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„Hier kannst du dich ausschlafen. Es ist vollkommen egal, wann du morgen früh aufstehst oder soll ich dich wecken?“ erkundigte sie sich.
„Das wäre mir sogar lieber. Sagen wir so gegen sieben Uhr?“, bat er sie.
„Gut, dann klopfe ich Morgen an deine Türe. Toiletten und Dusche sind zwei Türen weiter hier auf dem Gang. Ich wünsche dir eine gute Nacht. Sie schloss die Türe. Während sie sich entfernte, dachte sie über ihn nach. Ich wusste gar nicht, dass ich einen so attraktiven, gutaussehenden Neffen habe. Der wird einen ganz schönen Wirbel hier im Kloster unter meinen Ordensschwestern auslösen.
Gordon sah sich um. Er stand in einem äußerst spartanisch eingerichteten Zimmer. Dieses bestand aus einem Bett an der Wand, einem schmalen Schrank, denn Nonnen besaßen nicht viel Kleidung, einem kleinen, dreibeinigen Tisch mit einem verblichenen Stoffsessel und einem Waschbecken. Ein kleines Fenster wäre noch erwähnenswert gewesen, allerdings ohne Gardine. Ein großes Holzkreuz hing dem Bett gegenüber. Es nahm beinahe die ganze Breite und Höhe der gesamten Wand ein.
So also leben die Ordensfrauen hier, dachte er bei sich. Verblüfft stellte er fest, dass es keinen Spiegel über dem Waschbecken gab. Wie sollte er sich am nächsten Morgen rasieren? Und vor allem mit was? Er trug weder Rasierzeug, noch Wäsche zum Wechseln bei sich. Wer hätte denn auch ahnen können, dass er zum Schlafen eingeladen wurde? So ging er zwei Türen weiter in den Duschraum.
Wenigstens den Schweiß des heißen Tages abspülen, dachte er. Als er zurück kam lag auf dem kleinen Tischchen ein Apfel und daneben stand ein Glas mit einer Flasche Mineralwasser. Das Obst aß er sofort und spülte alles mit einem Glas Wasser hinunter. Danach legte er sich nur mit der Unterwäsche bekleidet auf das Bett. Das Fenster öffnete er weit, denn die Luft stand förmlich im Zimmer. Er rief sich Melissas liebliches Gesicht in Erinnerung und schlief damit ein.
Während Gordon von der hübschen Nonne träumte, saß Christin an dem kleinen Tisch in ihrem Zimmer und las die Lebensgeschichte von Brandon Stonewall, ihrem nächsten Patienten.
„Brandon Stonewall, Beruf Tierarzt, neunundzwanzig Jahre alt. Zweiter und außerehelicher Sohn des Ehepaares Stonewall. Er verlor mit dreizehn Jahren seine gesamte Familie bei einem schweren Autounfall. Da nur wenige weit entfernte Verwandte gefunden wurden, die ihn nicht haben wollten, übernahm das Hausmeisterehepaar, in Absprache mit dem Jugendamt, die weitere Erziehung. Mit achtzehn Jahren trat er das Erbe seiner Familie an. Er übernahm die Rose-Bud-Bank mit sechs Filialen und mehreren Millionen Dollar.“ Sie überlegte kurz: Rose-Bud-Bank? Das heißt Rosenknospe. Eigentlich ein seltsamer Name für eine Bank.
