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Ihre nächste Anlaufstelle befand sich in Altötting in der Neuöttinger Straße, die nicht weit vom Kapellplatz entfernt war. Leo parkte den Wagen wie früher auch in der Nähe des Kapellplatzes, was Hans nicht verstand.
„Warum fährst du nicht bis zur Neuöttinger Straße? Wir finden dort bestimmt in der Nähe des Hauses einen geeigneten Parkplatz, auch wenn heute Samstag und um die Uhrzeit bestimmt die Hölle los ist. Wir müssten nicht ewig weit laufen.“
„Beschwer‘ dich nicht mein Freund, etwas Bewegung wird dir guttun,“ lachte Leo, der in Wahrheit nur aus Gewohnheit hierher gefahren war. Beide kannten sich auch aufgrund des letzten Falles hier gut aus und besonders Leo hatte ein sehr mulmiges Gefühl im Magen, als er die Magdalenenkirche passierte. Er hielt kurz vor dem Kapuzinerkloster, an das er keine guten Erinnerungen hatte. Das Gesicht von Bruder Benedikt tauchte für einen Moment vor seinem Gesicht auf und er wurde traurig, denn dieser Bruder starb nach einem entbehrungs- und arbeitsreichen Leben, kurz nachdem Leo mit ihm gesprochen hatte.
„Trödel nicht rum,“ trieb Hans ihn an, der keinen weiteren Gedanken an die letzten Fälle verschwendete. Für ihn waren diese Fälle gelöst und längst vergessen, er hatte mit den Jahren gelernt, nur noch nach vorn zu schauen. Hans war grundsätzlich ganz anders als Leo. Er machte sich über andere Menschen kaum Gedanken, hing Vergangenem nicht hinterher – für ihn gab es nur das Jetzt und die Zukunft. Und die bestand darin, dass er sein Leben so lebte, wie er es für richtig hielt, ohne dabei andere zu verletzen. Nach dem gewaltsamen Tod seiner Doris vor über einem Jahr fiel er in ein tiefes Loch, aus dem er aber auch durch seine Einstellung unbeschadet wieder herauskam. Zum Glück, denn sonst wäre er für Lucrezia nicht offen gewesen, seine freche, vorlaute italienische Freundin, die er vor einigen Monaten während eines kniffligen Falles in Florenz kennen- und lieben gelernt hatte. Er hielt seine Beziehung vor seinen Freunden und Kollegen noch geheim, da er sich die Sprüche und Bemerkungen lebhaft vorstellen konnte, denen er dadurch ausgesetzt wäre. Lucrezia war seiner Meinung und ihre italienischen Kollegen vermuteten zwar, dass sie einen Freund hatte, aber sie genoss es, sie im Trüben fischen zu lassen. Beide hatten mehrere Beziehungen hinter sich und waren keine Teenager mehr, aber durch diese Heimlichkeiten hatten sie fast das Gefühl, nochmal so jung und unbefangen sein zu dürfen.
Nach nur zehn Minuten Marsch standen sie vor dem alten Haus in der Neuöttinger Straße, an dessen Tür nur eine schlichte, handgeschriebene Tafel mit dem Hinweis auf den russischen Verein angebracht war. Sie klingelten und klopften. Früher war das ein Einzelhandelsgeschäft gewesen, dessen Besitzer entweder aufgaben, oder keinen Nachfolger hatten, der das Geschäft weiterführen wollte. Leo war aufgefallen, dass es vielen Geschäften hier so zu gehen schien, denn alte Läden, die nach oder sogar noch vor dem Krieg voller Euphorie und Hoffnung geöffnet und geführt wurden, waren in den letzten Jahren geschlossen worden und standen leer. Aber so ist nun mal der Lauf der Zeit. Wenn man sich gegen die Konkurrenz nicht durchsetzen kann oder keinen geschäftstüchtigen Nachfolger hat, muss man gezwungenermaßen den Laden dicht machen.
Ein älterer Mann mit grauem Haar und Schnurrbart öffnete endlich vorsichtig die Tür. Leo und Hans stellten sich vor und bemerkten sofort das Misstrauen, das ihnen entgegenschlug.
