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„Wo waren Sie gestern Abend nach 17.00 Uhr?“
„Im Schützenhaus. Gestern war Vereinssitzung mit anschließendem Training. Ich war kurz nach 17.00 Uhr dort, das kann die Wirtin bestätigen. Ich ging erst nach Mitternacht. Da ich jetzt zwei Wochen Urlaub habe, konnte ich länger bleiben und auch mal ein Glas mehr trinken. Ich bin mit dem Taxi nach Hause, Quittung habe ich keine. Ich erinnere mich dass das Taxi die Nummer 66 hatte.“ Wieder lächelte er charmant.
„Das werden wir auf jeden Fall prüfen. Schreiben Sie uns bitte die Adresse Ihres Arbeitgebers und die Ihrer Vereinskammeraden auf.“
Simon Maurer notierte die Adressen mit sauberer Handschrift und gab Anna den Zettel, die ihm nun wiederum das Notizbuch zurückgab.
„Jetzt würde ich aber doch gerne wissen, was das hier soll und was ich mit der ganzen Sache zu tun habe.“
„Während einer Morduntersuchung sind Ihre Fingerabdrücke auf einem Messer aufgefunden worden und wir fragen uns natürlich, wie die da hinkommen.“
„Wie bitte? Ich verstehe nicht. Meine Fingerabdrücke? Das kann nicht sein.“
„Bei dem Messer handelt es sich um einen sogenannten Hirschfänger. Besitzen Sie solch ein Messer?“
„Ja sicher und zwar schon viele Jahre. Das Messer war ein Geschenk meines Großvaters zu meiner Konfirmation und sie können sich ausrechnen, wie lange das schon her ist. Den Hirschfänger habe ich noch nie benutzt, er liegt hier noch fabrikneu und in der Originalverpackung in der Schublade. Ein Andenken an meinen verstorbenen Großvater, von dem ich mich niemals trennen würde. Ab und zu nehme ich es heraus, sehe es mir an und denke an ihn, er war ein toller Typ. Eine Sentimentalität, ich weiß, aber ich kann eben nicht anders. Moment, ich zeige es Ihnen.“
Anna schmolz geradezu dahin, als sie die warmherzigen Worte hörte. Leo war das zuwider und ihn machte diese Geschichte eher misstrauisch. In seinen Augen war Maurer ein hervorragender Schauspieler.
Simon Maurer ging zum Wohnzimmerschrank und öffnete eine Schublade, kramte darin, fand aber offensichtlich nichts. Er öffnete die anderen Schubladen und suchte hektisch darin.
„Das gibt es doch nicht. Das Messer müsste hier sein. Es tut mir leid, ich kann es nicht finden. Aber es muss hier sein, ich verstehe das nicht. Erst vor ein paar Wochen habe ich es in den Händen gehabt.“ Simon Maurer war völlig verstört und verzweifelt, die Selbstsicherheit war verschwunden.
„Es hätte mich überrascht, wenn Sie es gefunden hätten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es bei uns liegt. Bitte verreisen Sie nicht und halten Sie sich zu unserer Verfügung.“
Anna und Leo ließen den überraschten Simon Maurer zurück und fuhren zu der angegebenen Adresse des Arbeitgebers, der Spedition Millthalter, da diese nur unweit von Maurers Wohnung entfernt war.
„Mein Name ist Leo Schwartz, Kripo Ulm, das ist meine Kollegin Anna Ravelli. Wer ist bei Ihnen für die Einteilung der Fahrer zuständig?“
Die kleine, dicke, ungepflegte Frau starrte die beiden an, sagte nichts, sondern zeigte auf einen älteren, übergewichtigen Mann mit Glatze, der gerade lautstark telefonierte. Sie warteten. Als der Mann aufgelegt hatte, traten sie an dessen Schreibtisch. Sie stellten sich abermals vor.
„Niederwinkler Alois, ich bin hier der Disponent. Mordkommission? Womit kann ich dienen?“
„Wir möchten von Ihnen wissen, wo Ihr Fahrer Simon Maurer am 09.07. gegen 15.00 Uhr war.“
„Der Simon war in Frankreich,“ kam es wie aus der Pistole geschossen. Alois Niederwinkler sprach in breitschwäbischen Dialekt. Er tippte auf der Tastatur seines Computers. „Die Fahrt war sehr lukrativ, ich kann mich noch sehr gut an den Auftrag erinnern: Aber das können wir uns gleich detailliert ansehen, denn unsere Lkws sind mit GPS ausgestattet, damit kann man alles lückenlos nachverfolgen. Hier habe ich die entsprechenden Daten, sehen Sie selbst.“
Leo las die Daten auf dem Bildschirm. Und tatsächlich: Simon Maurer war in Frankreich.
