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„Im Großen und Ganzen hat sich der Bericht, den ich Herrn Schwartz telefonisch übermittelt habe, bestätigt,“ begann er seinen Bericht, den er sich auf der Rückfahrt aus München zurechtgelegt hatte. Auch am gestrigen Sonntag hatte er noch daran gefeilt und war gut vorbereitet. Ursprünglich wollte er seinen ausführlichen Bericht mit Fachwissen spicken, um die Kollegen damit zu ärgern und um ihnen dadurch zu suggerieren, dass er ihnen haushoch überlegen war. Aber Krohmer hatte ihn vorhin darum gebeten, vor dem neuen Kollegen sachlich zu bleiben und seine Ausführungen so einfach wie möglich zu halten. Nicht, dass sich der neue Kollege dumm vorkommt. Natürlich musste Fuchs sich fügen, schließlich war Krohmer der Chef. Jetzt musste er sich jeden Satz genau überlegen, bevor er etwas sagte. Er räusperte sich und fuhr fort, da nun alle Aufmerksamkeit auf ihm lag. „Die Todesursache konnte eindeutig nachgewiesen werden. Das Opfer wurde betäubt und dann mit einer Überdosis Insulin getötet. Ich habe mehrere Kopien des Pathologieberichts angefertigt,“ sagte Fuchs nicht ohne Stolz und zog aus seiner Tasche sauber angefertigte Berichte, die er reihum gab.
„Insulin?“
„Das sagte ich eben. Der Tod trat durch eine Überdosis Insulin ein, die dem Opfer durch die Bauchdecke verabreicht wurde. Zum Glück wurde die Leiche schnell genug gefunden, denn je mehr Zeit nach dem Tod durch eine Überdosis Insulin verstreicht, desto geringer wird die Möglichkeit, Insulin im Körper nachzuweisen. Schon nach vier bis fünf Stunden hat man fast keine Chance mehr für einen Nachweis.“
„Insulin also. Wie hoch muss die Dosis sein? Wo kommt das Insulin her?“
„Im vorliegenden Fall wurde eine sehr hohe Dosis verabreicht, woraus ich schließe, dass der Täter die tödliche Dosis nicht kannte oder sicher gehen wollte, dass das Opfer auf jeden Fall stirbt. Die Herkunft des Insulins ist nicht nachweisbar. Insulin ist in Deutschland verschreibungspflichtig. Das heißt, dass das Medikament nur gegen ein gültiges Rezept ausgehändigt wird. Es sei denn, es handelt sich um einen Notfall und dem Apotheker ist bekannt, dass der Patient Diabetiker ist. Und auch dann kommt es häufig vor, dass sich die Apotheken aufgrund von späteren Repressalien weigern, Insulin auszuhändigen und rufen lieber den Notarzt oder verweisen auf das nächste Krankenhaus.“
„Ich glaube ja, dass man leicht an Insulin rankommt, auch wenn die Gesetze noch so streng sind.“
„Ganz so einfach ist das in Deutschland nicht, Kollege Hiebler. Auch wenn ein Arzt anruft und um Insulin bittet, darf der Apotheker dieses Medikament nicht ausgeben. Aber,“ und dabei sah er in die Runde und machte dabei eine längere Pause, „in Österreich ist es kein so großes Problem, an Insulin ranzukommen. Bei unseren Nachbarn sind die Gesetze anders gelagert und man bekommt Insulin in fast jeder Apotheke und sogar über den Online-Medikamentenhandel, wenn man seinen Wohnsitz in Österreich hat. Aber das zu umgehen ist eine Kleinigkeit. Soweit ich informiert bin, ist die Insulinbeschaffung in Tschechien und Polen ebenfalls einfach. Allerdings gibt es dort nur inländische Beipackzettel und es gelten dort andere Medikamenten-Gesetze, wodurch es für einen Patienten gefährlich sein kann, sich dort mit Insulin zu versorgen, denn die vom Arzt festgestellte Dosis sollte strikt eingehalten werden.“
„Womit wurde das Opfer betäubt?“
„Der Pathologe tippt auf KO-Tropfen, aber dazu stehen noch einige Tests an.“
„Im Grunde genommen auch egal, denn solche Substanzen kann man sich in Deutschland problemlos übers Internet oder auf dem Schwarzmarkt besorgen,“ sagte Leo. „Viel wichtiger ist das Insulin. Aber wenn das in anderen Ländern problemlos zu beschaffen ist, dann verschwenden wir damit nur unnötig Zeit.“
„Danke für den ausführlichen Bericht, Kollege Fuchs. Dann wissen wir jetzt endlich die Todesursache, die für meine Begriffe sehr ungewöhnlich ist, fast human,“ sagte Krohmer.
