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„Schwester? Können Sie mir bitte helfen?“, rief er dann doch nach einer halben Stunde nach ihr. Vorsichtshalber legte er das Handtuch über seinen entblößten Unterleib.
Sogleich stand sie neben seinem Bett und half ihm schweigend aus der alten Hose und anschließend in die frische Unterhose und entfernte das Handtuch. Sie legte es sich über den Arm und schmunzelte.
„Sie brauchen sich gar nicht genieren vor mir. Ich habe nämlich schon viele Männer von Kopf bis Fuß gewaschen. Mir ist absolut nichts fremd an Ihnen.“
Damit schickte sie sich an die Waschutensilien wegzuräumen. Als sie zurückkam, lag er da mit geschlossenen Augen. Ihn hielt eine unendliche Müdigkeit gefangen. Kein Wunder nach dieser anstrengenden Arbeit. Christin zog die Bettdecke über ihn und gönnte ihm erst einmal etwas Ruhe. Er verwendete heute zum ersten Mal das Wort „Bitte.“ Christin dachte schon, dass so ein Wort in seinem Sprachvokabular gar nicht vorkam.
Im Laufe des Vormittags bekam Brandon Durst und zwar verlangte es ihn nach einem Whiskey.
Dass er ein Alkoholproblem hatte, wusste die Nonne.
Christin schenkte ihm ein halbes Glas ein und vermischte es mit Wasser. Nach dem ersten Schluck spie er alles zurück ins Glas.
„Pfui Teufel! Können Sie mir nicht einen ordentlichen Whiskey geben, statt so ein Wassergepansche?“, beschwerte er sich und ließ das Glas samt Inhalt angewidert auf den Boden fallen.
Sie jedoch machte sich nichts daraus.
Schade, dachte sie. Er hat den Unterschied geschmeckt. Sie schenkte ihm ein neues Glas Whiskey ein, nur dass sie noch fünf Tropfen einer wässerigen, pflanzlichen Substanz hinzufügte, die durch keinerlei Geschmack auffiel, dafür aber große Wirkung zeigte.
Brandon trank das Glas in einem Zug aus. Es dauerte eine knappe viertel Stunde und er rief nach seiner Pflegerin. Er krümmte sich vor Bauchschmerzen und dazu wurde ihm furchtbar übel. Christin brachte vorsichtshalber gleich den Eimer mit und da passierte es auch gleich: ihr Patient musste sich übergeben und das nicht nur einmal, nein fünfmal, bis nur noch der reine Magensaft kam. Danach legte er sich erschöpft von der Seite zurück auf den Rücken.
„Schwester, ich glaube, jetzt könnte ich noch ein Glas davon gebrauchen“, bat er und japste nach Luft.
Christin tat, wie ihr geheißen, und mischte ihm die gleiche Portion Tropfen bei wie zuvor. Kurze Zeit später übergab er sich aufs Neue.
„Ich glaube, der Whiskey verträgt sich nicht mit Ihren Medikamenten“, erwähnte sie in ganz ruhigem Ton und völlig unschuldig. Dabei runzelte sie die Stirn.
„Quatsch, vorher hat sich auch alles miteinander vertragen“, widersprach er.
„Das kann sich später auch erst entwickeln“, antwortete sie ungerührt.
„Na ja, vielleicht haben Sie ja doch Recht“, gab er nachträglich zu.
Er zitterte am ganzen Körper. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, die ihm seine Pflegerin mit einem warmen, feuchten Tuch abwischte.
„Ich lasse Ihnen die Whiskey-Flasche hier, falls Sie doch noch mal einen trinken möchten“, teilte sie ihm mit, da er die Augen geschlossen hielt. „Wenn es Ihnen recht ist, gieße ich noch ein Glas ein. Sie brauchen nur nach mir zu klingeln.“
Sie stellte die geöffnete Flasche mit den beigemischten Tropfen absichtlich neben sein Bett auf den Nachttisch. Brandon stieg der Geruch des Alkohols aus der Flasche in die Nase und sofort würgte es ihn wieder.
„Schwester!“, rief er gequält.
Christin wollte das Zimmer verlassen und erreichte gerade die Türe.
