hören, dass die Parteiführung bereits eine Krisensitzung einberufen hatte, wozu außer den dreien niemand geladen war. Ein sicheres Zeichen dafür, dass die aktuelle Situation und somit die Zukunft der Partei, neu besprochen wurde. Spitzenkandidat! Das Wort war wunderschön. Nicht mehr lange und Marbach hatte diese Position inne und er würde endlich da sein, wo er hingehörte. Wollte er das überhaupt nach allem noch annehmen? Und ober er das wollte! Es gab für ihn nichts Erstrebenswerteres, als in der ganz großen Politik mitzumischen. Gut, dazu müssten noch einige Hürden geschafft werden, aber das war für Marbach nur eine reine Formalität. Schließlich kannte er die Umfrageergebnisse, die er selbst in Auftrag gegeben hatte und von denen er wusste, dass sie nicht verfälscht worden waren. Für ihn stand außer Frage, dass sein Weg jetzt frei war. Wie gerne würde er vor allen wichtigen Politikern stehen und denen seine Ansichten und deren Fehler und Misswirtschaft um die Ohren hauen. Bald waren das keine Träume mehr, sondern Realität. Wie wohl seine Klara auf die Neuigkeit reagieren würde?
Marbach sah auf die Uhr. Es war zwar erst kurz nach elf, aber mit diesen guten Aussichten machte er Schluss für den Moment. Er rief seine Frau an und verabredete sich mit ihr zum Mittagessen.
Klara Marbach war überrascht über die plötzliche Einladung. Ihr Mann hatte fröhlich geklungen und sie war neugierig, was das zu bedeuten hatte.
3.
Die Parteispitze, bestehend aus drei Personen, traf sich hinter verschlossenen Türen. Niemand durfte sie stören. Das war zum einen der Mühldorfer Kilian Martlmüller, die Brigitte Dickmann ebenfalls wohnhaft in Mühldorf, und der Münchner Xaver Thiel. Martlmüller leitete drei Pflegeheime, Thiel war Seniorchef einer Anlagefirma und Brigitte Dickmann war Anwältin mit eigener Kanzlei in Trostberg, auch wenn sie in Mühldorf lebte. Die drei lenkten von Anfang an die Geschicke der noch sehr jungen bayerischen Partei, die erst vor sechs Jahren gegründet worden war und deren Parteibüros sich bereits über das ganze Bundesland Bayern ausbreiteten. München, Mühldorf und Regensburg hatten den größten Anteil der neugewonnenen Mitglieder verzeichnen können, was nicht zuletzt an der blendenden Organisation und den sehr aktiven Politikern lag. Das aggressive Parteiprogramm schlug nicht nur damals, sondern auch noch heute hohe Wellen und traf den Nerv der Zeit. Als Hauptanliegen schrieb man sich die Interessen Bayerns auf die Fahnen. Der Länderfinanzausgleich, von dem auch Bayern einen großen Anteil zu bestreiten hatte, wurde stets zuerst genannt. Man befand es als ungerecht, dass mühsam erwirtschaftete Einnahmen auf andere Bundesländer verteilt würden. Die Vorschläge, was man mit diesem Geld in Bayern machen könnte, füllten mehrere Broschüren. Weitere, wichtige Punkte des Parteiprogramms war der Schutz bayerischer, mittelständischer Betriebe und deren Unterstützung sowohl im Steuer-, als auch im Erbrecht, der Bildungspolitik, sowie dem bayerischen Brauchtum. Die Mitgliederzahl wuchs und wuchs. Und mit Esterbauer als brillantem Redner hätten sie auf Bundesebene eine Chance gehabt, nicht nur gehört, sondern auch respektiert zu werden. Noch immer verspottete man die südlichen Bundesländer und machte sich über die Dialekte lustig, obwohl der Süden Deutschlands wirtschaftlich und finanziell am besten von allen dastand.
Die drei Parteiführer waren bestürzt über den Tod von Esterbauers Frau, aber noch mehr über dessen eigenes Schicksal. Als Thiel informiert wurde, war er sofort von München losgefahren, um sich mit Martlmüller und Dickmann zu treffen, für die nach diesen schlechten Neuigkeiten nun ebenfalls die Belange der Partei im Vordergrund standen. Die bevorstehende Wahl war ohne einen Spitzenkandidaten in Gefahr und das durfte nicht sein, sonst wären die letzten Jahre voller harter Arbeit und Entbehrungen doch völlig umsonst gewesen.
