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Erst als die Sonne unterging wurden Brandon und seine Pflegerin nach Hause gefahren.
Christin kam ihr Patient heute noch schwächer als je zuvor vor. Er atmete so flach, dass sie schon genau hinsehen musste, ob er überhaupt noch Luft holte. Sie blieb die ganze Nacht an seinem Bett, vor allem auch, weil ihm immer wieder übel wurde. Nur von seinen Kopfschmerzen konnte sie ihn mit ihren Händen befreien. Auch die Infusion legte sie wieder, so dass er keine Schmerzen verspürte.
Eine ganze Woche besserte sich sein Zustand kaum. Christin stand wieder am Anfang ihrer Therapie.
„Ich glaube, ich muss mein ganzes restliches Leben im Bett verbringen“, gab Brandon eines Abends ganz unvermittelt von sich.
Christin gab es einen Riss, denn sie döste neben ihm leicht ein.
„Das glaube ich nicht“, widersprach sie sogleich.
„Sie wollen es nur nicht glauben“, entgegnete er trübsinnig. Das Wort „wollen“ betonte er extra.
„Nein, ich glaube fest, dass diese neue Chemotherapie greift. Sind die Krebszellen dann auf dem Rückzug, können Sie doch operiert werden“, versicherte sie ihm.
„Gut, dann sitze ich eben im Rollstuhl für den Rest, der mir noch bleibt. Ich hasse dieses Ding!“, brach es aus ihm heraus.
„Wer sagt Ihnen, dass Sie im Rollstuhl bleiben müssen? Erst muss ja wohl geklärt werden, was im Einzelnen bei Ihrer Wirbelsäule verletzt ist. Und durchgebrochen ist sie auch nicht, sonst wären Sie entweder schon längst tot, oder zumindest querschnittsgelähmt“, ereiferte sich Christin.
„Schon, aber ich fühle meine Beine und Füße nicht. Folglich bin ich querschnittsgelähmt“, beharrte Brandon.
„Das ist überhaupt nicht sicher. Beim Waschen habe ich zum Beispiel bemerkt, dass Sie ab und zu die Füße und die Beine ein wenig bewegt haben. Mr. Stonewall, warum sehen Sie denn alles so negativ?“, wollte sie wissen.
„Weil mein ganzes Leben bisher nur negativ verlaufen ist, sogar meine Kinderzeit und Jugendzeit“, antwortete er. „Seit ich so krank bin, fühle ich mich oft wie ein Baum ohne Blätter, dessen nackte, sturmgepeitschte Äste sich im dichten, kalten Nebel um Hilfe flehend dem Himmel entgegenstrecken.“
„Ich will nicht neugierig sein, Mr. Stonewall, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, mir das bitte etwas näher zu erklären?“ Sie setzte sich zu ihm auf den Bettrand.
„Mr. Stonewall, der da draußen im Park in einem Mausoleum begraben liegt, ist nicht mein richtiger Vater. Meine Mutter wurde als sehr junges Mädchen zu dieser Vernunftehe gezwungen. Das klingt zwar wie im Mittelalter, doch bei meinen Eltern wurde es leider so arrangiert. Die Liebe blieb aus. Trotzdem kam ein Jahr nach der Hochzeit mein Bruder Henry auf die Welt. Sechs Jahre später fuhr meine Mutter allein in den Urlaub. Mein Stiefvater musste zur gleichen Zeit eine längere Geschäftsreise antreten. Als meine Mutter nach Hause kam, konnte sie dummerweise später nicht mehr sagen, dass das Kind, das sie erwartete, von ihrem Mann stammte, denn man sah ihr die Schwangerschaft bereits an. Eine Abtreibung stand bei ihr niemals zur Debatte. Sie wollte das Kind auf jeden Fall bekommen. Über meinen leiblichen Vater sprach sie niemals. So flog der Seitensprung auf. Mein Stiefvater ließ sich jedoch nicht scheiden, schon wegen des Geredes der Leute. Er stand als Chef mehreren Banken vor. Da machte sich eine Trennung nicht gut. Aber er verbannte meine Mutter und mich aus dem gemeinsamen Schlafzimmer. Nur wenn es etwas zu repräsentieren gab und die Presse