Sie las weiter: „Anschließend studierte er Veterinärmedizin. Die Praxis befindet sich im Kellergeschoss seines Hauses. Vor einem Jahr Ausbruch der Leukämie. Er bekam mehrfach Chemotherapie und Bestrahlungen, die jedoch keine Besserung erzielten. Durch die körperliche Schwäche bedingt, stürzte er vor einem halben Jahr die Treppe im Haus hinunter und verletzte sich dabei das Rückgrat. Wegen seines schlechten Allgemeinzustandes konnte keine Operation stattfinden. Danach bewegte er sich im Rollstuhl fort. Seit zwei Monaten kann er das Bett nicht mehr verlassen. Er bekommt Morphium intravenös zur Schmerzbehandlung und weitere Medikamente gegen das Zellwachstum der Krebszellen. Nebenbei trinkt er viel Alkohol ( Whiskey ), um die Wirkung des Morphiums zu verstärken. In der Zwischenzeit wurde viermal die Lunge punktiert, um gestautes Wasser abzuleiten. Zuweilen wird er sehr ausfällig. Unter Umständen kann es geschehen, dass er alles Essen an die Wand wirft oder es der Pflegekraft über den Kopf stülpt, wenn es ihm nicht passt. Dazwischen hat er schwere, depressive Phasen. Voraussichtliche Lebensdauer noch ungefähr zwei Monate.“
Christin ließ das Dossier sinken. Nur noch zwei Monate gaben die Ärzte ihm? Sie schüttelte energisch ihren Kopf. Nein, die letzten beiden Patienten waren ihr gestorben. Dieser hier musste leben. Das machte sie sich zum Ziel, obwohl er sich bereits im Endstadium befand. Christin war eine sehr ehrgeizige Schwester. Was sie sich vornahm, führte sie auch aus. Noch einmal sah sie sich das Bild von ihm an. So wie hier würde er auf keinen Fall mehr aussehen. Sie stellte ihn sich ohne Haare und sehr untergewichtig vor. Auch die Lachfältchen würden nicht mehr vorhanden sein. Schade, ein Jammer, was diese furchtbare Krankheit aus den Menschen machte. Christin schloss die Mappe. Dann ging sie duschen, betete ein Nachtgebet und begab sich zu Bett.
Gordon glaubte gerade erst eingeschlafen zu sein, da klopfte es an seiner Türe. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass es Punkt sieben Uhr war. Das hieß für ihn aufzustehen. Mit kaltem Wasser wusch er sich rasch Gesicht und Hände und fuhr sich mit den nassen Fingern durch das Haar. So, das musste für heute genügen. Hätte er einen Spiegel gehabt, dann würde er wohl gesehen haben, dass er auf seinem Kopf ein noch viel größeres Chaos angerichtet hatte als es ohnehin schon war. Jedenfalls sah es jetzt so aus, als sei er gerade unter der Bettdecke hervorgekrochen. Normalerweise trug er sein Haar etwas nach vorn gekämmt, doch die Natur machte was sie wollte, noch dazu wenn seine Frisur nass wurde. Vor seiner Türe empfing ihn die Tante und wünschte ihm einen „Guten Morgen.“ Er folgte ihr zum Frühstück. In diesem Raum befanden sich beinahe alle Nonnen des Klosters, außer den Nachtwachen und den Außendiensthabenden. So viele hatte er eigentlich nicht erwartet. Er wünschte allen einen „Guten Morgen“, doch wurde ihm etwas unbehaglich zu Mute, als einziger Mann unter beinahe zweihundert Ordensfrauen. Außerdem wurde ihm überhaupt nicht bewusst, wie heiß er mit seinem Drei-Tage-Bart und dem Wirrwarr seiner Haare auf die Anwesenden wirkte: nämlich unheimlich jung, sympathisch und voller Tatendrang.
Die Mutter Oberin blieb stehen und klopfte mit dem Löffel an ihre Kaffeetasse, um die Aufmerksamkeit ihrer Ordensfrauen zu gewinnen.
„Liebe Schwestern, wir haben ein neues Mitglied in unserer Mitte. Doktor Gordon Spencer ist der neue Oberarzt der Kinderklinik“, erklärte sie ihnen.
Die Nonnen klatschten alle Beifall und dem Arzt wurde es immer ungemütlicher. Feuchter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. „Du beförderst mich gleich zum Oberarzt?“, zischte er ihr ins Ohr. „Ist das wirklich klug von dir?“
Er erhob sich und verbeugte sich kurz. „Ich danke Ihnen. Ab der nächsten Woche werde ich mich für die kleinen Patienten der Kinderklinik einsetzen. Vielen Dank im Voraus für die Mitarbeit der Schwestern, die in der Kinderklinik in der nächsten Zeit mit mir zusammenarbeiten.“
„Ich muss dich gleich zum Oberarzt befördern, denn wenn Dr. Clark schlapp macht, bist du der Chef hier. Es macht sich nicht gut vom einfachen Arzt zum Chefarzt katapultiert zu werden“, ließ sie ihn leise wissen.