„Was soll denn an einem Mord human sein? Gut, das Opfer musste nicht leiden, aber Mord ist Mord. Ob nun human, oder nicht,“ sagte Leo.
„So habe ich das nicht gemeint. Aber die Todesursache sollten Sie nicht aus den Augen verlieren. Es sieht so aus, als ob der Täter sein Opfer nicht leiden lassen wollte, was nach einem persönlichen Bezug zum Opfer aussieht. Oder nach einer Frau.“
„Chef, das glauben Sie jetzt aber nicht selber, oder? Das Opfer wurde zwar ordentlich am Pestfriedhof platziert, was durchaus Ihre Theorie unterstützen würde. Aber für mich sieht es so aus, als sollte die Leiche nicht so schnell gefunden werden, wodurch die Todesursache nicht mehr nachweisbar gewesen wäre. Ich schlage vor, dass wir für alles offen sind und so ermitteln, als wäre jeder verdächtig. Der Täter muss keine Frau sein und er muss auch nicht aus dem persönlichen Umfeld des Opfers kommen.“ Viktoria wurde immer besonders misstrauisch, wenn Fakten allzu deutlich waren, und sie konnte es überhaupt nicht leiden, wenn solche Vermutungen besonders zu Beginn der Ermittlungen ausgesprochen wurden.
„Wie dem auch sei,“ sagte Krohmer, der sich über die Belehrung ärgerte. Eine entsprechende Antwort lag ihm schon auf der Zunge, aber wegen des neuen Kollegen hielt er sich zurück. „Wir sollten nun mit Hochdruck zuerst daran arbeiten, herauszufinden, um wen es sich bei der Toten handelt. Irgendjemand muss sie doch vermissen.“
„Ach du großer Gott,“ rief Frau Gutbrod laut und zog einen Zettel aus ihrer Jackentasche. „Vorhin bekam ich einen Anruf von einer Frau Schmied aus Kastl wegen der unbekannten Toten in der Zeitung. Sie ist sich sicher, dass Sie die Tote kennt,“ las sie vom Zettel ab.
Krohmer sah seine Sekretärin vorwurfsvoll an, denn diese Information hätte sie umgehend weiterleiten müssen. Sie suchten schließlich nach der Identität des Opfers, das durfte ihr doch inzwischen nicht entgangen sein. Natürlich bemerkte Frau Gutbrod den Blick und fügte schnell hinzu: „Ich habe Frau Schmied umgehend hierher beordert. Sie dürfte eigentlich schon hier sein.“ Sie sprang auf und lief direkt zum Empfang, wo eine 52-jährige Frau saß und wartete.
„Sind Sie Frau Schmied?“ Die Frau stand auf und nickte. „Mein Name ist Gutbrod, wir haben heute miteinander gesprochen. Schön, dass Sie so schnell kommen konnten. Kommen Sie bitte mit, die Kommissare sind schon gespannt auf Ihre Aussage.“
Frau Gutbrod brachte die Zeugin direkt ins Besprechungszimmer.
