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Er redete sie leise an und berührte sie vorsichtig an der Schulter. „Schwester Christin, wachen Sie auf. Die Operation ist gut verlaufen.“
Die Ordensschwester erwachte aus tiefstem Schlaf. Sie sprang ein wenig zu heftig von der Bank auf, verlor die Balance und stürzte auf den harten Fliesenboden.
„Mein Gott, haben Sie sich verletzt?“, bemühte sich gleich der Arzt bestürzt um sie.
Noch leicht benommen murmelte sie: „Ich glaube nicht.“
Doch als er ihr beim Aufstehen behilflich sein wollte und sie an ihrem linken Oberarm berührte, entfuhr ihr ein kleiner Schmerzensschrei.
„Kommen Sie, wir werden das gleich einmal röntgen“, entschied der Professor.
„Ach, so schlimm wird es schon nicht sein“, wehrte Christin ab.
„Nein, nein, sicher ist sicher“, bestand er darauf.
Er begleitete sie zur Röntgenabteilung und wartete davor auf sie.
Man röntgte ihre linke Schulter, was weniger, als drei Minuten dauerte. Nachdem sie sich wieder angekleidet hatte, wobei ihr die Röntgenassistentin helfen musste, besah sich der Professor gerade die Bilder im Schaukasten. Die Schwester trat neben ihn.
„Hier, sehen Sie?“ Er deutete mit seinem Zeigefinger auf das Schlüsselbein. „Das hat einen kleinen Riss. Nicht schlimm, es ist nicht komplett durchgebrochen. Aber man sollte es eine Weile schonen und in Ruhestellung bringen“, schlug er vor. „Ich mache Ihnen jetzt einen Rucksackverband und dann tragen Sie noch so ungefähr eine Woche lang eine Schlinge, in der Sie den Arm ruhen lassen können.“
„Aber das geht nicht. Ich muss mich um meinen Patienten kümmern“, widersprach die kleine Nonne.
„Nein, das brauchen Sie jetzt nicht“, widersprach er ihr. „Er bleibt etwas über eine Woche hier bei uns. Wir werden ihn und seine Wunde beobachten und ihn an den Rollstuhl gewöhnen“, erklärte er ihr.
„Wie geht es Mr. Stonewall?“, informierte sich Christin. „Kann ich zu ihm?“
„Alles der Reihe nach, Schwester. Zuerst verbinde ich Sie. Dann gehen wir gemeinsam in die Cafeteria und essen zu Mittag und …“
„Oh, ist es schon so spät?“, entfuhr es ihr.
„Ja, meine Liebe. Die Operation hat sieben Stunden gedauert. Leider mussten wir dann abbrechen, weil der Patient instabil wurde. Ich werde ihn nach ein paar Wochen nochmals operieren und dann schicken wir ihn anschließend in eine Reha-Klinik. Dort wird er dann versuchen wieder auf die Beine zu kommen, um nochmals laufen zu lernen. Im Moment schläft er auf der Intensivstation seinen Narkoserausch aus. Sobald er aufwacht, bringe ich Sie zu ihm“, versprach der Arzt.
Die kleine Ordensschwester hatte Mühe Dr. Spencer zu folgen, denn der machte Riesenschritte mit seinen langen Beinen. Dann fiel ihr ein, dass sie ja gar kein Geld besaß, um sich ein Essen kaufen zu können, und dem Mediziner auf der Tasche liegen wollte sie keinesfalls.
Sie blieb stehen. „Ich habe noch gar keinen Hunger“, erklärte sie ihm.
Abrupt blieb der Arzt stehen, drehte sich um und ging die drei Schritte zu ihr zurück. Er legte den Arm um ihre schmalen Schultern und nötigte sie weiterzugehen.
„Sie werden jetzt auf jeden Fall etwas zu sich nehmen, weil Sie es bitter nötig haben, so wie Sie aussehen“, befahl er ihr leicht genervt. „Sagen Sie, sind Nonnen allgemein so störrisch?“
„Eigentlich eher selten, aber sie sind arm und haben kein Geld“, gab sie leise zur Antwort.
„Also für das Wenige, was Sie zu sich nehmen werden, habe ich gerade noch genügend Geld übrig“, grinste er.