Während seines Frühstücks suchten seine Augen fieberhaft nach Melissa, doch sie befand sich nicht unter den vielen schwarzgekleideten Nonnen. Rasch beendete er seine Mahlzeit und verließ regelrecht fluchtartig den Frühstücksraum. Aus der Klosterküche bekam er noch ein Lunchpaket und eine Flasche Quellwasser als Proviant mit. Er verabschiedete sich von seiner Tante und versicherte ihr nochmals, am kommenden Montag seinen Dienst anzutreten.
Draußen vor der Türe wartete bereits Christin mit zwei Koffern. Einem kleinen für Unterwäsche, Nachtwäsche, Morgenmantel und Reservetracht und einem größeren mit Medikamenten aus Gottes reicher Natur. Viele dieser Kräuter wurden im Klostergarten angebaut.
Gordon verstaute die beiden Koffer hinten im Kofferraum. Dann hielt er der kleinen Nonne die Wagentüre auf und ließ sie einsteigen. Mit einem leichten Kopfnicken bedankte sie sich. Er lenkte das Fahrzeug auf die Straße und begann Fahrt aufzunehmen. Nicht lange und er kurbelte sein Fenster ganz hinunter, denn die Wärme staute sich im Auto, trotz der frühen Morgenstunde. Neben ihm saß ein sehr schweigsamer Gast. Christin betete im Stillen aus ihrem kleinen Gebetbuch. Der Fahrtwind ließ ihren schwarzen Schleier nach hinten wehen. Mit einem Seitenblick beäugte der Kinderarzt sie. Ihm fiel ihr sanftes, liebliches, ebenmäßiges Gesicht auf. Eine kleine Nase und leicht geschwungene Lippen. Eigentlich fand er sie viel zu hübsch für eine Nonne. Ihr Haar und seine Farbe konnte er nicht sehen, denn es verschwand vollständig unter dem Schleier. Außerdem schien sie ihm noch sehr jung zu sein. Warum mussten die hübschesten Frauen der Welt Ordensschwestern sein? ging es ihm durch den Kopf. Sie befuhren eine einsame Strecke. Äußerst selten begegnete ihnen ein anderes Auto. Wer wollte auch schon ins Kloster fahren? Sie wussten ja schließlich nicht, was es dort für Schätze zu entdecken gab.
Zur Mittagszeit wurde es fast unerträglich heiß und sie machten Rast. Unter einem Baum mit ausladenden, schattenspendenden Zweigen, packten sie ihr Menü aus. Christin schenkte das Wasser in die Becher und bot Gordon ein Sandwich an. Das Wasser schmeckte ziemlich fade, denn erstens war es lauwarm und zweitens ohne Kohlensäure. Gordon schüttelte es innerlich ab. Doch was tat man nicht alles, wenn einen der Durst quälte. Er kippte das Wasser im Becher mit ein paar großen Schlucken hinunter ohne Luft zu holen.
Anschließend fuhren sie weiter. Ab und zu warf er einen Blick zu der kleinen, stillen Nonne. Wie alt mochte sie wohl sein? Allerhöchstens zwanzig Jahre, schätzte er. Aber wie konnte sie dann schon eine dreijährige Krankenpflegeausbildung mit anschließender Spezialausbildung haben? Irgendetwas passte da nicht zusammen, überlegte er. Ab und zu fasste er sich an sein Kinn, um zu prüfen, wie schnell sich sein Bart verlängerte. Gordon besaß einen sehr intensiven Bartwuchs. Er rasierte sich am Morgen und sollte er am Abend noch etwas vorhaben, musste er die ganze Prozedur wiederholen. Seine Barthaare fühlten sich nicht borstig, sondern angenehm weich an, im Gegensatz zu vielen anderen Männern.
Christin beobachtete ihn und schmunzelte. Er sah sie leicht verunsichert mit einem fragenden Blick an.
„Sie brauchen sich nicht zu genieren. Ihnen steht ein Bart sehr gut. Sie wirken damit sogar jünger. Ein richtig gepflegter Bart würde Sie sogar außergewöhnlich attraktiv erscheinen lassen“, machte sie ihm ein Kompliment.
„Oho, und das aus dem Mund einer Ordensfrau?“, grinste er verwundert. So eine Bewunderung hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht bekommen. Und das jetzt ausgerechnet von einer Nonne.
Ein schüchternes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Ansehen und die Menschen vergleichen ist uns erlaubt“, klärte sie ihn auf.
Gordon lachte lauthals und schüttelte dabei den Kopf. Er staunte über diese kleine, zierliche Ordensfrau.
Neugierig geworden schaute er nun öfter zu der jungen Nonne hinüber. Eine außergewöhnlich hübsche junge Frau, registrierte er. Zwei große, strahlende dunkelbraune Augen mit sehr dichten überlangen Wimpern und leicht geschwungene Lippen, die so rosig wie leicht geschminkt wirkten. Die Hautfarbe wirkte frisch, wie eine taubenetzte Rosenknospe. Ihre schlanken Hände mit den kurzgehaltenen Fingernägeln, die oval geschnitten waren, sahen gepflegt aus. Sie passten eigentlich gar nicht zu einer Nonne, die viel und schwer mit Kranken arbeitete. Die ständig ihre Hände waschen und desinfizieren musste. Was sie für eine Haarfarbe hatte, konnte er nur erraten, denn der Schleier saß fest um ihren Kopf und ließ kein einziges Härchen hervorlugen. Den dunklen, ausgeprägten Augenbrauen zu schließen, besaß sie wohl dunkle Haare, vermutete er.
Wieder musste Gordon schmunzeln. Ich glaube, ich habe die beiden hübschesten Nonnen des Klosters erwischt, ging es durch seinen Kopf.
Am Nachmittag begann sich der Himmel mit drohenden, schwarzen Wolken zu beziehen. Kaum dass ein Lüftchen wehte. Es wurde zum Ersticken schwül.
„Können Sie nicht etwas schneller fahren? Ich glaube, dass sich da ein schweres Unwetter zusammenbraut“, forderte ihn Christin mit sorgenvollen Gesicht auf.
„Tut mir leid, Lady, aber die Kiste hier ist schon achtzehn Jahre alt. Sie fährt leider nicht schneller“, antwortete Gordon mit einem entschuldigenden Lächeln.
„Oh, Verzeihung. Das wusste ich nicht“, entschuldigte sie sich ihrerseits.
„Wie sollten Sie das auch wissen, wenn Sie heute das erste Mal darin fahren?“, lächelte er.
Es wurde so finster, dass man meinte, die Nacht sei schon angebrochen. Und dann brach es über sie herein. Es begann zu wehen, immer stärker, so dass Gordon Mühe hatte, das Fahrzeug auf der Straße zu halten. Eilig kurbelte er sein Fenster hoch, denn mit einem Mal kam der Regen und zwar so gewaltig, dass man meinte, alle Schleusen wären im Himmel geöffnet worden. Die Scheibenwischer schafften keine freie Sicht mehr und er fuhr nur noch vertrauend auf sein Gefühl. Grelle Blitze beleuchteten kurz die Landschaft, doch sie verzerrten auch vieles. Momentan verlor Gordon vollkommen die Orientierung. Seinem Gefühl nach jedoch konnte es nicht mehr weit bis zum Anwesen seines Freundes sein.
„Es muss hier sein, ganz nah“, rief er laut, um die tosenden Elemente draußen zu übertönen.
„Aber ich sehe noch kein Haus“, erwiderte Christin, die angestrengt aus dem Fenster blickte.
„Ich auch nicht“, murmelte er bedrückt. Gordon schaltete das Fernlicht ein, aber das prallte nur gegen eine Mauer aus Regenwasser. Er fuhr ganz langsam und trotzdem gab es plötzlich ein unangenehmes, lautes Geräusch und das Vorderteil des Autos sackte langsam, beinahe in Zeitlupe, nach vorn unten ein. Die kleine Nonne saß mit ihrem Begleiter und dessen Auto in einem ausgespülten Loch fest. Vor Schreck hielt sie sich die Hand vor den Mund, aber sie schrie nicht laut auf. Beide sahen sich an und mussten trotz allem lachen. Sie nahmen es mit Humor. Er gab etwas Gas, doch das Fahrzeug wühlte sich mit den Vorderreifen nur noch tiefer in das Schlammloch. Gordon schaltete den Motor und das Licht aus und lehnte sich in seinem Sitz zurück.
„Endstation, wir stecken fest“, stellte er fest.
Doch so schnell wie der Regen begann, hörte er auch wieder auf. Es fiel nur noch ein leichter Nieselregen wie ein hauchdünner Schleier. Gordon und Christin wagten sich vorsichtig aus dem schiefstehenden Wagen heraus. Sicherheitshalber zog sie ihre Schuhe aus und lief barfuß weiter. Durch den dichten, aufsteigenden Dunst erblickte sie ein großes, weiß gestrichenes Haus, noch im Stil der Kolonialzeit, das allein auf weiter Flur stand. Es gab keine anderen Bauten in der näheren Umgebung. Vor wenigen Jahren war es renoviert worden, jedoch mehr die Innenräume als die Fassade. Dort sah sie nur neue Fenster und eine glasverzierte Haustüre eingesetzt. Über dem Eingang gab es einen ausladenden, runden Überbau, der bis über die Straße zur anderen Seite reichte und von vier weißen Säulen gestützt wurde. So konnten die Gäste vom Auto aus trockenen Fußes ins Haus gehen. Sie wusste nicht, dass dieses alte Haus vor drei Jahrzehnten nach hinten hinaus einen großen Anbau mit Wintergarten bekommen hatte, denn man konnte es von vorn nicht sehen.
Gordon hängte Christin sein Jackett über die schmalen Schultern. Er holte die zwei Koffer aus dem Gepäckraum des gestrandeten Autos und bewegte sich mit ihr auf das Haus zu.
„Sie befinden sich hier in „Twenty-Two-Oaks“, erklärte er ihr. „Dieses Anwesen trägt seinen Namen seit seiner Gründung vor mehreren Generationen der Stonewalls. Der erste Bewohner, der dieses Haus baute, ließ zweiundzwanzig Eichen pflanzen, nach denen er das Herrenhaus benannte.“
Christin sah sich um und gewahrte rechts und links der breiten Auffahrt eine Menge großer, alter Eichenbäume. Auf jeder Seite zählte sie elf Stück. Ein leichtes Rascheln war zu hören. Die vielen, dichten Blätter der alten Bäume entledigten sich der Wassertropfen und gaben sie nach unten auf den Boden ab. Sie wandte sich wieder dem Haus zu. In verschiedenen Räumen brannte Licht, welches hinaus auf den weißen Kiesweg leuchtete. Es gab nur ein oberes Stockwerk, dafür zog sich der Bau rechts und links des Eingangs sehr weit hin. Den vielen Fenstern nach zu urteilen, gab es sicher eine große Anzahl von Räumen, stellte sie fest. Hier musste eine Menge an Personal leben und arbeiten, glaubte sie. Plötzlich wurde die Haustüre ziemlich grob aufgerissen und eine ältere Pflegekraft stürzte mit angeekeltem Gesichtsausdruck aus dem Haus. Die Haare, die Schürze, bis hinunter zu den Schuhen voll Nudeln und Tomatensoße bekleckert.
„Nein, also wirklich, das muss ich mir auch von einem so stinkreichen Kerl wie ihm nicht gefallen lassen! Ich kündige auf der Stelle! Sofort! Suchen sie sich eine andere Dumme!“ Damit verließ Pflegekraft Nummer acht den Patienten. Sie stieg in ihren roten Cadillac, der seitlich der Auffahrt geparkt stand und fuhr davon.
„Sehen Sie? Ein sehr schwieriger Patient, den Sie sich da ausgesucht haben, meine ich“, warnte Gordon die kleine Nonne mit einem verschmitzten Lächeln vor.
„Mit Gottes Hilfe gelingt einem alles“, erwiderte Christin fest davon überzeugt und ging auf das Haus zu. Der Nebel nahm an Stärke zu, so dass das ehemals herrschaftliche Gebäude fast wie unwirklich in einem Traum erschien.
„Sie hat Mut, die kleine Ordensfrau“, murmelte Gordon vor sich hin.
In der offenen Türe stand der Hausmeister. Ein großgewachsener, schlanker Mann, um die fünfundsechzig Jahre alt. Sein Haar wies nur einen leichten Grauschimmer auf, während das seiner kleinen, leicht rundlichen Frau bereits gänzlich schneeweiß leuchtete. Sie war etwas jünger als ihr Mann. Doreen, eine äußerst ängstliche Natur, die immer gleich das Schlimmste befürchtete, hielt sich die Schürze vor das Gesicht, um die Tränen zu trockenen.
Gordon stellte die neue Pflegekraft vor: „Doreen, Richard, das ist Schwester Christin aus dem Heilig Geist Kloster: Christin, das ist das Hausmeisterehepaar, das damals Brandons Erziehung übernahm. Richard und Doreen Miller.“
Richard begutachtete die kleine Nonne äußerst genau. Dabei dachte er: Sie gleicht einer Elfe, doch nein. Er blickte ihr ins Gesicht. Sie wirkt so wunderschön, wie eine seltene Rose, die aus dem Nebel heraustritt und zu uns kommt.
Doreen schluchzte immer noch vor sich hin. Spontan ging Christin auf sie zu, nahm sie in den Arm, sie hatten beinahe die gleiche Größe, und geleitete die Frau ins Haus hinein. Sie befanden sich nun in der großen Eingangshalle.
„Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird schon alles gut werden“, tröstete sie die ältere Frau.
Seltsam, dachte diese. Das hat noch keine Pflegerin getan und mich tröstend in den Arm genommen.
„Wo bleibt der Rest der Bewohner?“, wunderte sich die kleine Nonne.
„Außer dem kranken Hausherrn gibt es hier niemanden weiter. Als er erkrankte, entließ er das gesamte Personal“, klärte sie Gordon auf. Christin nickte verstehend.
Kaum setzten sie ein paar Schritte in das Haus, hörten sie vom oberen Stockwerk Schmerzensschreie und zwar so entsetzlich klagend, dass Doreen erneut in Tränen ausbrach.
„Ich werde gleich mal nach ihm sehen“, beruhigte Christin das ältere Paar.
Sie nahm Gordons Jacke ab, hängte sie über eine Stuhllehne und griff nach dem großen Koffer mit den Medikamenten. Je eine leicht geschwungene Treppe aus dunklem Eichenholz führte rechts und links von der Halle aus in das obere Stockwerk. Christin folgte dem Geschrei und wählte die linke Treppe. Oben fand sie eine Türe offen stehen. Sie trat in den fast völlig dunklen Raum, in dem nur eine ganz kleine Nachtlampe mit schwacher Birne brannte. Die Vorhänge und die Rollos hielten die Fenstern fest verschlossen. Langsam betrat sie den Raum. Nach mehreren Schritten auf hellem Parkettboden stand sie direkt vor dem Bett, das mitten im Zimmer platziert stand. Sie ging zurück zur Tür und schaltete die große Deckenbeleuchtung ein.
Sofort begann Brandon erneut zu schreien. „Machen Sie sofort das Licht aus! Es blendet mich! Welcher Idiot hat es angeschaltet?“ Es sollte energisch klingen, doch die Kraft fehlte beinahe gänzlich in seiner Stimme, so dass es nur sehr leise und matt wirkte.
Christin ignorierte seine Befehle und sah sich um. Sie gewahrte den vor Schmerzen gequälten Mann in einem vollkommen mit Essensresten verdreckten Bett. Sie stellte ihren Koffer ab und öffnete ihn.
„Entschuldigung, Mr. Stonewall, ich will Ihnen helfen, aber ohne Licht sehe ich sonst nichts. Machen Sie doch bitte die Augen zu“, bat sie ihn freundlich.
„Sie können mich gar nicht verfehlen, auch im dunklen nicht: Ich bin der, der so schmerzvoll schreit und lamentiert“, antwortete er.
Während sie verschiedene Medikamente in einer Spritze aufzog, jammerte ihr Patient pausenlos weiter vor sich hin.
„Was habe ich nur verbrochen, dass mich alle so schlecht behandeln? Ich habe doch niemandem etwas getan.“ Er begann haltlos zu weinen.
Dann drehte er den Kopf zur Seite und erkannte die Umrisse von Christin in ihrer Nonnentracht und ihre nackten Füße. „Oh nein! Nein! Gordon, warum tust du mir das an? Du bist doch mein bester Freund. Nimm diese Nebelkrähe und bringe sie dahin zurück, wo sie herkommt. Ist es denn schon so weit mit mir, dass man mir Gottes rechte Hand schickt? Dann könnt ihr ja schon mal ein Loch im Garten graben, wo ihr mich dann hineinwerfen könnt.“ Sein Sarkasmus war unüberhörbar. Erneut krümmte er sich vor Schmerzen zusammen.