„Setzen Sie sich bitte. Sie kennen die Tote?“
„Ja und ich bin mir ganz sicher. Das ist Katharina Zirbner vom Zirbner-Hof in Kastl. Ich kenne sie von meinen Spaziergängen, einer meiner Wege führt nahe am Zirbner-Hof vorbei. Dort haben wir das eine oder andere Wort gewechselt, wenn ich sie allein angetroffen habe und die alte Zirbnerin nicht auf sie aufgepasst hat. Die alte Zirbnerin ist ein schreckliches Weib, immer mürrisch und dazu auch noch boshaft – und mittendrin die feine, freundliche und sehr hübsche Katharina, die auch in Arbeitskleidung immer top ausgesehen hat. Schon lange habe ich vermutet, dass das mit der Katharina nicht gut endet.“
„Wie meinen Sie das?“
„Na, der Zirbner Sepp hat die Katharina quasi aus dem Katalog gekauft, das weiß in Kastl jeder. Was glauben Sie, was das für ein Skandal war, als der Sepp mit einer Russin ankam. Sie wird niemals in Kastl akzeptiert werden, immer eine Außenseiterin bleiben. Für eine junge Frau ist das der Horror. Und dazu die schwere Arbeit und die böse Schwiegermutter. Katharina hatte Freude an Musik und Kultur. Beides ist für den Sepp nichts, der kennt außer dem Schützenverein und der Feuerwehr doch nichts. Er geht ja nicht mal ins Wirtshaus. Sein Leben ist die Arbeit auf dem Hof. Früher war der Zirbner-Hof ziemlich runtergewirtschaftet. Sepps Eltern hatten versäumt, Geld in den Hof zu investieren und zu modernisieren. Sie haben viel zu lange an dem alten Zopf festgehalten, das geht irgendwann schief. Als der Sepp das Ruder nach dem Tod seines Vaters übernahm, ging er mit Eifer an die Arbeit und hat den Hof wieder auf Vordermann gebracht. Wenn man heute daran vorbeigeht, kann man die Veränderung kaum glauben. Der Sepp hat Tag und Nacht gearbeitet. Kein Wochenende, kein Urlaub, einfach nichts. Jeden Cent hat er in den Hof gesteckt und nur noch dafür gelebt. Da bleibt das Privatleben natürlich auf der Strecke.“
„Wie und wo hat dieser Sepp Zirbner seine Frau kennengelernt?“
„Ich weiß es nur gerüchteweise. Womit ich mir ganz sicher bin ist diese Partneragentur in Waldkraiburg, die offenbar russische Frauen an heiratswillige Deutsche vermittelt. Und der Sepp hat das meiner Meinung nach gemacht, weil er die ganzen Jahre wegen der vielen Arbeit und auch wegen seiner keifenden Mutter keine Frau gefunden hat. Ist ja auch eigentlich nichts dagegen einzuwenden, schließlich gibt es Partnervermittlungen wie Sand am Meer und der Sepp ist auch nur ein Mann und hatte wohl die Einsamkeit satt. Anfangs hat er gestrahlt und war immer gut gelaunt, hat sogar das eine oder andere Schwätzchen mit den Nachbarn und auch mit mir gehalten. Das hat sich dann geändert, als die Gerüchte und dummen Sprüche einfach nicht abrissen. In Kastl waren er, seine Frau und die Geschichte mit der Partnervermittlung lange Zeit Ortsgespräch. Jeder hat seinen Senf dazugegeben, das können Sie sich ja vorstellen. Vor allem die alte Zirbnerin hat gezetert und gegen ihre Schwiegertochter gehetzt, wo es nur ging. Sie kam nie damit zurecht, dass ihr Sohn eine Russin geheiratet hat, und dann auch noch aus dem Katalog. Dass es so etwas gibt, ist den Kastlern auch klar. Aber es ist etwas anderes, wenn das direkt vor der Haustür passiert. Außerdem ist in Kastl kaum etwas los. Da ist man froh, wenn es neuen Gesprächsstoff gibt – und dafür hat die alte Zirbnerin schon gesorgt. Ist es da verwunderlich, dass sich der Sepp zurückgezogen hat und sich schützend vor seine Frau gestellt hat? Für mich wäre das kein Leben! Tag und Nacht den Blicken der Menschen ausgesetzt, von denen man genau weiß, dass sie hinter dem Rücken über einen reden und sich lustig machen. Schrecklich. Ich wäre längst abgehauen.“
Die Polizisten konnten das durchaus nachvollziehen und konnten sich vorstellen, welchem Spießrutenlauf der Mann und vor allem die Frau ausgesetzt sein mussten. Das Leben war bestimmt doppelt schwer, wenn aus der eigenen Familie kein Rückhalt da war und man dazu mit mächtigem Gegenwind im gesamten Umfeld kämpfen musste.