Christin blieb nichts anderes übrig, als mit ihm zu gehen.
Nach dem Mittagessen, welches die Kantine ihr sogar spendierte, begleitete der Professor die Schwester zur Intensivstation. Während er in der Umkleidekabine verschwand, wartete sie draußen. Durch eine Glasscheibe konnte sie Brandon am anderen Ende des Raumes sehen. Er lag vollkommen flach in einem Spezialbett, an mehrere Monitoren und Infusionen, sowie Drainagen angeschlossen. Sie fragte sich, ob er wohl jetzt keine Schmerzen mehr litt? Dr. Spencer beugte sich gerade über ihn und kontrollierte sämtliche Anschlüsse und Daten. Brandon musste aufgewacht sein, denn sie beobachtete, dass der Arzt mit ihm sprach. Christin war so vertieft in ihre Überlegungen, wie es jetzt wohl weitergehen würde, dass sie die Schwester gar nicht wahrnahm, die ihr in einen grünen Kittel hineinhelfen wollte. Erschrocken zuckte sie zusammen.
„Oh, Verzeihung. Ich muss weit weg gewesen sein mit meinen Gedanken“, entschuldigte sie sich.
Die Schwester knöpfte ihr den Mantel hinten auf dem Rücken zu.
„Noch einen Moment, bitte. Der Professor wird Sie gleich hereinholen“, vertröstete sie die kleine Nonne.
„Wie fühlen Sie sich?“, erkundigte sich Dr. Spencer bei seinem Patienten.
„Etwas müde noch“, antwortete der.
„Nein, so etwas. Sie müssten jetzt ausgeschlafen und fit wie ein Turnschuh sein. Sie haben sieben Stunden auf dem OP-Tisch geschlafen“, scherzte der Arzt. „Haben Sie noch Schmerzen?“
„Nein, aber ich würde mich noch besser fühlen, wenn ich nicht so absolut flach liegen müsste“, antwortete Brandon.
„Ja, das glaube ich Ihnen gern. Aber drei Tage müssen Sie diese flache Lage noch ertragen, dann hat die ganze Quälerei ein Ende. Das verspreche ich Ihnen“, erklärte der Professor. „Nach all den vielen Monaten im Liegen, müsste das doch noch auszuhalten sein?“
Brandon nickte. „Oh ja, das ist wohl wahr. Herr Professor, haben Sie mir nicht vielleicht etwas mitgebracht?“ erwartungsvoll sah er den Arzt an.
Der lächelte. „Ach, Sie meinen die kleine Ordensschwester? Ja natürlich. Sie wartet schon sehnsüchtig draußen vor der Tür.“
Damit ging er, öffnete die Türe und bat Christin herein. Der grüne Kittel passte ihr überhaupt nicht. Erstens hätte sie dreimal darin Platz gehabt und zweitens trat sie unten dauernd auf den Saum, weil er ihr viel zu lang war.
Gordons Bruder musste verhalten lachen.
„Christin!“, rief ihr Brandon voller Freude entgegen und streckte die Hände nach ihr aus. Er umarmte sie, soweit er konnte und zog sie zu sich hinab auf seine Brust.
„Das werde ich dir niemals vergessen“, murmelte er leise und küsste sie auf den Schleier genau in der Mitte ihres Kopfes.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus und da kam es wieder, dieses seltsame Gefühl, ein Kribbeln, das durch ihren gesamten Körper strömte. Sie glaubte noch vor kurzem es durch die Gebete im Kloster hinter sich gelassen zu haben. Doch nun empfand sie es umso intensiver als vorher. Sie versuchte sich von ihm zu lösen, doch er hielt sie so fest umklammert, dass der Professor eingreifen musste.
„Vorsicht, Mr. Stonewall, Schwester Christin hat eine Verletzung“, informierte er ihn.
„Wie? Was ist dir geschehen?“, erkundigte sich Brandon erschrocken.
„Sie ist vor dem Operationssaal von der Bank gefallen und hat sich das Schlüsselbein angebrochen“, klärte er ihn auf.
„Christin, was machst du für Sachen?“ Brandons Gesicht wirkte ganz verstört.
Aber die Ordensschwester lächelte ihren Patienten nur an.