anrückte, mussten sie und ich an seiner Seite erscheinen. Ihnen wollte er der Welt seine heile Familie präsentieren, die in Wirklichkeit überhaupt nicht existierte. Mein Vater hielt viele Gartenpartys ab, die sich bis in die später Nacht, manchmal bis zum frühen Morgen hinauszogen. Es kamen Männer und Frauen von Welt und vor allem von anderen großen Banken. Deshalb auch die vielen Schlafzimmer im Haus, wenn die Gäste so spät und mit Alkohol im Blut nicht nach Hause fahren konnten. Mich übersah er sowieso komplett. Mich gab es so gut wie gar nicht für ihn. Mein Bruder wurde als Haupterbe eingesetzt. In der Schule glänzte er nicht gerade. Am schwersten tat er sich im Fach Mathematik. Gerade das Fach, welches er später am dringendsten benötigte. Ich sollte nur das Wohnrecht bekommen. Mein Bruder entwickelte sich zum Spieler und Trinker. Häufig steckte er in Spielschulden, aus denen mein Stiefvater ihn auslösen musste. Doch er sah darüber hinweg. Er meinte: er solle sich erst die Hörner abschlagen. Das gehöre schließlich zur Jugend. Trotzdem sollte er der Erbe seines Imperiums werden. Er sah ihn als seinen einzigen, leiblichen Sohn, der nach seinem Tod die sieben Banken mit Erfolg weiterführen sollte. Sein Stolz auf ihn kannte keine Grenzen.“ Brandon machte eine kurze Pause.
„Als ich dreizehn Jahre alt wurde, fuhren meine Eltern mit meinem Bruder zu einer Gartenparty. Auf dem Weg dorthin verunglückten sie. Alle drei verstarben noch an der Unfallstelle. Mein Stiefvater besaß keine weiteren Verwandten, soviel ich weiß und von Mutters Seiten wollte mich keiner haben, weil ich ein Kuckucksei war.“
Sein Blick wurde starr.
„Gott nahm mir meine gesamte Familie, wenn es auch nie eine richtige war. Vor allem aber hat er mir meine Mutter genommen, die sich als einzige wirklich liebevoll um mich kümmerte bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr. Ab da übernahmen Doreen und Richard meine Erziehung. Bei ihnen konnte ich mich auch nicht beklagen, denn sie liebten mich wie einen eigenen Sohn. Und sie tun es heute immer noch. Mit achtzehn Jahren bekam ich die Banken übertragen. Plötzlich wurde ich, das Kind, das immer auf die Seite geschoben wurde, zum Multimillionär. Ein Glück, dass mein Stiefvater so gut ausgebildete Manager besaß, die alles in seinem Sinn weiterführten, bis ich alt genug war, sein Imperium zu übernehmen. Nur, ich hatte keine Ahnung vom Bankwesen. Ich wurde ja gar nicht als Erbe vorgesehen. Notgedrungen musste ich eine Kurzausbildung machen, so dass ich im groben Umfang verstand, um was es ging. Doch die Hauptaufgaben übernahmen immer noch die Manager. Trotzdem glaube ich sagen zu können, dass ich heute mehr davon verstehe, als mein Bruder damals. Doch mit Zahlen allein wollte ich mein Leben nicht zubringen und so studierte ich Veterinärmedizin zum Ausgleich.“ Erschöpft schloss er für kurze Zeit seine Augen.
„So, nun wissen Sie, warum ich nicht mehr bete. Gott hat mir alles genommen, was ich besaß. Und jetzt kann ich nicht mehr laufen und habe außerdem noch diese abscheuliche Leukämie am Hals. Für was alles bestraft er mich denn noch? Die vielen Millionen bedeuten mir nichts. Lieber wäre ich arm, aber gesund“, murmelte er kaum hörbar die letzten Sätze und schloss die Augen, doch er schlief nicht.
Eine große Stille trat ein. Nach einer Weile erkundigte sich Christin ganz leise: „Wie oft haben Sie das Grab Ihrer Familie besucht?“
„Nur bei der Trauerfeier“, knurrte Brandon und drehte sein Gesicht weg von ihr seitlich ins Kopfkissen hinein.