„Die Katharina war etwas Besonderes. Sie war nicht dumm und hat unsere Sprache sehr schnell gelernt. Sie hat sich bemüht, sich einzuleben und sich anzupassen, aber sie stieß überall auf Abneigung. Niemand wollte mit der jungen Russin etwas zu tun haben. Und wenn doch, dann fuhr die alte Zirbnerin ihre Krallen aus und wurde noch gemeiner. Die junge Frau passte einfach nicht zu dem grobschlächtigen Sepp, der zwar von Grund auf kein schlechter Mensch ist, aber nicht weiß, wie man mit einer Frau umgeht. Vor allem kann sich der Sepp nicht gegen seine Mutter durchsetzen, dazu ist er zu weich – oder die Alte zu stark. Egal wie man es sieht, die Katharina war die Leidtragende. Ich bin mir fast sicher, dass die junge Frau wieder weg wollte, was aber für eine Frau in ihrer Situation nicht einfach ist. Wo sollte sie denn hin? Ohne Geld, ohne Kontakte, ohne Ausbildung und ohne einen Job? Da ist man doch vollkommen aufgeschmissen.“
„Das stimmt wohl. Sind Sie sich sicher mit dieser Vermittlungs-Agentur in Waldkraiburg?“
„Sie hat mir davon erzählt. Den genauen Namen der Agentur habe ich vergessen, irgendetwas mit einem Herz. Aber mehr weiß ich nicht, die Katharina hat ungern darüber gesprochen und auf die kursierenden Gerüchte habe ich nie etwas gegeben. Was ist mit der Katharina passiert?“
„Sie wurde am Pestfriedhof direkt am Pestkreuz tot aufgefunden. Die genaueren Todesumstände sind uns noch nicht bekannt,“ log Hans Hiebler, der es generell vorzog, vorschnell noch nicht zu viele Informationen rauszugeben. „Wir danken Ihnen sehr für Ihre Hilfe. Jetzt wissen wir endlich, mit wem wir es zu tun haben. Frau Gutbrod begleitet Sie wieder nach draußen.“
Frau Gutbrod stand die ganze Zeit interessiert daneben und registrierte jede Kleinigkeit, die die Zeugin von sich gab. Das mit dieser Partnervermittlung war keine schlechte Idee, denn was für Männer galt, die Frauen suchen, gab es bestimmt auch für die Frauen, die einen Mann suchen. Sie musste unbedingt mit ihrer Nichte Karin darüber sprechen.
„Ich würde gerne mit Hans zum Zirbner-Hof nach Kastl fahren.“ Leo hatte seine Jacke schon in der Hand, denn er wollte die Überbringung der Todesnachricht so schnell wie möglich hinter sich bringen.
„Gut. Dann werden der Herr Kranzbichler und ich uns über die Partnervermittlung informieren. Am besten, wir fahren direkt nach Waldkraiburg. Ich bevorzuge das persönliche Gespräch. Vor allem würde ich mir gerne die Räumlichkeiten ansehen.“ Viktoria war neugierig und stand in den Startlöchern, aber der neue Kollege zögerte noch.