„Herr Zwetkow? Leo Schwartz, Kriminalpolizei Mühldorf, das ist mein Kollege Hiebler. Wir haben unseren Besuch telefonisch angekündigt.“
„Richtig, Sie haben mit mir gesprochen. Mein Name ist Sergej Zwetkow. Ich heiße Sie herzlich willkommen, bitte kommen Sie herein.“
Sie folgten dem Mann durch das leere Ladengeschäft in das Treppenhaus, das nur mit einer nackten Glückbirne beleuchtet war. Leo roch den Duft vergangener Zeit und konnte sich lebhaft vorstellen, welches geschäftige Treiben hier früher stattgefunden haben durfte. Die Stufen der Treppe waren stark abgenutzt und er stellte sich vor, wie viele Generationen hier Tag für Tag auf- und abgegangen sein mussten. Zwetkow bot ihnen in einem der oberen Räume in einem mit alten Möbeln bunt zusammengewürfelten Zimmer Platz an. Das hier war so gar nicht mit dem ukrainischen Verein in Mühldorf zu vergleichen. Zwetkow bemerkte wohl, dass Leo sich nicht gerade begeistert umblickte.
„Entschuldigen Sie bitte den Zustand des Hauses. Wir sind erst vor wenigen Monaten Besitzer dieser Immobilie geworden und sind vorerst nur notdürftig eingezogen. Wir hatten anfangs noch nicht die Mittel, alles hübsch zu renovieren. Aber die Gelder sind aufgrund großzügiger Spenden jetzt verfügbar und die Handwerker sind bestellt; in vier Wochen geht es los. Danach werden Sie das alte Haus nicht wiedererkennen. Die frühere Besitzerin war eine Damenschneiderin, die leider kinderlos verstarb. Die Erben haben sich viele Jahre um die Immobilie gestritten, bis sie schließlich versteigert wurde. Natürlich ist der Zustand nach der Zeit nicht sehr gut, aber wir haben wenig dafür bezahlt und freuen uns darauf, dass wir in absehbarer Zeit einen schönen Ort der Gemeinsamkeit haben werden, den wir dringend brauchen. Altötting hat sehr viele russische Zuwanderer, die unsere Hilfe und die Gemeinschaft Gleichgesinnter brauchen, mit denen sie ihre Freizeit verbringen können.“
„Verstehe ich nicht,“ sagte Leo, der keinen Sinn darin sah, dass sich Menschen aus dem gleichen Land auf der ganzen Welt immer zusammenrotten müssen, auch wenn sie sich nicht mochten. Egal, in welchem Land er bisher war, überall wurde er von Deutschen angesprochen und man erwartete, dass man sich zusammentat. Wenn man sich gegenseitig unterstützt und die Eingewöhnung leichter macht, dann macht das Sinn, aber nur für die Freizeitgestaltung?
„Wir Russen sind hier Fremde und werden in Bayern nicht gerne gesehen. Es wird bestimmt weitere Generationen und viel Arbeit der Politiker benötigen, bis wir dazugehören. Auch wenn wir hier arbeiten und Steuern bezahlen, gehören wir doch nicht dazu. Es wird zwar immer Toleranz und Integration gepredigt, vor allem, wenn irgendwo schreckliche Übergriffe auf Migranten stattfinden. Aber im wahren Leben, im täglichen Miteinander sieht das immer noch ganz anders aus. Schon allein der Name stempelt uns als Russen ab, und wenn man dann noch einen Akzent in der Sprache hat, hat man verloren. Die Deutschen sind eben noch nicht so weit.“
Leo ärgerte sich über diese Einschätzung, auch wenn Zwetkow wahrscheinlich aus persönlicher Erfahrung sprach. Trotzdem konnte er das nicht einfach so stehen lassen.