„Ist gar nicht so schlimm. Mach dir wegen mir keine Sorgen. Nächste Woche ist alles vorbei“, tröstete sie ihn.
Der Professor wandte sich den beiden zu und begann: „Ich möchte jetzt den weiteren Therapieplan erläutern. Mr. Stonewall wird jetzt drei Tage ganz ruhig und flach liegen bleiben. Dann werden wir ihn vorsichtig zum Sitzen bringen und ihm den Umgang mit dem Rollstuhl zeigen. Bei dieser Operation habe ich die Blutung abgeleitet, die alte Verletzung beseitigt und die eingeklemmten Nerven freigelegt.“
Er schlug das untere Teil der Bettdecke zurück und fuhr mit einer Pinzette am Unterschenkel und der Fußsohle seines Patienten entlang. „Fühlen Sie die Berührung?“, erkundigte er sich.
„Ja, und wie stark“, bestätigte der Patient voller Freude.
„Ab dem Augenblick, wo sie sitzen dürfen wird ein Physiotherapeut zweimal täglich mit Ihnen Übungen machen, um die Muskulatur aufzubauen. Ende Oktober werde ich Sie nochmals operieren. Danach gehen Sie für mehrere Wochen in eine Reha-Klinik und lernen dort wieder das Laufen. Ist das in Ordnung so? Das heißt allerdings, dass die Leukämie sich in Grenzen halten muss. Das ist eine Bedingung. Die Blutwerte sind bei der zweiten Operation ausschlaggebend. Diese Operation ist nicht einfach. Der Patient muss absolut stabil sein. Also, kämpft ihr beiden, doch so wie ich das sehe, werdet ihr damit wohl kaum Probleme haben. Ihr habt ja schon so einiges erreicht.“ Der Professor lachte ihnen aufmunternd zu.
„Bleibst du noch etwas bei mir?“, bat Brandon seine Betreuerin.
„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, Mr. Stonewall“, kam ihr der Arzt zuvor. „Sie brauchen jetzt Ruhe und Schwester Christin muss sich erst einmal ausschlafen. Die Woche, die Sie hier im Krankenhaus sind, wird sie mein Gast bei meiner Familie sein. Selbstverständlich bringe ich sie immer wieder zu Ihnen.“
Der Arzt ergriff Christins Hand und führte sie aus dem Raum. Dort legten sie ihre Mäntel ab. Erst jetzt bemerkte sie, wie müde sie sich fühlte. Die Anspannung der vielen Stunden während Brandons OP wich nun von ihr. Sie hatte nur noch das Bedürfnis zu schlafen. Wie in Trance folgte sie dem Professor zu seinem Auto in der Tiefgarage. Die Fahrt zu seinem Haus dauerte zum Glück nicht lange. Es wurde bereits Abend. Des Professors Frau öffnete ihnen die Haustüre.
„Hallo Schatz, du bringst einen Gast mit?“, wunderte sie sich, denn ihr Mann hatte sie nicht informiert.
Sie gab ihrem Mann einen Kuss auf die Wange.
„Ja, das ist Schwester Christin aus dem Heilig Geist Kloster in der Nähe von Vancouver. Sie begleitet einen Patienten, der in meiner Klinik liegt. Sie bleibt nur etwa eine Woche lang“, erklärte er ihr.
„Keine Angst, ich bereite Ihnen gewiss keine Umstände“, wandte sich Christin an die Frau.
Mary, so hieß sie mit Namen, nahm sogleich Christins Hand und zog sie ins Haus.
„Kommen Sie, meine Liebe, Sie sind bestimmt schon sehr lange auf den Beinen. Möchten Sie etwas essen?“, erkundigte sie sich bei ihrem Gast.
„Nein danke.“ Die Schwester schüttelte den Kopf. „Ich möchte nur noch schlafen.“
„Das sieht man Ihnen an“, bestätigte Mrs. Spencer.
Mary, eine mittelgroße, leicht füllige Frau mit kleinen, braunen Locken auf dem Kopf, öffnete eine Türe und führte die Schwester in einen mit hellen Möbeln ausgestatteten Raum. Ein großes Fenster mit Schiebetüre ließ den Blick auf eine blumengeschmückte Terrasse frei. Da die gläserne Türe offen stand, wehten die Gardinen leicht im Abendwind.