„Ich habe eine sehr gute Idee,“ druckste Kranzbichler herum. „Ich weiß, ich bin neu hier und eigentlich sollte ich mich gerade am Anfang zurückhalten, allerdings ist die Gelegenheit absolut günstig und die sollten wir nutzen.“
„Wovon zum Teufel sprechen Sie?“ Viktoria war genervt.
„Wie wäre es, wenn ich in dieser Agentur als potentieller Kunde vorstellig werde? Ich lasse mich umfassend beraten und komme so vielleicht an Informationen ran, die der Polizei sonst vorenthalten werden. Sie geben mir Vorsprung und stoßen dann später hinzu. Sie lenken die Angestellten ab und vielleicht bekomme ich irgendwie die Möglichkeit, mich dort ungestört umzusehen.“
„Ich glaube, Sie haben zu viele Krimis gesehen,“ protestiere Viktoria, die von solchen Aktionen überhaupt nichts hielt. „Das kommt nicht in Frage, das ist viel zu gefährlich.“
„Moment mal, nicht so schnell,“ sagte Leo, der die Idee genial fand und für so etwas immer zu haben war. „Überleg dir das auf der Fahrt nach Waldkraiburg nochmal Viktoria, denn eine bessere Gelegenheit einmal hinter die Kulissen einer solchen Vermittlungsagentur zu schauen, bekommen wir vielleicht nie wieder.“ Leo klopfte Kranzbichler anerkennend auf die Schulter, er mochte diesen Kerl sofort.
„Außerdem gehe ich als vermeintlicher Kunde mit meinem Aussehen leicht durch. Ich sehe nicht nur aus wie ein verzweifelter Mann auf der Suche nach einer Frau. Bei mir vermutet auch niemand, dass ich von der Polizei sein könnte, eher gehe ich als Landwirt oder Mechaniker durch, das wird mir zumindest immer wieder nachgesagt,“ lachte er und machte sich damit über sich selbst lustig, was bei Leo und Hans sehr gut ankam. Viktoria war immer noch nicht überzeugt, verdrehte die Augen und ging davon.
„Ich kann ganz gut mit Frauen, ich werde die Kollegin Untermaier während der Fahrt mit meinem Charme becircen und von meiner Idee irgendwie überzeugen,“ sagte Kranzbichler augenzwinkernd, bevor auch er durch die Tür verschwand.
„Der Typ ist schwer in Ordnung,“ lachte Hans, bevor sie sich auf den Weg nach Kastl zum Zirbner-Hof machten. Unterwegs sprachen sie kein Wort, denn sie mussten den Hinterbliebenen eine Todesnachricht überbringen, was beiden sehr schwerfiel. Sie legten sich in Gedanken die passenden Worte zurecht, obwohl sie genau wussten, dass es dafür niemals die passenden Worte gab.
Leo parkte den Wagen im Innenhof des Bauernhofs am Rande Kastls, erstaunlicherweise hatte das Navi kein Problem, den Hof hier in der Pampa zu finden. Der Zirbner-Hof war ein stattlicher Bauernhof, der außer dem Wohnhaus in einem Top-Zustand war. Leo zählte insgesamt 4 Stallungen und zwei große, relativ neue, saubere Traktoren und mehrere Anhänger standen in dem offenen Unterstand. In einem Zimmer des Erdgeschosses brannte Licht, es musste also jemand zuhause sein. Beide atmeten nochmals tief durch und klingelten.
Ein Mann Ende vierzig in Jogginghose und Unterhemd öffnete die Haustür und sah die beiden nur an.