Verstand Martlmüller richtig? Hatte Brigitte Dickmann gerade mehrfach betont, dass sie auch nicht wisse, wo Esterbauer war? Er beobachtete sie genau. Sie vermied jeglichen Blickkontakt. War das Taktik, damit Thiel nichts mitbekam?
„Keiner weiß, wo Uwe ist. Ich habe heute mit dem Chef der Mühldorfer Kripo gesprochen. Die tappen noch völlig im Dunkeln.“ Martlmüller startete einen letzten Versuch, von Brigitte Dickmann einen eindeutigen Hinweis zu bekommen. Endlich sah sie ihn an und schüttelte mit dem Kopf. Sie wusste es tatsächlich nicht! Konnte das wahr sein? Was war schiefgelaufen?
„Mich wundert das nicht. Diese Provinz-Polizisten sind mit einem solchen Fall doch völlig überfordert.“, sagte Xaver Thiel. „Wir sollten München einschalten.“
„Das liegt nicht in unserem Entscheidungsbereich. Ich vertraue auf die hiesige Polizei“, sagte Martlmüller, der keine Sekunde an die Fähigkeiten der Provinzler glaubte. Er kannte Krohmer aus Kindertagen und mochte ihn nicht. Mit ihm an der Spitze konnte die Mühldorfer Polizei nichts sein. In Martlmüllers Augen machten die sowieso nur Dienst nach Vorschrift und hinkten bei allem hinterher. Nein, die Ermittlungen waren bei den Mühldorfern genau richtig aufgehoben. Eine übereifrige Polizei, die überall ihre Nase reinsteckte, konnte er nicht brauchen.
„Wir brauchen Esterbauer, ohne ihn sind wir aufgeschmissen.“
Eine heftige Diskussion entbrannte, in der vor allem Thiel seinen Frust abließ. Bis zu den Wahlen war nicht mehr viel Zeit. Wie sollte es weitergehen? Sollten sie darauf warten, ob Esterbauer doch noch auftauchte und alles auf eine Karte setzen? Brigitte Dickmann betonte erneut, dass sie nicht an eine Rückkehr Esterbauers glaubte. Sie brauchten eine neue Strategie.
„Wir müssen schnell handeln. Wir brauchen einen neuen Kandidaten und eine noch aggressivere Werbung, sonst haben wir nicht den Hauch einer Chance. Allein mit unserem Parteiprogramm kommen wir nicht weit. In Bayern haben wir viele Anhänger gewinnen können, auf Bundesebene wird das ungleich schwieriger. Wir brauchen ein charismatisches Zugpferd, der für unsere Partei brennt. Wen schlagt ihr vor?“ Brigitte Dickmann drängelte. Sie hatte wegen dieser Besprechung Termine verschieben müssen. Den Termin heute Nachmittag um 16.00 Uhr in ihrer Kanzlei musste sie unbedingt einhalten.
„Wir haben nur einen einzigen Mann, der dafür geeignet ist und auch zur Verfügung steht: Dieter Marbach.“
Brigitte Dickmann und Xaver Thiel verdrehten die Augen.
„Ja, ich weiß. Marbach ist kein begnadeter Redner. Mir gehen seine dummen Witze und das ständige Räuspern auch auf die Nerven. Hierin könnten wir ihn sicher noch verbessern, wenn wir ihm Profis zur Seite stellen, die ihn dabei unterstützen. Wir haben keinen anderen Mann, wir müssen ihn nehmen.“ Kilian Martlmüller kannte Marbach schon seit vielen Jahren. Sie schätzten sich, mochten sich aber nicht besonders. Das war innerhalb einer Partei auch nicht wichtig. Hier galt es, gemeinsame Ziele zu verfolgen und nicht, Freundschaften zu schließen.
„Willst du das nicht doch übernehmen, Kilian? Du bist ein Mühldorfer und jeder kennt und mag dich.“, versuchte es Thiel erneut. Schon seit Jahren bekniete er Martlmüller, diesen Job zu übernehmen.