„Schwester, nehmen Sie die Flasche mit, ich kann das Zeug nicht mehr riechen, ohne dass mir übel wird“, erklärte er ihr angeekelt.
Sie nahm die Flasche und ging nach unten in die Küche.
So, wieder einen geheilt vom Alkohol, dachte sie und grinste vor sich hin.
In der Küche stellte sie die Flasche auf einen Seitenschrank, als Doreen nach ihr rief.
„Schwester, ich fahre heute einkaufen. Soll ich irgendwas Besonderes mitbringen?“, wollte sie wissen.
„Oh ja.“ Christin wollte ihren Patienten umstellen auf Vollwertkost. Das hieß, nicht so viel Fleisch, dafür mehr Gemüse, Salat, Fisch, Obst und Vollkornprodukte. So schrieb Doreen auf, was ihr die Nonne alles diktierte.
„Wie soll ich das zubereiten? Ich kenne mich da gar nicht aus“, rief die Haushälterin etwas erschrocken.
„Keine Sorge. Ich koche sein Menü selbst. Sie brauchen sich nur um Ihren Mann zu kümmern“, beruhigte sie Christin.
Sie vergaß die Whiskey-Flasche, die sie eigentlich ausleeren wollte und ging nach oben.
Da betrat Richard die Küche. „Ich gehe hinaus, um nach Gordons Auto zu sehen“, informierte er seine Frau. Da sah er die Flasche stehen.
„Oh, eine aus Brandons Sammlung? Und sogar noch halb voll. Den muss ich mal probieren“, sagte er mehr zu sich selbst.
Er schenkte sich nicht gerade ein kleines Glas ein und kippte den Inhalt mit einem Mal hinunter.
„Hm, nicht schlecht. Der Junge hat einen guten Geschmack“, stellte er fest.
Doreen suchte währenddessen alle Sachen zusammen, die sie für den Einkauf benötigte. Sie hatte noch nicht alles in den Korb gepackt, da stürmte Richard ins Haus. Er ging gebückt, hielt sich vor Schmerzen den Bauch und rannte so schnell es sein Zustand erlaubte auf die Toilette. Was sich dann dort entlud, hätte einem echten Gewitter wahre Konkurrenz gemacht.
Christin kehrte in die Küche zurück, da ihr die Flasche einfiel.
„Meinem Mann geht es auch nicht gut“, äußerte sich die Haushälterin besorgt der Schwester gegenüber.
„Hat er etwa von dem Whiskey getrunken?“, informierte sie sich.
„Ja, ich glaube schon“, antwortete Doreen.
Da lachte Christin. „Halb so schlimm, das geht gleich vorbei. Das ist nur eine Abschreckung vor Alkohol. Sie können ihn hinterher nicht mehr riechen. Aber das müssen die Männer ja nicht wissen. Es ist unser Geheimnis, Doreen.“ Damit leerte sie den Inhalt der Flasche ins Waschbecken aus.
„Ich habe ein Destillat aus Brechwurz hineingegeben. Das ist völlig geschmacks- und geruchsneutral. Dafür räumt es einem aber hinterher gründlich den Magen aus“, erklärte ihr die Nonne.
Jetzt schmunzelte auch Doreen. „Haben Sie zufällig auch ein Mittel gegen Dummheit? Immer wenn mein Mann mir helfen soll, stellt er sich dabei so ungeschickt an, dass ich es am Ende selbst mache“, forschte die Haushälterin.
„Dummheit? Ich glaube, dagegen muss erst noch ein Kraut wachsen“, erwiderte Christin lachend.
Sogar Doreen lachte mit, wo sie doch seit vielen Wochen nur weinte und gar nicht mehr lachte. Aber diese Schwester konnte so herzlich lachen und besaß ein so fröhliches Wesen, trotz der vielen schwerkranken Patienten, dass man selbst von seinem Kummer abgelenkt wurde. Sie brachte frischen Wind, Frohsinn und eine positive Stimmung in das Haus, die alle Bewohner mitriss.
„Sie verrichten Ihre Arbeit mit so viel Kraft und Freude. Üben Sie diese Tätigkeit wirklich so gern aus?“, fragte sie die Schwester.
„Natürlich, denn ohne Freude profitiert der Kranke nicht davon. Wenn ich dann feststelle, dem Patienten geht es besser, beflügelt mich das umso mehr“, erklärte Christin.