„Oh, wie schön“, rief die kleine Nonne begeistert aus.
„Darf ich Ihnen beim Auskleiden behilflich sein?“, bot sich Mary an.
Christin blickte an sich hinunter. „Ach ja so, der Verband. An den habe ich gar nicht mehr gedacht“, antwortete sie.
Mit vereinten Kräften legten sie die Tracht ab. Die Gastgeberin sah den Verband und da sie einst Krankenschwester war, wusste sie sogleich wozu man ihn anlegte.
„Haben Sie sich das Schlüsselbein gebrochen?“, vergewisserte sie sich.
„Nicht ganz, nur angebrochen“, antwortete Christin.
„Das ist erst geschehen, sehe ich, denn der Verband ist neu“, stellte Mary fest.
„Ja, ich bin etwas tollpatschig von einer Krankenhausbank gefallen“, lächelte die Ordensfrau beschämt.
„Na so etwas, geht ins Krankenhaus und verletzt sich dort“, Mary schüttelte den Kopf.
Sie drehte sich um und öffnete noch eine Türe. „Hier können Sie sich frisch machen.“ Sie zeigte ihr ein integriertes Bad mit Dusche und WC. Im Schlafzimmer öffnete sie einen Schrank und holte ein Nachthemd heraus, denn sie bemerkte, dass Christin nicht eingerichtet war für eine Woche zu bleiben. Mary lachte ihrem Gast zu und wünschte ihr eine angenehme Ruhe.
Christin schloss das Fenster und zog die Vorhänge zu. Sie wusch sich nur rasch, dann fiel sie ins Bett wie ein zentnerschwerer Sack. Sie schlief sehr tief und fest, wie schon lange nicht mehr. Da sie wusste, dass es Brandon gut ging und er sich in sehr guten Händen befand, konnte sie sich einmal vollkommen entspannen.
Um sieben Uhr stand sie auf. Mary vernahm die Geräusche aus ihrem Zimmer und eilte ihr zu Hilfe.
„Guten Morgen, Schwester. Sie hätten ruhig noch länger schlafen können.“ Auf dem Arm trug sie eine große Auswahl von T-Shirts und Jeanshosen.
„Hier, sehen Sie sich diese Sachen einmal an. Ich glaube, die müssten Ihnen passen. Die Tracht mit dem Verband finde ich einfach zu umständlich und kompliziert. Die acht Tage, die Sie hier sind, können Sie ruhig normale Kleidung tragen“, bot sie ihr an.
Christin öffnete den Mund, um abzulehnen, doch Mary kam ihr lachend zuvor. „Nein, nein, keine Widerrede. Sie können nicht acht Tage lang im gleichen Kleid herumlaufen. Die Mutter Oberin sieht Sie hier gewiss nicht. Außerdem werde ich Sie nicht verpetzen“, grinste sie schelmisch.
„Und an mein schlechtes Gewissen denken Sie überhaupt nicht?“, entgegnete die Ordensschwester.
„Dann beten Sie eben fünf Vater unser zur Vorsorge, wenn Sie das beruhigt“, lachte Mary.
Ihr Lachen steckte auch Christin an und zwar so sehr, dass ihr die Tränen von den Wangen liefen. So hatte sie schon seit vielen Jahren nicht mehr gelacht.
„Christin“, begann Mary. „Wir zwei passen so gut zusammen. Wir sollten uns „duzen“, einverstanden?“, versicherte sie sich.
„Ja, einverstanden“, erklärte die kleine Nonne.
Das ganze Wesen und ihr heiteres Gesicht strahlten eine große Wärme aus. Man musste die Frau des Professors einfach gern haben.
Nachdem sich Christin gewaschen hatte, half ihr Mary in Hose und T-Shirt. Sie bürstete das lange Haar und band es ihr im Nacken mit einer breiten Schleife zusammen. Als sie ihr Werk betrachtete, stellte sie ganz versonnen fest: „Weißt du eigentlich, wie hübsch du bist? Du gehörst absolut nicht in ein Kloster, wenn ich das bemerken darf.“
„Ich weiß nicht, wie ich aussehe. Wir haben keine Spiegel und es ist uns auch verboten in welche zu sehen. Das weckt die Eitelkeit, sagt unsere Mutter Oberin“, erklärte Christin.