„Ich glaube nicht, dass Gott Sie verlassen hat, sondern Sie haben ihn verlassen, wenn Sie nicht mal mehr die Gräber besucht haben, um zu beten“, ließ sie ihn wissen.
Brandon holte tief Luft und wollte ihr heftig entgegnen, doch plötzlich erkannte er den Sinn ihrer Rede. Er stieß die Luft wieder aus. Seine Augen hielt er geschlossen. Lange Zeit dachte er darüber nach, als Christin flüsterte: „Ich habe meinen Bogen in den Himmel gesetzt, zum Bündnis der Menschen mit mir.“ Sie wandelte den Spruch etwas ab, damit er es besser verstand. Sanft nahm sie seine Hand in ihre.
„Gott ist immer da, auch bei Ihnen, selbst wenn Sie es nicht wissen. Er leitet eines jeden Menschen Wege, gute und weniger gute. Nur er weiß, dass alles seinen Sinn hat.“ Die Nonne erhob sich.
Da hielt sie Brandon an der Hand zurück. „Habe ich denn alles falsch gemacht?“, flüsterte er.
„Vielleicht nicht alles, wohl aber vieles. Doch ist es nie zu spät zur Umkehr“, antwortete sie. „Gott wird Ihnen verzeihen, weil er ein Gott der Liebe ist.“ Damit ging sie durch die Verbindungstür in ihr Zimmer.
Wie kann man nur so einen unerschütterlichen Glauben haben, dachte er.
Gordons Auto hatte sich so tief in den Schlamm und den Sand der Auffahrt gewühlt, dass Richard zwei Monteure von der nächsten Autowerkstatt anfordern musste. Sie teilten dem Arzt gleichzeitig mit, dass eine Reparatur Unsummen kosten würde und für ein achtzehn Jahre altes Auto nicht mehr rentabel sei. Wo jetzt so schnell ein neues oder auch gebrauchtes Auto herbekommen? Da übergab ihm Brandon einige Schlüssel zu seinen eigenen Autos. Er besaß mehrere davon.
„Du kannst eines von meinen Autos haben. Suche dir eines aus. In der Garage stehen genug herum. Ich werde sowieso nicht mehr damit fahren können“, bot er ihm an.
Gordons Freund stach schon immer heraus als ein Mensch, der gern andere beschenkte oder ihnen kostenlos seine Hilfe anbot. So auch jetzt wieder.
Gordon fuhr am Sonntagmittag los, in Richtung Kloster Heilig Geist. Er brauchte jetzt nur mehr die halbe Zeit, da dieses Fahrzeug viel mehr PS und eine moderne Ausstattung besaß.
Bei seiner Tante unterschrieb er den Arbeitsvertrag und trat am Montagmorgen seinen Dienst an. Melissa hatte bereits alle intravenösen Spritzen und Infusionen bereitgelegt, denn jetzt übernahm Gordon diese Tätigkeit. Während der Visite kamen sie auf ihrem Rundgang in ein Zimmer, in dem drei kleine Mädchen lagen. Allesamt krebskrank. Die kleine Anne mochte kaum sechs Jahre alt sein. Ihr fehlten in der oberen Zahnreihe zwei Zähne und so lispelte sie etwas, wenn sie sprach. Als sie den großen Arzt mit der Spritze in der Hand sah, verließ sie aller Mut.
„Gibst du mir jetzt die Spritze? Bei Melissa hat es gar nicht wehgetan“, erklärte sie ihm gleich. In ihr sträubte sich alles. Am liebsten hätte sie verlangt, dass Melissa, wie immer, die Spritze verabreichte. Ihr kleines Gesichtchen wirkte ängstlich und abweisend.
„So, so, und du glaubst ich kann das nicht genauso gut?“, entgegnete der Kinderarzt.
Doch Gordon benutzte da seine eigene Ablenkungstherapie. Aus der Tasche seines weißen Arztmantels holte er ein kleines, kuscheliges Stoffeichhörnchen hervor. Er setzte sich auf den Bettrand und begann eine lustige Geschichte vom Eichhörnchen „Marlina“ zu erzählen, die er sich gerade ausgedacht hatte. Nebenbei spritzte er das Medikament, ohne dass die Kleine etwas bemerkte.
„So, wir sind schon fertig“, lächelte Gordon und erhob sich.