„Das also ist Ihr Geheimnis“, stellte Doreen fest.
„Kein Geheimnis, Gott gibt mir die Kraft dazu“, ließ sie die Frau wissen.
Sie mochten einander, obwohl ein beträchtlicher Altersunterschied bestand. Die Haushälterin schloss sie sofort in ihr Herz und Christin erging es ebenso. Sie mochte das Hausmeisterehepaar vom ersten Moment an. Beide besaßen Herz und Gefühl. Vor allem, was den Patienten anbelangte. Sie fühlten wie richtige Eltern, denen ein Kind schwerkrank wurde, obwohl es nicht ihr eigenes war. Sie selbst bekamen keine Kinder und so hängten sie ihr Herz an Brandon.
Als es dem Patienten wieder besser ging, sprach Christin ihn auf sein Alkoholproblem an.
„Waren Sie vorher schon alkoholabhängig?“, wollte sie von ihm rundheraus wissen.
„Was geht Sie das eigentlich an?“, schnaufte er genervt. Nach einer kurzen Pause sprach er doch weiter: „Nein, ich habe höchstens mal ein Glas Wein getrunken. Erst als die Schmerzen kamen und unerträglich wurden, habe ich versucht sie mit Alkohol zu betäuben. Anfangs ohne Medikamente, später mit. Im Grunde hasse ich Whiskey. Ich würde ihn niemals so trinken“, gestand er ihr. Er hatte den Kopf etwas angehoben, um sie sehen zu können, denn sie stand am Ende des Bettes.
Er sah sie an, doch ihr Gesicht verschwamm vor seinen Augen. Sein Kopf fiel nach hinten in das Kopfkissen und er trat wieder weg.
Christin seufzte. Das wird nicht leicht werden, denn er hat nicht nur ein Alkoholsondern auch ein Drogenproblem, überlegte sie. Das ergab jedenfalls wohl doch massive Entzugserscheinungen. Obwohl sie das Morphium schrittweise reduzierte und meinte, sie könne ihm so weit wie möglich diese fürchterlichen Nebenerscheinungen ersparen, brachen sie voll aus.
Die folgende Woche kam Christin beinahe Tag und Nacht nicht zur Ruhe. Brandon tobte, er schrie und schlug heftig um sich.
Doreen hielt sich nachts das Kopfkissen über den Kopf. Sie konnte sein Geschrei, das durch das gesamte Haus hallte, kaum noch ertragen.
„Was tut diese Pflegerin nur mit ihm? Schlägt sie ihn? Oder lässt sie ihn verhungern und verdursten? Wenn das noch länger dauert, ziehe ich aus“, jammerte sie ihrem Mann vor.
Nach einer Woche wagte sich das Ehepaar vorsichtig zum ersten Mal wieder in das erste Stockwerk. Sie fanden die Nonne vor Brandons geschlossener Zimmertüre auf dem Fußboden sitzen, neben sich ein Gebetbuch aufgeschlagen liegen. Die Beine hatte sie angezogen und mit den Armen umschlang sie ihre Knie. In ihrem völlig übernächtigten Gesicht fanden sie Tränenspuren. Es herrschte tiefe Stille. Eine beängstigende Stille.
„Was ist geschehen? Ist er gestorben?“, erkundigte sich Richard mit vor Schreck geweiteten Augen.
„Nein, um Himmels willen“, antwortete die Nonne. „Ich denke, er hat den schlimmsten Teil der Entzugserscheinungen hinter sich, bis vielleicht noch auf einzelne, kleinere Ausbrüche.“
„Haben Sie so etwas schon öfter tun müssen?“, informierte sich der Hausmeister.
„Nur einmal bisher aber das hier übersteigt sogar meine Kräfte. Ein Glück, dass er nicht aufstehen kann, sonst wäre er gewiss aus dem Fenster gesprungen. Jetzt ist er etwas ruhiger geworden. Ich hoffe, die Krise ist vorüber. Er wird nun lange schlafen, denn diese Tobsuchtsanfälle verlangten ihm alle Energie ab, die er noch in seinem Zustand zur Verfügung hatte.