„Leo Schwartz, Kriminalpolizei Mühldorf, das ist mein Kollege Hans Hiebler.“ Sie zeigten ihre Ausweise, die den Mann aber nicht interessierten. „Sind Sie Herr Zirbner?“
„Ja, des bin i, Sepp Zirbner. Kripo? Is was passiert?“
„Wir haben eine traurige Nachricht, es geht um die Katharina.“
„Was is mit der Kathi?“
Leo wollte die Nachricht nicht hier vor der Tür überbringen und schob den korpulenten Mann einfach vor sich her in den Raum, in dem das Licht brannte. Dort saßen am Küchentisch noch eine alte Frau und ein junger Mann. Auf dem Tisch stand ein Teller mit Wurst und ein Korb grob geschnittenes Brot, vor jedem stand ein Bierkrug.
„Es tut mir leid, dass wir beim Essen stören. Wir sind von der Kriminalpolizei Mühldorf und müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir Katharina Zirbner tot aufgefunden haben.“
„Die Kathi is tot?“, rief Sepp Zirbner aus, schlug die Hände vors Gesicht und setzte sich erst einmal, denn der riesige Mann drohte augenblicklich umzukippen.
Der junge Mann am Tisch starrte Leo nur an, er schien nicht zu begreifen.
„Des hat des Flitscherl davo,“ rief die alte Frau aus. „Die hat net gern gearbeitet, und auch net guad. Sie wollt wieder weg von hier, zurück nach Russland, wo sie auch hinghört. Es hat ihr hier nicht gefallen, als ob es in Russland besser wär. Es is guad, das des Flitscherl weg is.“
„Halt den Mund“, rief Sepp Zirbner und wollte auf die alte Frau los, aber Hans hielt ihn zurück.
„Is doch wahr. Die Kathi hat immer gmeint, sie wär was Besseres. Hier auf dem Hof war ihr alles zu dreckig, sie wollt im Grunde nix damit zu tun haben. Sie hat meinen Sepp angefleht, abends wegzugehen und wollt sich amüsieren, anstatt anständig zu leben und zu arbeiten. Es ist lange her, dass sie in der Kirche war. Sie hat immer gsagt, dass das nicht ihr Gott wäre und sie einen anderen Glauben hat. Aber sie war nun mal mit meinem Sepp verheiratet und hat hier gelebt. Da muss man sich halt anpassen. Was hat sie sich denn vorgestellt, als sie von Russland kam und den Sepp geheiratet hat? Sie hat doch gewusst, dass er Bauer ist und die Arbeit nie ausgeht. Der liebe Gott hat sie bestraft.“
„Halt endlich dein Maul Mutter“, schrie Sepp Zirbner verzweifelt. „Die Kathi war jung, das Leben hier war ihr fremd, irgendwann hätte sie sich vielleicht doch eingelebt. Und sie hat sich angestrengt, ihre Arbeit so gut wie möglich zu machen, aber dir kann man es nun mal nicht recht machen, du hast die Kathi immer nur beschimpft. Und glaub ja nicht, dass ich nicht gesehen habe, dass du sie geschlagen hast.“
„Des hot ihr ned geschadt, die paar Renner sind ned der Red wert! Sie war halt langsam und i hob sie a bisserl antriebn, mehr ned. I bin 79 Jahre alt und muss in meinem Alter immer noch aufm Hof helfen. Wenn du a richtige Frau gheirat hättst, müsst i des längst nicht mehr. Wenn das dein Vater wüsst, Gott hab ihn selig, der würd sich im Grab rumdrehen. Eine Russin als Bäuerin, des konnt ja ned gutgehen. Ich sag Ihnen was,“ wandte sie sich an Leo nun betont hochdeutsch. Er stand dicht neben ihr und konnte nicht fassen, was die Alte von sich gab, „Als die Kathi auf den Hof kam und mein Sepp sie vorgestellt hat, habe ich sie verflucht. Ja, Sie hören richtig, ich habe ihr die schlimmsten Flüche entgegengeworfen. Ich hab den Krieg als Kind erlebt und die Russen waren schlimm, sehr schlimm, heute will das natürlich keiner mehr wissen. Die Grenzen sind für alle offen und diese Barbaren können ungehindert in unser Land kommen und alles legal an sich reißen. Ich wollt keinen Russen im Haus haben und mein Bub bringt einfach eine von dem Gsindel mit. Und jetzt hat der liebe Gott uns von der Russin erlöst, er hat meine Gebete erhört. Hätte mein Sohn damals die Maria vom Nachbarhof geheiratet, wäre alles gut gegangen. Aber mein Sepp wollt die Maria nicht haben. Gut, sie war recht schiach, is sie auch heit noch. Aber sie kann arbeiten und wäre richtig für den Hof gewesen.“
Der Redeschwall der Alten wurde durch einen langen, durchdringenden Schrei des jungen Mannes unterbrochen, der sich dabei auch noch die Ohren zuhielt. Sepp Zirbner sprang auf und sprach beruhigend auf den Mann ein, während die Alte sich ein Stück der Wurst abschnitt und seelenruhig weiteraß.