„Es hat überhaupt nicht wehgetan!“, rief das Kind. „Der neue Doktor kann das genauso toll wie Melissa“, informierte sie sofort ihre zwei Zimmergefährtinnen.
Die Ordensschwester widmete sich jetzt mehr dem Stationsdienst, um nur ja jede Minute mit Gordon auszukosten. Beinahe kam ihre Schreibarbeit als Stationsschwester zu kurz und deshalb musste sie so manches Mal länger in der Klinik bleiben, um alles aufzuarbeiten. Die Mutter Oberin behielt das Ganze eine Weile im Auge und sie war eine sehr scharfe Beobachterin. Jetzt erkannte sie auch, warum ihr Neffe so schnell zugesagt hatte. Der Grund konnte nur Melissa sein.
Sie, ein Mischlingskind, kam im Alter von fünf Jahren zu ihnen ins Waisenhaus. Ein Autounfall, die Eltern starben, Melissa trug nur einen Armbruch davon. Da sie keiner in der Verwandtschaft aufnehmen wollte, wegen ihrer dunklen Hautfarbe, blieb sie im Kloster. Die Familie schämte sich ihrer. Das trug sich damals im Herbst zu. Drei Monate später fand das Mädchen am Heiligen Abend dann die kleine Christin in der Weihnachtskrippe der Kapelle. Sie lag dort nur in ein dünnes Badetuch gehüllt. Melissa nahm sie auf wie eine kleine Schwester. Sie betreute sie auch, als sie anschließend sehr krank wurde und keiner mehr einen Pfifferling für ihr Überleben gab. Niemand wusste, wie lange das Neugeborene dort in der Krippe lag und draußen wütete in dieser Nacht ein heftiger Schneesturm. Seit dieser Zeit hingen die beiden zusammen wie Pech und Schwefel.
Christin wuchs im Kinderheim auf und wurde stark vom Kloster geprägt, während Melissa davor bereits ein anderes Leben kennengelernt hatte. Sie stand dem Weltlichen offener gegenüber als dem Kirchlichen, obwohl sie sich dann doch für ein Leben als Nonne entschied. Allerdings galt das für sie noch nicht als endgültig. Der Mutter Oberin gegenüber erwähnte sie allerdings nichts davon. Sie lernte ab ihrem achtzehnten Lebensjahr Kinderkrankenpflege. An dieses Kloster schlossen sich eine Kinderkrankenpflegeschule und eine Krankenpflegeschule an mit einigen Spezialausbildungen. Ebenfalls dazu gehörten eine Kinderklinik und ein Krankenhaus. Melissa wartete, bis Christin fünfzehn Jahre wurde, dann legten sie gemeinsam das Gelübde ab und wurden Ordensschwestern. Irgendwie meinte die Mutter Oberin plötzlich das Gefühl zu haben, Melissa zu verlieren. Und sogar bei Christin beschlich sie eine seltsame Ahnung. Sie würde vielleicht sogar beide verlieren. Es lag sozusagen in der Luft, denn beide zeichnete eine überdurchschnittliche Schönheit aus.
„Lassen wir den Dingen ihren Lauf, so wie du es willst, Herr“, redete sie vor sich hin und holte die Nachtwachen-Berichte hervor.
An diesem Vormittag wurde Melissa dringend zu der kleinen Anne gerufen, da sie ganz plötzlich Nasenbluten bekam. Doch dieses Nasenbluten schien kein gewöhnliches zu sein. Das Blut kam beinahe fingerdick heraus. Die Schwester griff sich das nächstbeste Handtuch, um die Flut aufzufangen.
„Ich muss mal Pipi machen“, flüsterte die Kleine.
Melissa schob ihr den Schieber darunter. Dabei bemerkte sie zu ihrem großen Schreck, dass auch hier nur noch das blanke Blut kam.
Schnell rief sie über ihr Handy Gordon zu Hilfe. „Schnell, Dr. Spencer, kommen Sie zu Anne. Sie verblutet sonst.“
Der Arzt eilte sofort zu dem Kind. Rasch richtete er eine Infusion her. Melissa stellte einen Sichtschirm vor Annes Bett, damit die anderen beiden Kinder im Zimmer nicht allzu viel davon mitbekamen. Als Gordon die Infusion legen wollte, glitt Annes Kopf jedoch zur Seite und sie hörte auf zu atmen. Die Schwester legte ihre Hand auf Gordons und schob sie sachte von dem Arm des Kindes weg.
„Es ist vorbei. Sie brauchen keine Infusion mehr zu legen“, flüsterte sie.
Dieses Kind starb so rasend schnell. Keiner konnte ihm mehr helfen. Gordon fühlte sich tief betroffen. Er übte seinen Beruf als Kinderarzt mit Leib und Seele aus, doch wenn ein Kind verstarb, meinte er immer, es sei eines seiner eigenen Kinder, die er jedoch nicht vorweisen konnte, das der Tod ihm stahl.
Die Ordensschwester kniete nieder und sprach noch leise ein kurzes Gebet an Annes Bett, dann drückte sie dem Kind sein grünes Krokodil in den Arm, deckte es gut zu, so dass es aussah, als ob es schliefe. Zusammen mit dem Arzt schob sie das Bett aus dem Zimmer.
„Anne muss jetzt viel schlafen“, wandte sie sich im Hinausgehen an die beiden anderen Kinder, denn die reckten neugierig die Hälse.
Kurz danach kehrte Melissa nochmal zu den beiden Kindern zurück. Sie wusste, sie bekamen mehr mit, als sie sollten.
„Anne ist gestorben, stimmt das?“, fragte eines der Kinder sie direkt mit erschrockenen großen Augen.
„Ja, leider war sie so schwer krank und schwach, dass sie nicht weiterleben konnte. Sie besaß keine Kraft mehr, gegen diese Krankheit anzukämpfen. Deshalb hat sie Gott zu sich geholt, damit sie nicht noch mehr Schmerzen erleiden muss“, erklärte sie ihnen.
Sie setzte sich auf einen Bettrand und die beiden Mädchen kuschelten sich rechts und links neben sie.
„Aber ihr beide seid stark. Ihr werdet die Krankheit niederkämpfen. Deshalb glaube ich auch fest daran, dass ihr wieder gesund werdet“, machte sie ihnen Mut.
Gordon stand in der Türe und lauschte den Worten Melissas. Das wäre die richtige Frau für mich und unsere Kinder. Sie weiß mit ihnen umzugehen. Sie belügt die Kinder nicht. Sie erklärt ihnen wie es wirklich ist. Das Leben ist nun mal kein Märchen, überlegte er.
Anschließend ging die Ordensschwester in die kleine Kapelle. Gordon folgte ihr wenig später und fand sie dort vor dem Altar knien und beten. Leise ließ er sich neben ihr nieder und betete ebenfalls. Er ließ eine Weile verstreichen, dann begann er: „Es ist schlimm, wenn so ein junges Leben gehen muss. Sie hat so gut wie noch gar nichts erlebt oder von der Welt gesehen. Da endete ihr Leben schon.“
„Wir wissen nicht, warum das so ist, aber Gott weiß es“, antwortete sie leise.
Gemeinsam verließen sie die Kapelle. Sie arbeiteten nun schon zweieinhalb Wochen zusammen und Gordon bekam drei freie Tage.
„Ich fahre heute Nachmittag nach „Twenty-Two-Oaks“ zu meinem Freund“, ließ er die Schwester so nebenbei wissen, während er seine Eintragungen in der Medikamentenliste machte.
„Dort, wo Christin arbeitet?“, erkundigte sich Melissa interessiert.
„Ja“, und er hoffte im Geheimen, dass sie mitfahren wollte.
„Ich habe auch ab heute Mittag frei. Darf ich mitkommen?“, bat sie, zu Gordons großer Freude.
„Aber natürlich nehme ich Sie gerne mit“, strahlten seine Augen sie an.
„Ich muss nur noch die Erlaubnis von der Mutter Oberin einholen“, rief sie und rannte lachend davon, wie ein übermütiges Kind, obwohl sie bereits achtundzwanzig Jahre zählte.
Die Oberin erlaubte ihr die kleine Reise, aber sie gab ihr einen Satz mit auf die Fahrt: „Passen Sie gut auf sich auf“, und bedachte sie mit einem lange ernsten Blick.
Vom Himmel strahlte wieder eine heiße Sonne, als sie losfuhren. Trotz der Klimaanlage im Auto machte Gordon eine Pause zwischen der einen Fahrstunde. Er parkte das Fahrzeug nahe einem der großen Fischteiche, die es in dieser Gegend reichlich gab. Sie suchten sich einen Baum mit einer ausladenden Blätterkrone, unter dem sie eine Decke ausbreiteten und ihr Lunchpaket auspackten. Anfangs saßen sie sich noch etwas scheu gegenüber, doch mit der Zeit rückte Gordon immer näher zu seiner Begleitung hin.
„Wir arbeiten tagtäglich zusammen, könnten wir das Sie nicht weglassen und zum Du übergehen?“, wagte er einen kleinen Vorstoß.
„Von mir aus schon“, stimmte Melissa zu. „Aber“, warnte sie ihn. „Lass es die Oberin nicht wissen und auf Station sollten wir das auch vermeiden, denn dort gibt es zu viele Ohren, die es der Mutter melden könnten.“
„Die Oberin ist meine Tante“, informierte er sie.
„Oh, das wusste ich nicht“, antwortete sie und es bildeten sich ein paar kleine, argwöhnische Falten auf ihrer Stirn.
„Keine Angst, ich will dich nicht verpfeifen, weil du so bereitwillig das Du anwenden willst“, lächelte er.
Er schenkte ihr noch etwas Wasser in den Becher. Inzwischen saß er ihr so nahe, dass er sie hätte berühren können.
„Also.“ Er hob seinen Wasserbecher. „Dann Prost, auf das Du“, lachte Gordon und küsste sie sanft auf die Wange. Hm, dachte er, eine Haut wie Seide. Das verlangt nach mehr.
Er stand auf und packte die leeren Schüsseln ins Auto, als er bemerkte, dass Melissa plötzlich wie wild um sich schlug. Da sah er eine dunkle Wolke vom Baum herunterkommen.
„Hornissen!“ Mit einem Schlag erkannte er die großen Insekten. Er rannte zu ihr, packte sie etwas unsanft am Arm und riss sie mit sich.
„Komm! Schnell! Ins Wasser!“, schrie er.
Zusammen sprangen sie in den Teich, wo sie untertauchten. Unter Wasser verlor er ihre Hand. Gordon zählte fünf Sekunden, dann tauchte er vorsichtig auf und entdeckte die Insektenwolke bereits am anderen Ufer. Nur Melissa blieb verschwunden.
„Mein Gott, sag bloß, sie kann nicht schwimmen“, murmelte er vor sich hin, um gleich darauf hinab zu tauchen. Im trüben Wasser des Fischteichs fand er sie bewegungslos am Grund liegen. Er nahm sie an den Armen und holte sie zur Oberfläche. Mit einigen Schwimmstößen brachte er sie ans Ufer. Leblos lag sie auf dem Gras. Er zählte drei Hornissenstiche im Gesicht, einen am Hals und zwei an der rechten Hand. Mit geübten Griffen pumpte er ihr das verschluckte Wasser heraus, doch es kam kaum etwas.
„Melissa, komm, wach auf!“, rief er voller Verzweiflung und klopfte ihre Wangen. Er fühlte ihren Puls, der nur so dahin raste. Die Stiche schwollen enorm an, besonders am Hals und über dem Auge. Plötzlich kam ihm die Erkenntnis: Insektengiftunverträglichkeit.
Er nahm sie auf seine Arme und brachte sie so schnell er konnte zum Auto. Er legte sie daneben ins Gras. Aus seinem Notfallkoffer holte er ein Gegenmittel und spritzte es ihr.
Sogar der Hals begann innen anzuschwellen, so dass sie nur schwer Luft bekam. Nach zwanzig Minuten öffnete sie endlich ihre Augen.
„Oh, Melissa, hast du mir einen Schreck eingejagt. Ich dachte, es wäre alles zu spät. Hast du die Insektengiftallergie schon länger?“, informierte er sich.
„Ja, eigentlich schon solange ich mich zurückerinnern kann. Ich glaube mit fünf Jahren begann es“, antwortete sie leicht undeutlich. Ihr fiel es schwer zu denken, da sie sich wie nach einer Narkose fühlte.
„Und dann wirst du auch gleich noch von sechs Hornissen gestochen. Mich haben nur zwei erwischt, wahrscheinlich schmecke ich ihnen nicht“, lachte der Arzt erleichtert. „Du wirst jetzt sehr müde werden auf das Medikament, dass ich dir gespritzt habe, Melissa, aber das macht nichts. Überlass’ ruhig alles mir.“
Sie bekam nur noch die Hälfte mit, denn sie schlief sofort ein.
So, was als nächstes? überlegte er. Ja, natürlich, sie mussten schleunigst aus den nassen Sachen heraus, denn an ihrer beider Kleidung hatten sich über und über grüne Algen aus dem Fischteich geheftet. So konnten sie beide nicht ins Auto steigen. Brandons nobles Fahrzeug würde für immer verdorben sein und vor allem nach Fisch stinken.
Etwas umständlich entkleidete er sie. Er kannte sich schließlich nicht aus mit der Nonnentracht. Anschließend wühlte er in ihrem kleinen Koffer, in dem nur der Ersatz-Habit, etwas Unterwäsche und ein Nachthemd zu finden waren. Er entschied sich für das Nachthemd. Die Tracht erschien ihm zu kompliziert. Bei der ganzen Prozedur bemühte er sich, nicht so genau ihren Körper zu betrachten, doch er konnte sich einfach nicht beherrschen. Es war ihm unmöglich seine Augen von diesem schlanken und doch wohlgerundeten Körper abzuwenden. Als er ihr den Schleier abnahm, quollen eine Menge krauser Locken heraus, die bis zu den Schulterblättern reichten. Nanu, überlegte er, ich dachte immer den Nonnen werden die Haare ganz kurz geschnitten. Eilig hüllte er sie in das Nachthemd, um nicht länger der Versuchung zu erliegen sie dauernd anzusehen. Im Kofferraum des Wagens fand er zwei Decken. Diese breitete er auf die beiden Vordersitze. Dann packte er sie auf den Beifahrersitz, schnallte sie fest und kippte den Sitz nach hinten, damit sie halbwegs zum Liegen kam. Nun bemühte er sich aus seinen eigenen, nassen Sachen zu kommen. Leider hatte er keine andere kurze Reservehose dabei, nur eine lange und in der würde er nur schwitzen. Gordon wählte eine Unterhose und ein Unterhemd. Das musste einstweilen genügen. Über sein Handy rief er Christin an und teilte ihr die Situation mit.
Dann setzte er sich ans Steuer und fuhr so schnell er konnte nach „Twenty-Two-Oaks.“
Dort wurde er bereits erwartet. Vorsichtig trug er Melissa hinein. Doreen zeigte ihm ein Gästezimmer. Er brachte sie hinein und bettete sie auf die rechte Seite eines Doppelbettes. Christin legte ihr sofort eine Infusion, die sie mit verschiedenen pflanzlichen Wirkstoffen versah. Melissa zitterte am ganzen Körper. Außerdem fühlte sie sich sehr heiß an. Das Fieber stieg bis zur Nacht auf 40°C. Während Gordon ihr nochmals ein Histamin spritzte, legte Christin kleine Blättchen eines speziellen Strauches, gemischt mit kaltem Quark auf die dick geschwollenen Stiche, damit die Entzündung aus dem Körper gezogen wurde. Auch Gordon bekam von ihr zwei Stück auf seine Stiche aufgelegt.
„Ihr zwei seht aus, als wenn ihr aus dem Bett kommt?“, scherzte sie.
„Ja, kann man so sagen, aber mir fehlte die Zeit mich mit komplizierten Nonnentrachten aufzuhalten. Ich musste mich beeilen. Es ist schon sehr seltsam. Jedes Mal, wenn ich eine Nonne im Auto transportiere, geschieht etwas Unvorhergesehenes“, überlegte Gordon.
„Es ist ja alles gut ausgegangen“, beruhigte die Pflegerin ihn.
Sie deckte ihre Freundin mit einer leichten Bettdecke zu.
„Gehen Sie nach unten und essen Sie zu Abend. Doreen hat schon etwas für Sie hergerichtet. Ich bleibe solange bei ihr“, bot sie an.