An diesem Tag wurde endlich das Spezialbett geliefert, das Christin vom Kloster anforderte. Von nun an brauchte sie nur auf einen Knopf zu drücken und das obere Teil des Bettes senkte sich auf das untere und drehte sich mitsamt dem Patienten und dem Bettzeug um. So schonte sie ihren Rücken und seinen ebenfalls.
Tatsächlich wurde Brandon ab jetzt wieder ruhiger. Christin lagerte ihren Patienten Tag und Nacht in seinem Bett um, damit der Dekubitus abheilte. Nach einer Woche endlich kam der sichtbare Erfolg. Man sah, dass sich die Wunde schloss und abheilte. Nur sein Allgemeinzustand gefiel ihr nicht. Er aß wieder weniger, schlief sehr viel und die Schmerzen kehrten wieder heftig in seinen Körper zurück.
Trotzdem servierte ihm die Pflegerin immer wieder kleine Mahlzeiten. Er jedoch schob den Teller zurück. „Ich habe keinen Hunger. Bitte nehmen Sie es wieder mit“, bat Brandon matt.
„Wenn Sie gesund werden möchten, brauchen sie Kraft, um die bösartigen Zellen zu besiegen“, widersprach Christin.
„Ich werde nicht mehr gesund, ich sterbe“, entgegnete er, fest davon überzeugt. „Hören Sie das Geschrei da draußen? Da sind sie wieder, die schwarzen Krähen. Diese Vögel kommen immer noch jeden Tag. Sie kreisen um die alten Eichen und warten auf meinen Tod.“
Ein Vogel setzte sich wieder auf das Fensterblech und klopfte mit dem Schnabel gegen das Fenster. Ob es wohl der gleiche war wie neulich?
„Sehen Sie? Jetzt klopft er schon an, um mich zu holen“, machte er ihr begreiflich. Sein Gesicht glänzte vor kaltem Schweiß und er zitterte am ganzen Körper.
„Aber nein, Mr. Stonewall. Der Vogel hat sich nur verirrt. Er will Sie gewiss nicht holen. Er testet das Glas nur, ob er hindurch fliegen kann. Er will schließlich keinen Genickbruch riskieren“, lächelte sie milde. „Warum? Warum sterben? Haben Sie noch Schmerzen im Moment?“, wollte sie wissen. „Ich nehme Ihnen die Schmerzen und solange meine Medikamente noch anschlagen, ist es noch nicht zu spät. Sie torpedieren meine ganze Arbeit! Etwas müssen Sie auch dazu leisten! Essen Sie wenigstens die frischen Himbeeren. Der Krebs mag keine Himbeeren, wissen Sie das nicht?“, versuchte sie ihn zu ermuntern.
Sehr zaghaft und mit langsamen Bewegungen nahm er eine Beere nach der anderen und schob sie sich unter ihrer Aufsicht in den Mund. Sie blieb so lange bei ihm stehen, bis er die letzte Himbeere gegessen hatte.
„Sind Sie jetzt zufrieden?“, murrte er.
„Ja, heute bekommen Sie sogar ein Lob von mir“, gab sie lächelnd zur Antwort.
Als der behandelnde Arzt ihn am nächsten Tag nach langen Wochen wieder einmal besuchte, nahm er Blut ab, um es untersuchen zu lassen. Die Zeitabstände, in denen er bei Brandon erschien, wurden auch immer länger. Er klopfte Brandons Rücken ab und hörte die Lunge mit dem Stethoskop ab. Er tat das sehr genau und intensiv. Dann richtete er sich auf, legte sich das Instrument um den Nacken und stemmte seine Fäuste in die Hüften.
„Zum Teufel! Wo in aller Welt ist das ganze Wasser in der Lunge hin? Ich höre nichts mehr“, wunderte sich der Arzt. Er sah auf und entdeckte eine steile Falte auf der Stirn der Nonne stehen.
„Oh, Verzeihung Schwester“, entschuldigte er sich.
„Ist wohl verdampft“, murmelte Brandon in sein Kissen, denn er lag auf dem Bauch.