„Und das ist absolut sicher? Keine Manipulation möglich?“
„Noi, die Daten stimmen absolut. Simon war in Frankreich, daran gibt es keinen Zweifel.“
„Wer außer Ihnen hat noch mit der Einteilung der Fahrer zu tun?“
„Sie vermuten trotzdem eine Manipulation? Können Sie vergessen, außer mir teilt niemand die Fahrer ein. Das ist allein meine Arbeit, leider. Meine Kollegin, die sie vorhin kennenlernen durften, ist zu nichts zu gebrauchen. Entschuldigen Sie, aber die Wahrheit muss nun mal gesagt werden, auch wenn sie die Cousine vom Chef ist. Wir sind schon lange auf der Suche nach einer vernünftigen Arbeitskraft, aber das ist echt schwierig, Sie glauben nicht, wer sich hier vorstellt, wenn überhaupt jemand kommt. Diejenigen, die vom Arbeitsamt zu uns kommen wollen nur eine Bestätigung, dass sie sich vorgestellt haben. Und alle anderen Bewerber sind entweder ungeeignet oder absolut dämlich. Wenn Sie jemand wissen, schicken Sie ihn oder sie zu mir. Viele muss man nicht mitbringen. Wenn man lesen, schreiben und ein Telefon bedienen kann, und dann noch mindestens einen IQ im 2-stelligen Bereich hat, sind das schon super Voraussetzungen. Es wäre phantastisch, wenn ich beruflich etwas entlastet würde. Meinen letzten Urlaub hatte ich vor über drei Jahren. Jedes Jahr planen wir einen wunderschönen, gemeinsamen Urlaub, der dann doch ins Wasser fällt. Meine Frau glaubt schon nicht mehr daran.“
Leo mochte Alois Niederwinkler sofort, denn er war gerade heraus und hatte einen herrlichen hintergründigen Humor, den er sehr liebte. Noch stundenlang hätte er ihm zuhören können, aber das Telefon klingelte bereits wieder. Herr Niederwinkler verabschiedete sich und nahm das Gespräch entgegen, das jedoch schon beendet war, noch bevor sie aus der Tür draußen waren.
„Moment noch,“ rief Alois Niederwinkler ihnen hinterher, „ich kann mich daran erinnern, dass Simon während besagter Tour einen Strafzettel von den Franzosen kassiert hat. Fragen Sie ihn danach. So wie ich ihn kenne, hat der Strafzettel aufbewahrt. Ich bin ja davon überzeugt, dass diese Schneckenfresser regelrecht Jagd auf deutsche LKW machen. Die sind nicht nur sehr schnell mit ihren völlig überteuerten Strafzetteln, die natürlich an Ort und Stelle bezahlt werden müssen, sondern dazu auch noch sehr unfreundlich.“
Niederwinkler nahm kein Blatt vor den Mund.
Leo und Anna fuhren zurück ins Büro. Nach den Fingerabdrücken dachten sie eigentlich, dass sie den Fall sehr schnell abschließen konnten. Weit gefehlt. Der vermeintliche Täter hatte für die Tatzeit ein Alibi, und zwar ein absolut Wasserdichtes. Trotzdem riefen sie bei Simon Maurer bezüglich des Strafzettels an, der ihnen dies bestätigte und tatsächlich noch das Original in seinen Unterlagen hatte. Er scannte den Strafzettel ein und sandte ihn per Mail an die Kripo. Wenige Minuten später hatten sie ihn in der Hand: An dem Alibi von Simon Maurer war wirklich nicht zu wackeln.
Auch die Aussagen der Vereinskameraden bezüglich des gestrigen Abends waren einstimmig, auch der Taxifahrer konnte sich sofort an die Fahrt erinnern. Also konnte Maurer auch nicht in die Pathologie eingebrochen sein und dem Toten die Stichwunde zugefügt haben.