„Das kommt überhaupt nicht in Frage, das weißt du doch. Nein, ich bin der Falsche dafür. Dieter Marbach ist unser Mann.“
„Ist der nicht sauer, dass wir ihn übergangen haben?“
„Sicher ist er das. Wenn wir auf ihn zugehen, wird er zunächst ablehnen und den Beleidigten spielen. Wir alle kennen Marbach. Der Mann ist von Ehrgeiz zerfressen und wird letzten Endes annehmen.“, stöhnte Thiel, der keine Lust auf den Mann und seinen Marotten hatte. Aber außer Kilian Martlmüller, der sich vehement weigerte, stand neben Marbach kein adäquater Kandidat zur Verfügung, sie mussten wohl oder übel in den sauren Apfel beißen. Dass er oder die Dickmann den Job übernahmen, stand außer Frage. Sie waren politisch interessiert und waren Feuer und Flamme für ihre Ziele, aber keiner wollte an die Front, ebenso wenig wie Martlmüller. Für diesen Job musste man sehr viel mehr mitbringen, dafür war keiner von ihnen geeignet oder bereit.
„Lasst uns das Gespräch mit Marbach hinter uns bringen. Je eher wir mit der Umstrukturierung beginnen können, desto besser.“, entschied Thiel und rief Marbach an. Das Gespräch dauerte nicht sehr lange. Thiel hatte den Eindruck, als hätte Marbach auf den Anruf gewartet.
„Wusste ich’s doch“, schmunzelte Marbach, als er aufgelegt hatte. Er saß immer noch mit seiner Frau beim Mittagessen. Er wusste ja, dass die Krisensitzung der Chefs stattfand – und er musste nur warten. Mehrfach hatte seine Frau Klara ihn auf den Grund des Essens angesprochen, aber er hatte nicht darauf geantwortet. Warum sollte er sich den Spaß nehmen lassen, ihr die Neuigkeit zu präsentieren, wenn er darum gebeten wurde? Noch lag alles in der Schwebe, noch hatte ihn die Parteispitze nicht auf den Posten angesprochen.
Klara Marbach wurde immer ungehaltener. Sie waren längst mit dem Essen fertig und sie drängte darauf, endlich zu gehen. Sie hatte keine Lust mehr, in der bürgerlichen Gaststätte, die ihr Mann ausgesucht hatte, ihre Zeit zu vergeuden. Sie fühlte sich deplatziert zwischen den anderen Gästen, die nicht ihrem Niveau entsprachen. Klara spürte, dass ihr Mann irgendetwas vorhatte. Seine Laune war heute ausgesprochen gut, aber ihren Fragen wich er ständig aus. Was war los mit ihm? Als sie das Telefonat verfolgte, verstand sie endlich: Ihr Mann war wieder im Rennen! Er hatte es doch noch geschafft, als Spitzenkandidat auf Bundesebene antreten zu dürfen. Klar lag das hauptsächlich an dem Verschwinden Esterbauers, von dem ihr Mann vorhin als Erstes gesprochen hatte und das sie schockierte. Auch der Tod seiner Frau traf sie sehr, denn sie kannten sich, auch wenn sie sich nicht mochten. Warum die Frau getötet wurde, war Sache der Polizei und ging sie nichts an. Der Grund, warum ihr Mann jetzt wieder ganz vorne mitspielte, war ihr völlig gleichgültig. Nachdem ihr Mann im letzten Jahr dem neuen Spitzenkandidaten unterlegen war, war sie enttäuscht gewesen. Die vielen Entbehrungen und Mühen waren alle umsonst gewesen. Aber jetzt hatte sich der Wind gedreht und ihr Mann war jetzt am Ruder. Sie sah ihn mit anderen Augen an und lächelte. Wenn er die erforderliche Hürde schaffen würde, und davon war sie überzeugt, dann waren ihre Tage in Mühldorf gezählt, dann stand dem Umzug nach Berlin nichts mehr im Weg. Endlich raus aus dem Muff der Kleinstadt in die große, weite Welt. Sie musste einkaufen gehen, denn für die bevorstehenden Auftritte und Empfänge hatte sie nicht genug zum Anziehen. Wem sie wohl in Zukunft alles begegnen würde?
„Klara? Träumst du?“ Dieter Marbach hatte mehrfach versucht, mit seiner Frau zu sprechen, aber sie hörte ihm nicht zu. Er wurde wütend, denn die Neuigkeit, die er zu berichten hatte, war immens wichtig.