„Ich kann mir das nicht erklären. Normalerweise wird es nach jeder Punktion etwas mehr“, er schüttelte den Kopf. Nachdenklich packte er sein Stethoskop wieder weg. Dann richtete er sich auf und wandte sich an Christin: „Schwester, Sie wissen sicher, dass der Patient Wunschkost bekommt?“
Sie öffnete ihren Mund, um ihm von ihrer Vollwertkost zu berichten: „Ich gebe …“, doch weiter kam sie nicht, da fiel ihr Brandon ins Wort. „Ich will keine Wunschkost.“
„Nicht?“, wunderte sich der Professor. „Meinen Sie das Manna dort oben im Himmel schmeckt besser?“, amüsierte er sich.
„Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall möchte ich die spezielle Kost, die mir Schwester Christin persönlich zubereitet, weiterhin behalten. Ihre Gerichte schmecken vorzüglich, denn sie kocht sehr gut und ich habe das Gefühl, dass sie mich stärken und aufbauen“, ließ ihn Brandon wissen.
„Dann sind Sie also zufrieden mit Ihrer Pflegekraft? Wenn Sie allerdings keine Nonne haben wollen und eine freie Schwester vorziehen, kann ich Ihnen auch eine aus meiner Klinik besorgen“, bot er ihm an.
„Nein, danke. Das hätten Sie bereits früher tun sollen. Von den anderen Pflegekräften habe ich die Schnauze gründlich voll. Schwester Christin entspricht allem, was eine exzellente Pflegekraft ausmacht. Ich bin absolut zufrieden mit ihr“, antwortete Brandon.
„Das freut mich zu hören“, entgegnete der Arzt.
Beschämt über so viel Lob senkte sie ihre Augen und schenkte dem Arzt ein schüchternes Lächeln, das so bezaubernd ausfiel, dass der Professor schmunzelnd zur Antwort gab: „Ja, bei diesem Lächeln müssten sogar die Krebszellen kapitulieren.“ Er packte seine Tasche ein. „Ich komme in zwei Tagen wieder und werde Ihnen dann das Blutergebnis mitteilen.“ Er hielt sich diesmal länger bei Brandon auf, als er eigentlich wollte. Auf der Rückfahrt jedoch ging ihm das verschwundene Wasser nicht aus dem Kopf.
„Haben Sie etwas mit dem Wasser zu tun?“, informierte sich Brandon bei seiner Pflegerin und blinzelte sie schräg an.
„Sie bekommen dreimal täglich einen speziellen Krebs-Tee von mir. Es könnte sein, dass er dafür verantwortlich ist. Er ist neu in unserer Apotheke. Ich konnte ihn vorher noch nicht testen“, erklärte sie ihm.
„Ach ja? Dann bin ich also Ihr Versuchskaninchen?“, beschwerte sich Brandon wütend.
„Nein, nein, unsere Apotheke verkaufte ihn schon drei Wochen lang. Er wurde im Labor lange Zeit getestet. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass er Ihnen schaden könnte. Im Gegenteil, er hat Ihnen doch jetzt die Punktion erspart“, beschwichtigte sie ihn.
Zwei Tage später erschien der Arzt wieder und teilte ihm schonungslos das niederschmetternde Ergebnis mit: „Die Krebszellen haben sich enorm vermehrt. Wir machen morgen gleich nochmal eine Chemotherapie“, ordnete er an.
„Wieso das denn auf einmal? Ich dachte, ich bin im Endstadium und Sie hätten mich aufgegeben“, wunderte sich Brandon.
„Nun, seit dem Sie kein Wasser mehr in der Lunge haben, denke ich, dass wir vielleicht noch eine kleine Chance haben“, erklärte ihm der Professor.
Nachdem der Arzt das Haus verlassen hatte, brach Brandon in Tränen aus.
„Noch einmal diese Tortur? Wie oft denn noch? Es hilft doch sowieso nichts! Ich ertrage das nicht mehr“, jammerte er. „Ob mit oder ohne Wasser in der Lunge, diese Chemo hat noch nie bei mir gefruchtet.“
Christin kam zu ihm. Er tat ihr unendlich leid. Sie wusste, dass sie sich da auf etwas einließ, dass sie nicht tun sollte, nämlich körperlich und seelisch mit dem Patienten zu fühlen. Es kam so plötzlich über sie, dass es ihr unmöglich wurde, sich dagegen zu wehren.