„So einen Blödsinn hatten wir bislang noch nicht. Das würde ja heißen, dass jemand nicht nur das Messer von Simon Maurer geklaut hat, sondern damit in die Pathologie eingebrochen ist und dem Toten Karl Rauschberger das Messer in den Leib gestoßen hat. Und das alles mit Handschuhen! Wer macht sich denn so eine Mühe?“
„Keine Ahnung, das ist mir auch ein Rätsel und ergibt für mich echt keinen Sinn. Es sieht fast so aus, als wollte jemand Simon Maurer absichtlich belasten. Der Mann ist ein sehr charmanter Mensch, das musst du zugeben. Schon die Stimme allein ist absolut sexy, ich könnte ihm stundenlang zuhören.“
„Was ist an dieser Stimme denn so besonders? Mir ist nichts aufgefallen. Und ich finde ihn nicht charmant, sondern aalglatt und schmierig.“
Leo war aufgefallen, dass Anna Maurer interessant fand. Er war einer dieser Typen, die bei Frauen gut ankamen und problemlos um den Finger winkelten. Ihm sind diese Männer sehr suspekt und daher war er ihnen gegenüber voreingenommen.
Das Telefon klingelte, Leo sprach nur wenige Worte.
„Der Chef möchte mich sprechen. Ich kann mir den Grund bereits denken.“
Sein Vorgesetzter Michael Zeitler war Christine Künstles Bruder und sie hatte ihn bestimmt schon informiert. Jetzt war er bestimmt sauer. Warum hatte sie ihm das nicht überlassen?
„Was geht in unserer Pathologie vor? Wer ist da eingebrochen und wer zum Teufel sticht auf eine Leiche ein und lässt das Messer liegen? Und warum werde ich davon erst über Umwege informiert?“
Ohne eine Begrüßung wurde Leo mit Fragen überhäuft, denn Michael Zeitler war kein Freund von langen Worten und überflüssigen Höflichkeitsfloskeln. Diese Umwege, von denen er sprach, hießen bestimmt Christine Künstle.
„Sorry, ich war eben auf den Weg zu Ihnen und wollte Sie informieren. Die Fingerabdrücke auf dem Messer konnten wir zuordnen, aber der Verdächtige hat ein wasserdichtes Alibi für den Mord und den Einbruch in die Pathologie. Er kann definitiv mit all dem nichts zu tun haben.“
„Dann machen Sie sich an die Arbeit und suchen Sie den Täter, und zwar so schnell wie möglich. Und ich rate Ihnen, davon nichts an die Presse durchsickern zu lassen. Was glauben Sie, was los ist, wenn das an die Öffentlichkeit gerät?“ Zeitler malte sich in den schillerndsten Farben aus, wie ihn die Presse belästigte und wie er sich auch bei seinen Vorgesetzten und vor dem Innenministerium rechtfertigen und erklären musste. Nein, das durfte nicht geschehen.
Für Zeitler war alles besprochen und mit einer Handbewegung entließ er Leo.
Leo und Anna nahmen sich nochmals das Umfeld und das frühere Leben des Opfers Karl Rauschberger vor. Zum Glück meldete sich nun endlich eine Realschule in Kirchentellinsfurt bei Tübingen, die bis vor 18 Jahren einen Karl Rauschberger beschäftigt hatte. Die Recherchen diesbezüglich liefen aber ins Leere: Er war ledig, hatte keine Kinder und keine näheren Verwandten. Zu früheren Kollegen hatte er keinen engeren Kontakt. Er galt als verschlossen und schüchterner Menschen, der seinerzeit aus persönlichen Gründen gekündigt hatte.
Die Polizei recherchierte vor Ort bei der letztgenannten Anschrift in Wannweil, aber auch hier bekamen sie eine negative Auskunft: Niemand konnte sich an Karl Rauschberger erinnern. Auch bei Versicherungen, Banken und Vereinen gab es von Rauschberger von einem auf dem anderen Tag keine Spur mehr. Verträge und Konten waren von ihm gekündigt worden. Es gab aus den Unterlagen nicht den kleinsten Hinweis oder Anhaltspunkt auf seinen weiteren Aufenthaltsort. Keine Adresse, keine Telefonnummer, noch nicht einmal ein Postfach. Nichts, absolut nichts. Als ob es diesen Menschen ab einem gewissen Zeitpunkt vor über 18 Jahren nicht mehr gegeben hätte. Für Leo war diese Tatsache nur schwer zu ertragen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es niemanden gäbe, der einen vermissen würde, wenn man nicht mehr da wäre. Karl Rauschberger würde in einem anonymen Grab auf billigste Art und Weise beerdigt werden und kein Mensch würde sich je an ihn und seinen Namen erinnern. Einfach schrecklich, und das in unserer heutigen total vernetzten und überwachten Zeit. Er rief in der Pathologie an und gab den Leichnam zur Bestattung frei. Auch Christine, die den Anruf entgegennahm, wusste, was das zu bedeuten hatte, und ihre Gedanken waren ähnlich gelagert. Aber es half nichts, so war nun mal das System und es gab Vorschriften, wie man in einem solchen Fall zu verfahren hatte.