„Es tut mir leid, wenn Sie den Eindruck von uns Deutschen haben. Aber das ist kein deutsches Problem, sondern ein weltweites. Wenn ich als Deutscher im Ausland bin, werde ich auch dort sofort abgestempelt. Alle anderen Länder haben auch gegen uns Deutsche Vorurteile, denen wir ausgesetzt sind. Es mag sein, dass die Migrations-Politik und die Toleranz noch nicht überall angekommen sind, aber ich bin stolz auf unseren Staat und unsere Politik, die für meine Begriffe in die richtige Richtung geht. Sicher gibt es Schwachpunkte, Politiker sind auch nur Menschen. Aber trotzdem möchte ich Ihre Einschätzung nicht pauschalieren. Meine Kollegen und ich, sowie auch meine Freunde sind Migranten gegenüber nicht negativ eingestellt, für uns zählt nur der Mensch selber, nicht die Herkunft. Ein Deutscher sagt gerne: der Russe! Oder die Russen! Das ist oft nicht abwertend gemeint. Ich bin nicht aus Bayern, sondern aus Baden-Württemberg und auch ich höre immer wieder: der Schwabe – und das verstehe ich nicht als Beleidigung, das sagt man nun mal so.“ Das stimmte so nicht ganz, denn Leo stieß mit seiner Herkunft auch immer wieder auf Abneigung, aber das interessierte ihn nicht. Die, die ihn wegen seines Dialekts sofort ablehnten, waren für ihn dumm und ungebildet, und mit denen wollte er sowieso nichts zu tun haben. Aber das waren wenige Ausnahmen, die er nicht ernst nahm und die er nicht an sich ranließ. „Und um das Ganze jetzt abzuschließen möchte ich noch anmerken, dass ich es nicht gut finde, dass es Ziel dieses Vereins ist, unter sich zu bleiben und gemeinsam die Freizeit zu verbringen. Gehen Sie raus! Laden Sie Bürger, Nachbarn, Arbeitskollegen ein! Dann werden Sie feststellen, dass es sehr viele gibt, die meine Meinung teilen und den Migranten, im Speziellen den Russen, offen gegenüberstehen. Nur was einem fremd ist, fürchtet man.“
„Und dumme Menschen können Sie nicht ändern, die können sie nur ignorieren,“ sagte Hans, der Leo in allem absolut Recht gab. Er hatte Freunde mit Migrationshintergrund, von denen er wusste, dass sie es auch schwer haben, ganz abgesehen von seiner italienischen Freundin. Aber die Zahl derer, die intelligent und offen mit Ausländern und Migranten umgingen, stieg zum Glück von Tag zu Tag. Erst gestern hatte er im Fernsehen gesehen, wie viele Menschen für Menschenrechte und Zuwanderung auf die Straße gingen und dem Fremdenhass und den damit verbundenen Vorurteilen entgegenzutreten. Leo hatte Recht, alles ging in die richtige Richtung. Aber alles braucht seine Zeit und geht nicht von heute auf morgen.
Zwetkow war sprachlos und sah die beiden Polizisten erstaunt an. Man konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Lagen dieser komisch gekleidete, riesige Polizist und sein gutriechender und gutaussehender Partner richtig mit ihren Aussagen? Pauschalierte er aufgrund weniger persönlicher Erfahrungen und scherte alle Deutschen speziell die Bayern über einen Kamm? Machte er es sich vielleicht zu leicht? Der Ansatz dieses Herrn Schwartz war nicht so schlecht, das musste er bei nächster Gelegenheit mit seinen Freunden besprechen. Aber das würde er hier und jetzt nicht zugeben, das würde für ihn Schwäche bedeuten, die er nicht zeigen wollte.
„Ich danke Ihnen für Ihre ehrlichen, offenen Worte. Warum sind Sie hier? Wie kann ich Ihnen helfen?“
Leo zog die Fotos der Toten aus seiner Jackentasche.
„Wir haben diese Frau tot aufgefunden. Nach unseren Informationen handelt es sich bei der Frau um eine Russin oder Ukrainerin.“
Sergej Zwetkow besah sich die Fotos sehr genau und schüttelte schließlich den Kopf.
„Ich kenne die Frau nicht. Aber das heißt nicht, dass es sich nicht doch um eine Russin handelt. Nicht alle meiner Landsleute kommen zu uns, viele lehnen uns und unseren Verein ab.“ Zwetkow hatte in der Vergangenheit mehrfach neu eingereiste Landsleute angesprochen und eingeladen, aber vermehrt Absagen kassiert. „Haben Sie schon bei den Ukrainern nachgefragt? In Mühldorf gibt es einen Verein.“
„Dort waren wir schon. Herr Makarenko kennt die Frau ebenfalls nicht, möchte aber bei den morgigen Treffen seine Landsleute befragen. Kennen Sie Herrn Makarenko?“
Sofort veränderte sich der Gesichtsausdruck von Zwetkow und er wandte sich auch körperlich etwas ab, wodurch man die Abneigung sofort spürte.