„Der Karl ist ned ganz richtig im Kopf,“ sagte die Alte mit vollem Mund. „Des is des Balg meiner Tochter, wer der Vater is, weiß man ned. Sie wollt den Karl in ein Heim gebn, weil bei ihm im Alter von 5 Jahr festgstellt wordn is, dass er a Depperl is. Des hab i scho immer gsagt, aber mir wollt keiner glauben. Aber der Sepp hat ned duldet, dass der Karl in ein Heim kommt. Er hat a viel zu weiches Herz, von mir hat er des ned! Er hat den Karl eines Tages einfach hier auf den Hof bracht, des ist jetzt schon über 12 Jahr her. Auch wenn das mein Enkel ist, ghört der ned hierher, man muss sich vor den Nachbarn scho schämen. Aber was soll ich machen? Dem Sepp gehört der Hof und er entscheidet. Obwohl ich zugebn muss, dass der Karl ein guter Arbeiter is. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn er nicht hier wär. Die Schand ist einfach zu groß. Überall wird man auf den Karl angsprochen. Schrecklich.“
„Halt endlich dein Maul, sonst jag ich dich endgültig vom Hof,“ sagte Sepp Zirbner nun, woraufhin die Alte nur laut lachte.
„Es steht im Erbvertrag, dass ich hier ein lebenslanges Wohnrecht hab, des hat der Vater so festglegt. Ich hab schon oft gsagt, dass du mich nie los wirst. Ich bleibe so lang hier, bis i stirb.“
„Entschuldigen Sie meine Mutter, sie ist ein böses Weib und in ihrem Alter wird sie sich auch nicht mehr ändern. Wie ist die Kathi gestorben?“ Die Stimme des riesigen Mannes war nun leise und er sah Leo traurig an.