Leo legte den Akt zu den unerledigten Fällen und nahm sich fest vor, diesen Fall nicht aus den Augen zu verlieren, denn der ging ihm ziemlich an die Nieren. Er fuhr nach Hause und löste unterwegs sein Versprechen bei den Obdachlosen ein, die sehr überrascht waren, als sie ihn und den Kasten Bier sahen.
Bei der Beisetzung zwei Tage später auf dem Ulmer Friedhof war neben Leo auch Christine gekommen, obwohl sie sich vorher nicht abgesprochen hatten.
„Was tust du denn hier?“ Leo könnte diese herzensgute Frau küssen.
„Sentimentalität,“ war die knappe Antwort, aber Leo verstand sie auch ohne weitere Erklärungen.
Die Zeremonie war trotz allem sehr schön und rührend, denn der junge Pfarrer fand genau die richtigen Worte. Trotzdem war diese Beerdigung anders als alle anderen. Es gab keine Blumen, keine Kränze und keine Grabreden. Es gab niemanden, der auch nur eine Träne vergoss und den Verlust des Mannes betrauerte. Nach knapp 20 Minuten war alles vorbei. Die Urne wurde in die Erde gesetzt und mit Erde bedeckt. Diese Bestattung wurde anonym als Baumbestattung vorgenommen, was für Leo und Christine völlig neu war.
„Hast du gewusst, was eine Baumbestattung ist? Ich kenne nur die Friedwälder und habe mir selbst einen solchen schon angesehen, denn ich möchte später niemanden mit der Pflege meines Grabes belasten.“
„Von diesen Baumbestattungen habe ich erst vor kurzem in der Tageszeitung gelesen, die sind eine Alternative zu den Friedwäldern. Die kompostierbare Urne wird dabei einfach an einem Baum vergraben, wofür die Friedhofsverwaltung einige Bäume freigegeben hat. Ich finde, das ist eine tolle Sache. Aber mach dir keine Sorgen Christine, ich würde mich gerne um dein Grab kümmern.“
„Jaja, das sagst du jetzt. Wer sagt denn, dass ich vor dir sterbe? So viel älter bin ich nun auch wieder nicht. Ich bin noch topfit und werde euch alle überleben. Warum warst du eigentlich hier? Hast du darauf gehofft, dass der Täter hier auftaucht?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich war nur hier, weil ich mir sicher war, dass zu der Beisetzung niemand kommt, der Gedanke daran hatte mir keine Ruhe gelassen. Und da ich Zeit hatte, bin ich eben hergefahren.“
Christine kommentierte das nicht weiter, hakte sich bei Leo unter und sie gingen zu ihrem Lieblingsitaliener.
Das Wochenende stand vor der Tür und Leo freute sich riesig darauf, wieder einmal über seine geliebte Schwäbische Alb zu wandern. Er fand immer wieder Ecken und Winkel, die er noch nie gesehen hatte und wo er kaum jemanden begegnete. Ganz früh morgens packte er seinen Rucksack. Nachdem er nach einer halben Stunde Fahrt gerade noch rechtzeitig einen verstecken Parkplatz von der Straße aus ausmachen konnte, parkte er und lief los. Das Wetter heute würde phantastisch werden. Die Vögel pfiffen und er konnte sogar einiges Rotwild entfernt beobachten; einfach herrlich. Der Herbst war noch in weiter Ferne. Noch vor dem Winter würde er noch einige Male auf der Alb wandern können, sofern ihm das Wetter und seine Arbeit keinen Strich durch die Rechnung machten. Er liebte das Wandern über die Schwäbische Alb. Hier konnte er seine Gedanken ordnen, in Ruhe nachdenken, Kraft tanken und so richtig abschalten.
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