Nach dieser Diagnose konnte sie den ganzen Tag nichts mehr mit ihm anfangen. Er gab nur noch einsilbige Antworten. Selbst ein einfaches Gespräch kam nicht mehr in Gang.
Wegen der bevorstehenden Chemotherapie konnte er die ganze Nacht kein Auge zumachen.
Am nächsten Morgen das gleiche Dilemma. Auch das liebevoll hergerichtete Frühstück rührte er nicht an.
Christin setzte sich auf die Bettkante und nahm seine großen, schlanken Hände in die ihren. „Kommen Sie, Mr. Stonewall, lassen Sie uns ein Gebet sprechen“, versuchte sie ihn zu ermuntern.
Doch da kam sie bei Brandon gerade an die falsche Adresse. Ruckartig entzog er ihr seine Hände.
„Beten! Beten! Etwas anderes könnt ihr Ordensschwestern ja nicht! Ihr meint, alle Krankheiten lassen sich heilen und alle Probleme mit einem Gebet regeln! Ein kleines, kurzes Gebet und alles wird wieder gut, ja? Mich hat Gott schon lange verlassen, deshalb glaube und bete ich auch nicht mehr!“, brach es aus ihm heraus.
Christin zog sich leicht irritiert zurück. Mit diesem Ausbruch hatte sie nicht gerechnet. Aber er war jetzt leicht verwundbar durch die erneuten Schmerzen und die Chemotherapie, die ihn erwartete. Deshalb verzieh sie es ihm. Sie betete im Stillen für sich und trotzdem auch für ihn.
Der Krankenwagen fuhr vor. Zwei Sanitäter kamen mit einer Trage. Sie hoben den Patienten mitsamt dem Bettlaken darauf, um die Wirbelsäule so wenig wie möglich in ihrer Lage zu verändern. Er wurde festgeschnallt und ins Auto gebracht. Christin folgte bis zum Rettungswagen.
„Habt Ihr noch einen Platz für mich frei?“, erkundigte sie sich.
„Sie wollen mitfahren?“ Die Sanitäter sahen sich etwas überrascht an. Das tat bis jetzt keine häusliche Pflegekraft.
„Ich lasse meine Patienten nie allein“, erläuterte sie den beiden jungen Männern mit festem Blick.
Rasch machten sie neben der Trage einen Notsitz für sie frei. Sie stieg ein, setzte sich und schnallte sich an.
„Machen Sie das wirklich immer?“, hinterfragte Brandon neugierig.
Sie sah ihn mit großen, ehrlichen Augen an und bestätigte: „Ja, das tue ich, weil ich der Meinung bin, dass alle meine Patienten, ob groß oder klein, gerade in dieser Situation, in der Sie sich jetzt im Moment auch befinden, Beistand brauchen. Sie fühlen sich sonst total verlassen und dem Ganzen hilflos ausgeliefert, auch wenn sie erwachsen sind.“
Brandon staunte wieder einmal mehr über diese kleine Nonne.
In der Krebsklinik angekommen, brachte man ihn sofort in einen Vorbereitungsraum. Christin bekam einen grünen Kittel übergestülpt. Man verkabelte Brandon inzwischen mit verschiedenen Überwachungsgeräten und legte ihn wieder mittels des Lakens auf eine Art Operationstisch. Sie schoben ihn in den angrenzenden Raum, wo ihn der Professor erwartete.
„Guten Morgen, Mr. Stonewall“, begrüßte er ihn.
Brandon murmelte etwas Undeutliches, denn für ihn würde es kein guter Morgen werden.
„Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen“, begann der Arzt. „Da Sie so einen aggressiven Blutkrebs haben, will ich Ihnen eine neue Therapie anbieten. Und zwar geben wir Ihnen die Chemo-Medikamente direkt zwischen die Wirbel. Normalerweise verabreicht man das Medikament zwischen dem vierten und fünften Lendenwirbel. Bei Ihnen ist das leider nicht möglich, da Ihre Lendenwirbelsäule verletzt ist. Also werden wir zwei Wirbel weiter oben eindringen. Auf jeden Fall hat sich diese neue Methode am effektivsten erwiesen.“
„Wenn Sie meinen, dass es etwas bringt?“, brummte Brandon. „Aber fangen Sie bitte endlich an. Ich will es so schnell wie möglich hinter mich bringen.“ Ihm war so ziemlich alles egal.