„Meine Güte, ihr lebt ja beinahe wie in der Steinzeit.“ Mary schüttelte verständnislos den Kopf. „Man kann es auch übertreiben mit dem Glauben.“
Sie nahm die Ordensfrau bei der Hand und zog sie aus dem Zimmer. „Komm, lass uns frühstücken gehen“, forderte sie die Schwester auf.
Mary führte sie in einen großen, hellen Raum mit einem langen, ovalen Tisch. Dort saßen zwei fast erwachsene Söhne, die sich zum Verwechseln ähnelten. Ihnen gegenüber saßen drei Mädchen und noch ein kleineres Mädchen von ungefähr zwölf Jahren.
„Das sind unsere Kinder“, präsentierte sie die Mutter stolz. „Jeremy, wir nennen ihn auch Jim und neben ihm sein Zwillingsbruder Brad, sind beide zwanzig Jahre alt. Auf der anderen Seite sitzen unsere Drillinge, Kimberley, Angelina und India, alle siebzehn Jahre alt.“
„Wie hältst du sie auseinander?“, wunderte sich Christin und blickte verwirrt von einem Mädchen zum anderen, denn sie ähnelten sich sehr.
Mary lachte. „Angelina hat ein kleines Muttermal rechts unter dem Auge, Kimberley hat es links unter dem Auge und India, das sagt schon der Name, trägt es genau zwischen den Augen.“
„Wenn sie das nicht hätten, würdest du ganz schön Probleme haben“, bemerkte die Schwester.
„Ach wo, ich würde jeder einen anderen Farbstrich ans Ohr gemacht haben“, lachte Mary.
„Ja und das ist unser Nesthäkchen Emily. Sie ist erst zwölf Jahre alt. Eigentlich war sie gar nicht mehr geplant. Aber jetzt haben wir alle unsere Freude an ihr“, bestätigte die Mutter.
Emily, die hübscheste von allen, sah die Ordensschwester mit großen, dunklen Augen an.
„Mom, Schwester Christin sieht genauso aus wie ich. Sie hat die gleichen, dunkelbraunen Locken und Wellen und die gleichen dunklen Augen wie ich. Es ist geradeso, als wenn ich in einen Spiegel sehe. Mom, bist du dir sicher, dass ich nicht auch eine Zwillingsschwester habe?“, versuchte sie zu erfahren.
Schallendes Gelächter brach am Frühstückstisch aus. Nur Christin lachte nicht mit. Sie war regelrecht geschockt, dass sie so hübsch sein sollte wie Emily. Langsam sank sie auf ihren Stuhl. So, nun wusste sie, wie sie aussah. Das allein galt schon als Sünde genug.
Nachdem sich die allgemeine Erheiterung gelegt hatte, antwortete Christin leise: „Es ist purer Zufall, dass wir uns so ähnlich sehen. Eine Zwillingsschwester bin ich garantiert nicht, dafür bin ich um einiges älter als du“, lächelte sie das Kind an. Gleichzeitig fühlte sie sich froh, sich wieder gefangen zu haben. Trotzdem musste sie das Mädchen immer wieder ansehen. Ähnele ich ihr wirklich so sehr? Habe ich tatsächlich das gleiche, schmale Gesicht mit den unbändigen Locken und Wellen und den langen Augenwimpern über den tiefbraunen Augen? Die Grübchen in den Wangen, wenn ich lache? Christin holte tief Luft und schalt sich innerlich eitel zu sein.
Da betrat der Professor den Raum.
„Guten Morgen“, grüßte er und setzte sich an seinen Platz am Tisch.
Er blickte in die Runde. „Haben wir einen neuen Gast, Mary?“, scherzte er.
„Nein, nur dieser Habit ist so kompliziert anzulegen mit dem Verband“, erklärte seine Frau.
„Ja“, sagte er und legte den Kopf auf die Seite. „Diese Sachen stehen Ihnen wirklich gut, Schwester. So etwas sollten Sie öfter tragen.“
Christin musste lachen. „Für mich sind T-Shirt und Jeans eher ungewohnt, denn ich trage seit beinahe sechs Jahren meine Klostertracht.“
„Du bist eine echte Ordensschwester?“, platzte Emily heraus.