„Das sind Ukrainer,“ sagte er nur.
„Das glaube ich jetzt nicht! Sie verurteilen die Deutschen, weil sie Sie nicht mit offenen Armen empfangen und mögen die Ukrainer nicht? Warum? Sie sitzen doch im gleichen Boot. Bevor Sie Toleranz und Integration fordern, würde ich lieber bei Ihnen selbst anfangen.“ Leo konnte sich diese Bemerkung nicht verkneifen und wollte nur noch weg hier. Der Tag war bisher beschissen gelaufen, er hatte sich mehr von den Befragungen versprochen. Er hatte genug und brauchte dringend eine Pause. „Wir lassen Ihnen die Fotos der Toten hier. Zeigen Sie sie ihren Landsleuten und melden Sie sich bei uns, wenn jemand die Frau erkennt.“
Leo ging davon und murmelte nur einen leisen Gruß, Hans folgte ihm. Auch er hatte genug, aber er war amüsiert über Leos Offenheit, mit der er diesem Zwetkow einheizte. Wer weiß, vielleicht musste dieser Schwabe kommen, um diesem Russen einen Spiegel vorzuhalten. Denn dass diese Klatsche gesessen hatte, war sicher. Schweigend gingen sie zurück zu ihrem Wagen, wobei Leo diesmal das Kapuzinerkloster und die Magdalenenkirche ignorierte, so sehr ärgerte er sich über diesen Zwetkow und seine Einstellung. Sie stiegen in den Wagen und fuhren nach Mühldorf.
„Jetzt beruhige dich endlich, du allein kannst die Welt nicht ändern,“ sagte Hans genervt, als er mehrfach versucht hatte, Leo in ein Gespräch zu verwickeln, und dieser aber nicht reagierte.
„Das weiß ich auch. Aber es regt mich tierisch auf, dass manche Toleranz erwarten, sie aber selbst nicht leben. Wie soll sich da irgendetwas ändern? Man muss sich kennenlernen und gegenseitig aufeinander ohne Vorbehalte zugehen.“
„Du bist und bleibst ein Traumtänzer. Ich bin auch der Meinung, dass unsere Gesellschaft in die richtige Richtung geht. Aber wir beide werden es nicht mehr erleben, dass Menschen verschiedener Herkunft, Kultur, politischer Richtung und vor allem unterschiedlicher Religion friedlich nebeneinander leben.“
„Schon alleine diese jahrhundertlangen Kriege um Religion. Für mich ist jeder Gott akzeptabel, solange es ein guter, gütiger Gott ist. Von mir aus darf jeder seinen Gott haben, es ist doch auf der ganzen Welt genug Platz dafür.“
Mit Leo war wirklich nicht mehr zu reden und da Hans am Steuer saß, lenkte er den Wagen auf den Parkplatz einer Pizzeria in Mühldorf.
„Keine Widerrede – du isst jetzt erst mal was, bevor du noch ausflippst. Du musst runterkommen und dich wieder beruhigen. Außerdem wird es Zeit, dass du endlich Urlaub bekommst, das ist ja nicht mehr zum Aushalten.“
„Du hast gut reden,“ sagte Leo, der für diese Ablenkung sehr dankbar war. Er war wirklich hungrig und bei diesem Italiener war er schon lange nicht mehr. „Du hast in letzter Zeit genug Ablenkung und freie Tage gehabt. Wie geht es Lucrezia?“
„Was? Wie? Du weißt von uns?“ Hans war erschrocken, denn bis jetzt war er sehr diskret gewesen und war sich sicher, dass niemand von ihm und seiner Lucrezia wusste.