„Sie lag am Pestfriedhof. Sie wurde betäubt und dann mit einer Überdosis Insulin getötet. Gibt es Insulin auf Ihrem Hof? Ist jemand von Ihnen zuckerkrank?“
„Nein, keiner. Und Medikamente haben wir auch nur sehr wenige, Sie können sich gerne unsern Medizinschrank im Bad ansehen.“
„Nicht nötig, ist schon gut,“ sagte Leo, der immer noch von dieser alten Frau und ihrer bösen Zunge geschockt war. Wie schlimm muss das Leben sein, wenn man Tag und Nacht mit einem solchen Drachen zusammenleben muss? „Sie besitzen Vieh?“
„Ja, wir haben Rinder, 120 Stück.“
„Donnerwetter,“ sagte Hans, der nachvollziehen konnte, was das für eine Arbeit für zwei Männer sein musste. „Werden die mit Medikamenten behandelt?“
„Nein, auf keinen Fall. Ich habe schon vor Jahren auf Biobetrieb umgestellt und da sind die Vorschriften sehr streng. Keine Medikamente! Sie können gerne unsere Unterlagen einsehen, den Tierarzt befragen oder Blutproben unserer Tiere entnehmen. Sie werden keine Medikamente nachweisen können, meine Tiere sind absolut sauber. Ich verabscheue diesen Mastwahn auf der ganzen Linie und weiß nicht, wo das noch hinführt. Gesunde Tiere werden mit künstlichem Futter und Medikamenten zugrunde gerichtet, es zählt nur noch das Schlachtgewicht, mehr nicht. Ob das Fleisch für die Verbraucher irgendwann negative Folgen haben wird, ist doch der Fleischindustrie vollkommen egal. Statt diesen Wahnsinn zu durchbrechen, werden immer neue Auflagen und Gesetze geschaffen, die kein Mensch braucht. Man muss doch nur seinen gesunden Menschenverstand einsetzen und die Tiere artgerecht halten und füttern. Dann haben wir qualitativ hochwertiges und gesundes Fleisch. Aber bei uns hat nicht der Verbraucher das Sagen, sondern die großen Industriekonzerne, die die Verbraucher so lange mit ihrer Werbung, angeblichen Qualitätsmerkmalen und Laboruntersuchungen zutexten, bis sie es schließlich glauben. Für mich gibt es nur die Biohaltung, die sehr teuer und aufwändig ist. Aber für mich gab und gibt es nur diese Möglichkeit, meinen Hof zu führen.“
„Für mi is des immer no a Schmarrn mit dem Biozeigs, aber mi fragt ja keiner. Früher hätts des net braucht. Aber der Sepp is der Chef, i halt mi da raus.“
„Halt endlich deinen Mund Mutter, der Kommissar fragt mich und nicht dich. Du verstehst sowieso nichts davon, obwohl ich es dir schon so oft erklärt habe. Wann wurde die Kathi getötet?“
„Am Freitagnachmittag. Haben Sie Ihre Frau nicht vermisst?“
„Natürlich habe ich sie vermisst. Sie ging ab und zu mit einer Freundin weg, außer ihr hatte sie keine sozialen Kontakte. Die Kathi musste ab und zu raus, sich amüsieren, unter Leute gehen und etwas anderes sehen und hören, das habe ich immer verstanden und auch unterstützt. Sie hätte es gerne gehabt, wenn ich sie begleitet hätte, aber das war mir zu anstrengend, ich war einfach zu müde dazu. Ich gönnte ihr die Auszeit und vertraute ihr, oft war sie ja nicht weg. Und natürlich nur, wenn meine Mutter im Bett war, sonst hätte die wieder geschrien und gezetert. Ich habe gehofft, dass meine Frau sich irgendwann einlebt und mich versteht, dass ich einfach nicht anders kann. Am Sterbebett habe ich meinem Vater versprechen müssen, dass ich mich um den Hof und um die Mutter kümmere. So ein Bauernhof ist nicht leicht zu führen. Morgens früh raus, den ganzen Tag schuften – da ist man am Abend müde und will nur noch seine Ruhe. Wenn ich ehrlich bin, habe ich davor Angst gehabt, dass sie irgendwann wieder geht, denn ich konnte sie verstehen. Das war kein Leben für sie. Sie war sehr belesen, liebte klassische Musik und war früher als Kind mit ihren Eltern weit gereist. Sie kannte Länder, von denen ich noch nie gehört habe und hat mir stundenlang mit leuchtenden Augen davon erzählt. Ich habe längst begriffen, dass die Kathi für ein anderes Leben geboren war, nicht für das Leben auf einem Bauernhof. Aber ich wollte es nicht wahrhaben. Das Leben, das sie verdient hätte, konnte ich ihr nicht bieten. Immer nur die schwere Arbeit und kein Vergnügen, die Kathi war ja erst 30 Jahre alt und für dieses Leben viel zu gescheit und viel zu jung.“