„Ich will meine Morphiumspritze haben!“, bettelte er. „Ich kann nicht mehr. Ach, wenn ich doch nur endlich sterben könnte. Keine Schmerzen haben, mehr will ich doch nicht“, jammerte er weiter.
Christin zog als erstes das Morphium in einer Spritze auf, jedoch nur dreiviertel der Ampulle, und mischte ihm noch ein pflanzliches Schmerzmedikament dazu. Jeden Tag etwas weniger vom Morphium, so bekommt er eventuell keine Entzugserscheinungen, überlegte sie. Sie wusste nicht wie stark er schon von dieser Droge abhängig war. In seinem Zustand jedoch wahrscheinlich schon sehr lange. Anschließend suchte sie nach einer Vene bei ihm, doch beide Arme sahen so zerstochen aus, dass sie beinahe kein brauchbares Blutgefäß mehr fand, um ihm das Medikament zu spritzen. Die Pflegerin vor ihr musste eine miserable Venentechnik gehabt haben. Endlich fand sie eine.
„Wo bleibt denn das Morphium?“ Brandon wurde ungeduldig und seine Stimme überschlug sich.
„Ich habe es Ihnen bereits gespritzt“, antwortete Christin.
„Seltsam, ich habe gar keinen Einstich gefühlt“, wunderte er sich.
Da sie nur diese eine gute Vene zur Verfügung hatte, legte sie ihm gleich einen intravenösen Zugang und hängte ihm eine Infusion mit verschiedenen pflanzlichen Medikamenten an den Infusionsständer.
„Warum martert ihr mich denn so? Lasst mich doch endlich in Ruhe sterben“, weinte er wieder.
„Habe ich Sie denn heute schon gemartert?“, entgegnete die Nonne.
Er dachte kurz nach und blinzelte in ihre Richtung. Seine Augen allerdings sahen sie nur durch einen undeutlichen Tränenschleier.
„Nein, eigentlich nicht, aber es wird noch kommen, wie immer, fürchte ich“, antwortete er. „Da bin ich mir ganz sicher.“
„Warten Sie’s doch einfach ab“, meinte Christin mit leiser Stimme.
„Gordon!“, rief er dann wieder. „Gordon, ich will keine Nebelkrähe. Du kannst sie gleich wieder mitnehmen. Solche alten Pinguine gehen mir auf die Nerven. Tu mir das nicht an oder ich werde sie genauso hinausekeln, wie die anderen Pflegekräfte auch.“
Doch der Freund lachte nur, als er an seinem Zimmer vorbeiging, und gab ihm keine Antwort.
Langsam wurde Brandon sichtbar ruhiger. Er entkrampfte sich und schloss seine Augen. Sein letzter Gedanke drehte sich um die nackten Füße der Pflegerin, die äußerst klein waren, jedoch wohlgeformt, die sich so gut wie lautlos über seinen Parkett-Fußboden bewegten.
Sie betrachtete ihn, wie er so dalag. Vollkommen abgemagert bis auf die Knochen. Die Haut fast durchsichtig weiß und mit tiefen, dunklen Rändern unter den Augen. Von der angeborenen Bräune keine Spur mehr. Die Wangen eingefallen und die Lippen blutig aufgesprungen. Seine dunkelblaue Schirmmütze saß verrutscht auf seinem Kopf, so dass man einen leichten dunkelbraunen Flaum sehen konnte. Anscheinend bekam er schon längere Zeit keine Chemotherapie mehr, denn sonst würden die Haare nicht so lustig sprießen. Man hat ihn also aufgegeben, ging es ihr durch den Kopf. Ebenso wuchs ein dichter, langer, dunkler Vollbart. Er stand im krassen Gegensatz zu der sehr hellen Haut. Keine der vorherigen Pflegerinnen hatte es für nötig gefunden, ihn zu rasieren. Natürlich, wozu dieser Aufwand auch? Er starb ja sowieso. Christin konnte keine Lachfältchen mehr entdecken. Brandon schlief jetzt tief und zwar einmal ganz ohne Schmerzen.