Die Schwester nickte.
„Toll.“ Das Mädchen war total begeistert. „Erzähl mir mehr. Was du so machst und wie es in einem echten Kloster wirklich ist.“
„Später.“ Christin dämpfte ihren Enthusiasmus etwas. „Heute Abend kannst du zu mir kommen. Jetzt denke ich, ist es Zeit für die Schule. Sonst kommst du noch zu spät.“
Emily stand auf. „Okay, dann bis heute Abend.” Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.
„Sie weiß noch nicht, was sie einmal werden möchte“, erklärte der Professor und schmierte sich dabei ein Butterbrot. „Aber sie hat ja auch noch Zeit“, bemerkte er in aller Ruhe.
„Alle anderen wissen schon, was für Berufe sie ergreifen wollen?“, informierte sich Christin etwas neugierig.
„Ja, ich werde Knochenklempner, so wie Papa“, grinste Brad. „Ich meine natürlich Chirurg“, verbesserte er sich, als er in das verdüsterte Gesicht seines Vaters sah.
„Hast du schon einmal bei einer Operation etwas assistieren dürfen?“, zeigte sich der Professor mit Namen Kevin interessiert.
„Nein, aber ich durfte zusehen. Ist wirklich sehr aufschlussreich, wie am Ende alles wieder zusammengeflickt wird“, antwortete er.
„Also wirklich Junge, drück’ dich doch bitte etwas ästhetischer aus“, rügte Kevin seinen Sohn.
„Das ist unsere Umgangssprache an der Universität, Dad“, verteidigte sich Brad.
„Stell dir mal vor, ich komme aus dem Operationssaal und sage zu der Frau meines Patienten: Guten Tag, ich bin der Knochenklempner ihres Mannes. Wir haben ihn eben zusammengeflickt. Ja, und gerade als wir den letzten Stich machten, da hat es ihn zerknietscht.“
Allgemeines Gelächter entstand am Frühstückstisch.
„Mensch, Papa, du beherrschst das voll krass“, staunte Brad.
„Vergiss nicht, mein Sohn, ich war auch mal in deinem Alter. Jedenfalls glaube ich, der Frau würden sich alle Haare aufstellen, wenn man mit ihr so sprechen würde. Sie müsste sich ja direkt in die Steinzeit zurückversetzt fühlen, wo die ersten Operationsversuche stattfanden“, ließ der Vater Brad wissen. „Da hört es sich doch viel besser an: Guten Tag, ich bin der Operateur ihres Mannes. Wir haben ihn erfolgreich operiert, nur leider muss ich Ihnen sagen, dass er kurz danach an einem Herzstillstand verstarb. Weißt du, mein Junge, in diesem Beruf muss man sich schon etwas gewählter ausdrücken. Wir sind doch schließlich nicht bei den Holzfällern.“
Christin wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augen. Hier kam man aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Gordons Bruder, wenn er auch ein hochangesehener Professor war, verstand es, seine Kinder zu erziehen und zu berichtigen, ohne sie grob zurechtzuweisen. Er tat das auf eine sehr humorvolle Weise. In dieser Familie musste man sich einfach wohl fühlen. Er und seine Frau Mary hatten ihre sechs Kinder alle im Griff, auf eine ganz besonders liebevolle Art.
„Ich gehe in die Forschung. Neue Medikamente zum Beispiel“, ließ sich Jim hören. „Vielleicht bin ja ich einmal der Erfinder des bahnbrechenden Medikamentes für Krebs.“
„Und ihr?“, wandte sich die Schwester neugierig an die Drillinge. So erfuhr sie, dass Kimberley Erzieherin, Angelina Kinderärztin und India Meeresbiologin werden wollten.
„Das sind sehr interessante Berufe, die ihr gewählt habt“, lobte sie.
„Bist du für deinen Patienten so etwas wie eine Privatschwester?“, wollte Angelina wissen.
„Nein“, lächelte die Ordensschwester. „Ich bin bei ihm, weil er an Leukämie erkrankt ist. Er hatte bereits das Endstadium erreicht, so dass er beinahe gestorben wäre. Doch eine neue Therapie rettete ihm das Leben. Weil er durch seine Rückenverletzung nur liegen kann, wurde ich als Pflegekraft weiter eingesetzt.“
„Was ist, wenn er wieder laufen kann und die Leukämie auf dem Rückzug ist?“, interessierte sich India.
„Dann werde ich zu einem anderen Krebspatienten geschickt“, antwortete Christin wahrheitsgemäß.
„Ist das nicht langweilig?“, überlegte Kimberley.
„Ganz und gar nicht. Krebs gibt es ja in vielen Variationen. Jede Pflege ist unterschiedlich. Einige Patienten überwinden die Krankheit, werden wieder gesund, aber manche sterben auch und meine Hilfe ist umsonst oder kommt vielleicht zu spät“, teilte sie den Drillingen mit.
In diesem Moment sprang ein großer, rot getigerter Kater auf Christins Schoss. Schnurrend schmeichelte er an ihrer Wange.
„Wer bist du denn?“, wollte sie wissen.
„Na, so etwas“, wunderte sich Mary. „Sonst versteckt er sich immer vor Fremden. Seht nur, wie er schmust. Das ist Harry unser Hauskater.“
„Ein hübsches Tier“, bestätigte die Schwester und streichelte ihn sanft. Mit Tieren, insbesondere mit Katzen besaß sie keinerlei Erfahrung. Im Kinderheim durften keine Tiere gehalten werden. Doch dieser Kater hier schien sie offensichtlich sehr zu mögen. Nach seiner ausgiebigen Schmusetour machte er es sich auf ihrem Schoss bequem. Er rollte sich zusammen und schloss seine Augen.
Die Kinder standen auf, verabschiedeten sich und verließen das Haus. Der Professor und die Schwester beendeten ihr Frühstück.
„Liest Ihr Patient gern?“, wandte sich der Arzt an Christin.
„Ja, sehr gern“, bestätigte sie.
„Hier, das können Sie ihm vorlesen, damit ihm nicht zu langweilig wird.“ Er drückte ihr ein Buch in die Hand mit dem Titel: „Der Schlüssel zum Himmel.“
Ein seltsamer Titel, dachte sie und steckte es in ihre Tasche.
Draußen vor dem Haus übergab der Professor Christin einen Umschlag, den er gerade aus dem Postkasten nahm. Anschließend fuhren sie zusammen zur Klinik. Brandon lag noch auf der Intensivstation. Die Schwester schlüpfte in den grünen Kittel und betrat das Zimmer. Brandon wandte seinen Kopf zur Seite, als sich die Tür öffnete und sah sie erstaunt an.
„Du siehst wunderschön aus. Kannst du dein Haar vielleicht immer so tragen?“, äußerte er sich anerkennend.
„Tut mir leid, nein. Das hier ist nur nötig wegen des Verbandes. Und noch eines: Bitte mache mir keine Komplimente mehr. Wir Nonnen sind das nicht gewöhnt“, enttäuschte sie ihn gleich zweimal.
Brandon schluckte trocken. Sie schien wieder meilenweit von ihm entfernt zu sein.
Christin nahm sich einen Stuhl, rückte ihn an Brandons Bett und holte das Buch hervor, um ihm daraus vorzulesen. Während sie das tat, strahlte die Sonne von hinten durch ein Fenster und ließ ihre kleinen Zauslöckchen an Stirn und Schläfen golden leuchten, obwohl sie dunkle Haare hatte. Dieses Bild, das sie abgab, war so bezaubernd, dass Brandon die Augen schließen musste vor so viel Schönheit. Ein Gefühl, wunderbar und doch auch quälend überkam ihn. Warum musste sie ausgerechnet eine Nonne sein? Und warum muss ich so krank sein, dass ich es nicht wagen darf ihr meine Liebe zu gestehen? Sie kommt mir vor, wie eine wundersame Rose mit sehr vielen spitzen Dornen. Er wandte sein Gesicht von ihr ab. Wenn er so nachdachte, verlief sein Leben bisher nicht allzu glücklich. Und so, wie es schien, in allernächster Zukunft wohl auch nicht.