„Denkst du, ich bin blöd? Ich weiß das schon seit dem Adlerholz-Fall. Ich kenne dich Hans, sogar besser, als du dir vorstellen kannst.“
Hans erzählte während dem Essen ausführlich von Lucrezia und seinen Aufenthalten in Florenz und den Besuchen seiner italienischen Freundin hier in Mühldorf; er ließ sich auch durch das Essen nicht unterbrechen. Es tat Hans sehr gut, endlich mit jemandem über seine Beziehung zu Lucrezia zu sprechen und Leo kam dadurch endlich auf andere Gedanken. Er freute sich für seinen Freund und Kollegen und bemerkte das Leuchten in seinen Augen, dass er seit der Zeit mit der getöteten Doris nicht mehr gesehen hatte. Damals hatte er sich um Hans große Sorgen gemacht, aber jetzt strahlte er wieder und war glücklich. Und Lucrezia war genau die richtige für ihn. Sie war voller Leben, dazu witzig, intelligent und sehr laut. Hans brauchte eine Frau, auf die er sich blind verlassen konnte und die mit seinem Tempo mithalten konnte – und das war für Lucrezia kein Problem, denn sie hatte ein Temperament, bei dem sich Hans ordentlich anstrengen musste, um ihr folgen zu können.
„Wo bleibt ihr denn so lange?“, empfing Viktoria ihre Kollegen. Sie hatte sich bereits Sorgen gemacht. Außerdem war sie es nicht gewohnt, so lange Zeit alleine im Büro zu arbeiten, diese Ruhe war fast unheimlich.
Leo erzählte ausführlich über die Gespräche mit Makarenko und Zwetkow - und regte sich erneut auf. Viktoria fand die richtigen Worte, um ihn zu beruhigen. Sie hatte keine Lust, mit ihm über Politik und die aktuelle Lage zu diskutieren, darin konnte Leo richtig aufgehen, wenn ihn ein Thema interessierte.
„Ich habe von den Meldebehörden die Adresse von vier Frauen bekommen, auf die die Beschreibung passen würde; eine aus der Ukraine und drei aus Russland. Eine der Frauen habe ich zum Glück in Mühldorf angetroffen, sie ist wohlauf. Ich habe ihr das Foto des Opfers gezeigt, auch sie kennt die Tote nicht. Die drei anderen habe ich noch nicht erreicht. Ich halte es auch für besser, wenn man zu zweit loszieht, ist auch Vorschrift. Ich habe mir einen entsprechenden Rüffel bereits von Krohmer eingeholt, der es überhaupt nicht gut fand, dass ich alleine unterwegs war, um die Frauen aufzusuchen. Die Behörden waren okay, aber direkt zu den Adressen zu fahren ist dann doch etwas anderes. Mir blieb aber nichts anderes übrig, schließlich hat Krohmer noch keinen Ersatz für Werner bekommen. Außerdem habe ich veranlasst, dass das Foto der Toten in den Medien erscheint, das Übliche eben.“
„Du spinnst doch total,“ sagte Leo verärgert. „Wir hatten besprochen, dass du zu den Behörden alleine gehst, von etwas anderem war nie die Rede. Den Rüffel von Krohmer hast du dir redlich verdient. Ich will mir überhaupt nicht vorstellen, was hätte passieren können!“
Die drei zogen am Nachmittag gemeinsam los, um die anderen drei Frauen aufzusuchen, was sich als sehr mühsam und nervenaufreibend darstellte. Sie wurden nicht mit offenen Armen empfangen. Überall, wo sie auftauchten, schlug ihnen Misstrauen entgegen. Besonders die Männer waren zwar freundlich, wurden aber sauer, wenn es um ihre Frauen ging.
„Das ist meine Frau. Alles in Ordnung.“ Die erste Frau konnte von der Liste gestrichen werden.
Dann waren nur noch zwei Frauen in Altötting, aber auch die trafen sie wohlbehalten an. Allen zeigten sie Fotos des Opfers.
„Und jetzt? Keiner kennt die Tote.“
„Dann müssen wir wohl oder übel warten, ob sich irgendjemand bei uns meldet, der die Frau kennt.“
Auf Krohmers Anweisung blieben die Beamten am Sonntag zuhause und ruhten sich aus. Ihnen waren die Hände gebunden, es gab nicht die kleinste Spur, der sie nachgehen konnten. Anfangs waren sie enttäuscht über die unerwartete Zwangspause, genossen aber einen ruhigen Tag, an dem sie die Gedanken an die unbekannte tote Frau und die damit verbundenen seltsamen Umstände trotzdem nicht in Ruhe ließen.
3.
„Ich darf Ihnen den Kollegen Sebastian Kranzbichler vorstellen. Er wird die Mordkommission für die Zeit der Abwesenheit von Werner Grössert unterstützen,“ empfing Rudolf Krohmer seine Beamten im Besprechungszimmer. Er hatte sich eine halbe Stunde verspätet, der Grund lag nun auf der Hand.
Der dicke, kurzhaarige und sehr große 30-jährige Kranzbichler strahlte mit seinen roten Bäckchen übers ganze Gesicht, als er jedem die Hand gab. Er trug einen grauen Anzug, der so aussah, als besäße er ihn seit seiner Konfirmation, er passte hinten und vorne nicht. Das weiße Hemd spannte über dem Bauch und die Krawatte, die schon längst aus der Mode war, saß völlig schief.
„Herr Kranzbichler wurde uns wärmstens empfohlen und ich bin sehr glücklich, dass die Vertretung so schnell geklappt hat. Herr Grössert hat sich gemeldet und wird wohl länger ausfallen, bei seiner Frau traten größere Komplikationen auf.“
„Schlimm?“ Die Kollegen machten sich große Sorgen, denn Grössert und auch seine Frau neigten nicht zu Übertreibungen. Es mussten gravierende Gründe vorliegen.
„Ich habe nur so viel verstanden, dass es nicht gut aussieht. Grössert hat versprochen, uns auf dem Laufenden zu halten. Aber das ist jetzt nicht unser Thema und gehört hier nicht her. Der Kollege Kranzbichler bleibt bis zur Rückkehr des Kollegen Grössert in unserem Team.“ Krohmer war sichtlich stolz auf den Zuwachs seiner Mannschaft, der nur wegen seiner Kontakte so schnell zur Verfügung stand. Normalerweise dauerte so etwas viel länger und jetzt war die Vertretung bereits nach zwei Tagen hier. Aber durch den kurzen Anruf des Kollegen Grössert, war er sehr beunruhigt. Aber darum würde er sich später kümmern.
„Wenn Sie den Kollegen unter Ihre Fittiche nehmen Frau Untermaier? Bei Ihnen ist er am besten aufgehoben.“
„Sehr gerne.“ Natürlich wäre sie viel lieber mit Leo als Team unterwegs, denn sie ergänzten sich hervorragend. Aber so gereizt, wie Leo momentan war, war es auf jeden Fall besser, wenn der Neue sie begleitete.
Frau Gutbrod trat ohne Klopfen ins Besprechungszimmer, denn sie hatte nichts von der heutigen Besprechung mitbekommen, gerade auf dem Flur erfuhr sie erst von dem neuen Kollegen. Warum war der hier? Krohmers neugierige Sekretärin war am Wochenende zuhause und kam heute später, da sie noch einen Termin hatte. Die 62-jährige Hilde Gutbrod hatte den Samstag genutzt, um sich frisch aufspritzen zu lassen, wodurch sie zumindest im Gesicht wieder etwas jünger aussah, was nun wiederum zum Rest nicht mehr passte. Aber Frau Gutbrod fand sich wunderschön und für ihr Alter sehr jung, was sie auch mit ihrer Kleidung zum Ausdruck brachte: Das weiße Kostüm war sehr, sehr kurz, dafür waren die Absätze ihrer neuen Schuhe umso höher. Bei jeder ihrer Bewegungen klimperte und glitzerte es. Auch das dick aufgetragene Make-up stach heute besonders hervor. Sie setzte sich und besah sich den neuen Kollegen von oben bis unten – und er gefiel ihr überhaupt nicht. Erst jetzt sah sie in die Runde. Was machte Leo Schwartz hier? Hatte er nicht Urlaub? Und wo war der Kollege Grössert? Schnell kombinierte sie, dass dieser Neue für den Kollegen Grössert hier war – aber warum? Sie musste so schnell wie möglich herausbekommen, was dahintersteckte!
„Frau Gutbrod, welch Glanz in unserer Hütte! Da sind Sie ja endlich, wir haben Sie schon vermisst! Sie sehen ja wieder phantastisch aus – sind Sie übers Wochenende in einen Jungbrunnen gefallen?“, rief Hans Hiebler erfreut aus. Aber Frau Gutbrod verstand sofort den Sarkasmus, denn die beiden verstanden sich nicht besonders gut. Mehr als einmal hatte Hans sie beim Lauschen erwischt und machte sich einen Spaß daraus, ihr das bei jeder Gelegenheit unter die Nase zu reiben. Krohmer stellte ihr den neuen Kollegen Kranzbichler vor, an dem sie aber kein Interesse hatte und ihn deshalb nur beiläufig begrüßte.
Hilde Gutbrod war im Rückstand und musste sich dringend über den aktuellen Fall informieren. Sie hatte bereits durch die Sekretärin der Spurensicherung mitbekommen, dass der neue Fall sehr interessant und knifflig war. Sie griff nach Krohmers Ermittlungsakte, als der einen Moment unaufmerksam war. Als sie sich die Fotos angesehen hatte, erschauerte sie, denn so ein Hexenkostüm hatte sie noch nie gesehen und mit Fasching hatte sie überhaupt nichts am Hut. Sie mochte keine Betrunkenen und diese aufgezwungene Fröhlichkeit war ihr zuwider. Zumindest in diesem Punkt war sie sich mit Leo Schwartz einig. Sie schenkte nun reihum Kaffee ein und besah sich den neuen Kollegen nochmals in aller Ruhe, was allgemein amüsiert beobachtet wurde. Krohmer war das Verhalten seiner Sekretärin überaus unangenehm. Aber Frau Gutbrod interessierte sich nicht für die Meinung der anderen. Es war ihr gutes Recht, sich den Neuen genauer anzusehen. Der Mann war zu dick, sah aus wie ein Bauer, und für ihre Nichte Karin absolut nichts. Noch immer suchte sie für ihre unvermittelbare Nichte Karin einen geeigneten Mann. Bei jeder Gelegenheit bot sie ihre Nichte an wie sauer Bier, was allen gehörig auf die Nerven ging. Karin bekam das nicht richtig mit, denn sie war nicht die hellste Kerze auf der Torte, hatte ein einfaches Gemüt. Sie war nur an ihrem Aussehen und ihrer Kleidung interessiert – und natürlich an einem potentiellen Mann. Frau Gutbrod hakte diesen Mann gedanklich ab und setzte sich wieder. Was hatte sie verpasst? Wenn ihr gestern nicht dieser blöde Nagel abgebrochen wäre, hätte sie sich den Termin bei ihrer Nageldesignerin heute früh sparen können. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als diesen Fauxpas sofort zu beheben – wie hätte das denn ausgesehen?
Leo informierte Krohmer über den neuesten Stand und Frau Gutbrod atmete erleichtert auf, sie war nicht zu spät hinzugestoßen.
„Das sieht doch bis jetzt nicht schlecht aus,“ sagte Krohmer bemüht freundlich, denn vor dem Neuen musste er sich zusammenreißen. Natürlich war er nicht erfreut darüber, dass die Identität der Toten noch nicht feststand. „Haben Sie aus der Pathologie noch andere Erkenntnisse mitgebracht, die uns weiterhelfen können? Konnte die Todesursache nun einwandfrei festgestellt werden?“, fragte er nun Fuchs, der endlich seinen großen Auftritt hatte, auf den er schon lange gewartet hatte. Was interessierte ihn dieser neue Kollege? Ob nun der oder die anderen, das war ihm vollkommen egal. Ihm war nur wichtig, dass er seine Arbeit vernünftig machen konnte. Und diese schreckliche Frau Gutbrod war ihm auch ein Dorn im Auge. Was hatte sie eigentlich als Sekretärin bei diesen Besprechungen verloren? Sie zog das Ganze hier unendlich in die Länge und genoss einen Sonderstatus, den er nicht verstand. Aber sei’s drum – jetzt war er endlich an der Reihe!