„Ja, mein Lieber, ich träume. Von Berlin und den vielen Auftritten, die ich mit dir gemeinsam haben werde“, strahlte sie.
Marbach musste lachen. Klara hatte bereits verstanden, worum es in dem Telefonat ging. Was hatte er nur für eine schlaue Frau an seiner Seite! Klaras Leben würde sich jetzt schlagartig ändern und das schien sie ebenfalls zu wissen. Er hatte sie schon lange nicht mehr so glücklich gesehen. Ja, sie war klug, hübsch und sehr gebildet. Außerdem sprach sie mehrere Sprachen. Ein Talent, das er nicht hatte. Mit ihr an seiner Seite hatte er einen fetten Pluspunkt, den Esterbauer mit seiner blassen, nichtssagenden Frau nicht gehabt hatte. Gedanklich wischte er seinen Kontrahenten beiseite, der war Geschichte. Marbach freute sich auf eine rosige Zukunft mit der klugen, hübschen Frau an seiner Seite.
Als Thiel zum vereinbarten Treffpunkt mit Marbach davonfuhr, stieg Martlmüller aus seinem Wagen und setzte sich zu Brigitte Dickmann in deren Wagen, der weitaus größer und protziger war, als seiner.
„Du sagst mir jetzt auf der Stelle, was los ist. Wo ist Esterbauer?“
„Habe ich nicht oft genug betont, dass ich es nicht weiß? Das Ganze ist komplett aus dem Ruder gelaufen. So sollte das alles nicht ablaufen. Esterbauer und seine Frau sollten nur verschwinden, ich habe niemals von Mord gesprochen.“ Brigitte Dickmann schlug mit der Hand aufs Lenkrad.
„Was ist passiert?“
„Das weiß ich nicht. Ich bekam heute Morgen lediglich einen Anruf, dass die Esterbauer erledigt wäre und Uwe verschwunden ist. Mehr erfahre ich heute Nachmittag um 16:00 Uhr.“
„Sind die Unterlagen wenigstens in Sicherheit?“
„Das weiß ich nicht, das erfahre ich auch heute Nachmittag. Ich habe Angst, Kilian. Wir hätten das nicht tun dürfen. Wir tragen Mitschuld am Tod der Frau.“
„Wir mussten handeln, Esterbauer ließ uns keine andere Wahl. Er wollte nicht nur uns beide vernichten, sondern auch der Partei schaden, und das konnten wir nicht zulassen. Heideroses Tod haben wir nicht zu verantworten. Er hätte nur das Geld annehmen und den Mund halten müssen, mehr nicht.“
„Verstehst du das denn nicht? Wir haben jemanden damit beauftragt, Esterbauer und seine Frau verschwinden zu lassen. Jetzt ist die Frau tot. Und ich habe keine Ahnung, was mit Uwe geschehen ist. Wir sind schuld an dem Ganzen, wir haben die Lawine losgetreten!“
„Das sehe ich anders. Wir wollten lediglich, dass die beiden bis nach der Wahl verschwinden, mehr nicht. Ich habe nie von Mord gesprochen. Du etwa?“
„Natürlich nicht! Niemals! Nach der Wahl wäre das Ausmaß des Skandals nicht mehr so wichtig gewesen, kaum jemand hätte sich dafür interessiert. Wir hätten bis dahin genug Zeit gehabt, Spuren zu vernichten und die Gelder in Kanäle verschwinden zu lassen, die so leicht keiner findet. Dafür habe ich einen Computerfreak engagiert, der aber dafür sicher noch mindestens eine Woche oder ein paar Tage länger braucht.“ Brigitte Dickmann machte eine Pause. „Vielleicht hätten wir Uwe doch noch dazu bringen können, von seinem Vorhaben abzulassen. Wenn wir wenigstens die Unterlagen hätten. Die Gefahr ist noch nicht vorüber, Kilian. Sollte Uwe doch noch auftauchen, ist alles vorbei.“
„Dann darf er nicht mehr auftauchen. Mach das heute Nachmittag deutlich, Geld spielt keine Rolle. Uwe muss weg. Wenn er erledigt ist, brauchen wir keine Angst mehr vor einer Enthüllung zu haben. Lass uns fahren, bevor Thiel Verdacht schöpft.“