Man lagerte ihn vorsichtig auf die rechte Seite. Das Behandlungsgebiet wurde großflächig desinfiziert. Ein Pfleger erhöhte den Tisch, so dass der Professor das besagte Gebiet direkt vor seinem Gesicht hatte. Er bekam sterile Handschuhe von einer Schwester übergestreift. Dann griff er zu einer Spezialkanüle, die auf dem hergerichteten Instrumententisch lag.
„Mr. Stonewall, ist alles in Ordnung?“, fragte er sicherheitshalber seinen Patienten. „Es gibt jetzt einen kurzen Stich. Bitte erschrecken Sie nicht.“
Als er die Kanüle einstach, biss Brandon seine Zähne fest aufeinander. Er klammerte sich vor Schmerz an Christin, die vor ihm am Kopfende des Tisches stand, und zwar krallte er sich mit seinen Fingern so fest er konnte um ihre Taille. Vor Schreck blieb ihr die Luft weg. Noch nie berührte sie hier ein Mann.
„Bleiben Sie jetzt bitte ganz ruhig liegen“, ermahnte ihn der Professor. „Ich schließe jetzt den Perfusor (ein Gerät, das gleichmäßig die Tropfen abgibt) an.“
Man stützte und fixierte ihn mit Sandsäcken, damit er nicht nach hinten auf den Rücken rollen konnte und deckte ihn leicht zu.
Langsam ebbte der Schmerz in Brandons Rücken ab. Erst jetzt bemerkte er, dass er seine Pflegerin fest umschlungen hielt. Erschrocken ließ er sie los.
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, murmelte er betreten. „Habe ich Ihnen wehgetan?“
„Nein, es ist schon in Ordnung“, antwortete Christin und atmete befreit auf. Doch so unangenehm fühlte sich die Berührung gar nicht an. Im Gegenteil, dort wo seine Hände sie umfangen hatten, kribbelte es jetzt und eine angenehme Wärme breitete sich in ihrem Körper aus. Ein leichtes Schwächegefühl in ihren Beinen machte sich zusätzlich bemerkbar. Sie konnte damit nichts anfangen, es auch nirgends einordnen. Christin hatte diese Gefühle zum ersten Mal und sie bemerkte bei sich eine große Unsicherheit. Wie sollte sie damit umgehen?
Der Tisch wurde wieder auf normale Höhe gebracht. Die Nonne holte sich einen Stuhl, setzte sich neben ihren Patienten und nahm seine rechte Hand in die ihre.
Bis das Medikament vollständig infundiert war, wurde es Nachmittag. Die Kanüle wurde herausgezogen und Brandon mit einem Druckverband auf den Rücken gelagert. Jetzt musste er drei Stunden so liegen bleiben. Er fühlte sich müde und wollte schlafen, aber ein starkes Übelkeitsgefühl hielt ihn davon ab. Verzweifelt versuchte er es zu unterdrücken, doch leider ließ es sich nicht aufhalten. Brandon erbrach beinahe pausenlos, ihm schmerzte der Magen und rasende Kopfschmerzen stellten sich ein. Christin hielt ihm die Brechschale. Sie fand es einfach grauenhaft, dass schwerkranke Patienten mit diesen Medikamenten auch noch belastet wurden. Doch im Moment gab es noch nichts Besseres auf dem Markt. Die Ordensschwester kämpfte mit den Tränen, etwas, das ihr noch niemals widerfahren war während einer Betreuung. Verstohlen wischte sie sie mit dem Handrücken weg, denn er sollte sie nicht sehen. Warum nur fühle ich mich ausgerechnet bei diesem Patienten so schwach? wunderte sie sich. In der Ausbildung wurde ich gelehrt, die Patienten mit Herz zu pflegen, jedoch den Schmerz und das Leid nicht an sich herankommen zu lassen. Geschieht es wirklich einmal, so ist das eigene Herz und der Glaube an Gott gefährdet. In solchen Situationen sollte man immer mit einem passenden Bibelspruch reagieren, um das Unheil abzuwenden, rief sie sich in ihre Erinnerung zurück. Und so betete sie lautlos in ihren Gedanken: „Denn worin er, Jesus Christus, selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden.