- -
- 100%
- +
„Ich weiß nicht, ob ich jetzt essen kann. Der Schock sitzt noch ziemlich fest in mir“, gestand er ihr.
„Aber es geht ihr doch schon viel besser“, entgegnete Christin. Warum nur macht er sich solche Sorgen um sie? überlegte sie. Ihr Blick schweifte zu seinen Augen und da erkannte sie den Grund. Ach du meine Güte, auch das noch. Wenn sie nicht stark genug ist, werde ich meine beste Freundin verlieren, denn dann wird sie wohl eine freie Schwester werden, dachte sie traurig.
Ein anderer Gedanke schob sich davor, denn was tat sie eigentlich mit Brandon? Nämlich ganz genau das Gleiche. Sie fühlte sich auch sehr zu ihm hingezogen, mehr als ihr erlaubt war. Aber ich muss standhaft bleiben, sagte sie sich. Wenn das jede Ordensschwester so machen würde, wäre wohl bald keine Klosterschwester mehr übrig.
Da riss sie Gordon aus ihren Gedanken. „Wie geht es Brandon?“
„Noch nicht so gut. Er bekam eine neue Chemotherapie am Anfang der Woche, die ihm arg zusetzte. Die ganze Zeit konnte er vor Übelkeit nichts essen. Ich habe ihm so viel ich konnte an Infusionen gegeben. Er ist sehr schwach“, berichtete sie ihm.
Sie begleitete ihn in das Zimmer seines Freundes. Dann ließ sie die beiden Männer allein und kehrte nochmals zu Melissa zurück.
„Hallo Brandon? Du bist ja wach?“, freute sich Gordon.
„Diese entsetzliche Chemotherapie zieht mir ständig die Augen zu“, jammerte der Freund. Dann begann er zu schnuppern. „Ich weiß nicht, aber hier riecht es plötzlich so streng nach Fisch. Bist du das, Gordon? Und warum hast du nur die Unterwäsche an?“, forschte er.
Der lachte nur. „Das kann gut sein. Ich war in einem Fischteich baden und zwar mit einer Nonne zusammen.“
„Wie hast du denn das fertiggebracht? Ist sie freiwillig mitgegangen? Und warum habt ihr ausgerechnet einen Fischteich ausgewählt?“, überhäufte ihn Brandon mit Fragen.
„Weil uns ein Hornissenschwarm dazu zwang, blieb uns keine andere Wahl“, erklärte Gordon.
„Dann ist ja alles klar“, antwortete er trocken.
„Nur, sie konnte nicht schwimmen und wäre mir beinahe ertrunken und dann kam das Schlimmste noch. Sie reagierte auf die Stiche allergisch“, erläuterte der Freund die Situation.
„Also kein romantisches Bad? Wie schade. Aber weißt du, was du tun könntest?“, lockte ihn Brandon.
„Was denn?“ Gordon glaubte an einen Tipp, wie er schneller mit Melissa zusammenkam. Neugierig neigte er seinen Kopf ihm zu.
„Du könntest dich mal duschen. Du stinkst wie ein ganzer Fischkutter“, kam die Antwort.
„Ja, da hast du allerdings auch Recht“, lachte er. „Vielleicht wäre es ja möglich mit diesem Gestank deine Krebszellen abzutöten. Dann würde ich mit Vergnügen täglich in die Brühe springen.“
Brandon rang sich ein Lächeln ab. „Das wäre perfekt. Ich würde den Fischgestank vorziehen und auf die Chemotherapie verzichten, denn kotzen muss ich auf beide. Nur der Fischgestank ruiniert meine inneren Organe nicht. Gordon!“, es klang sehr dringlich. „Den Eimer bitte!“, bat er seinen Freund. Schnell hielt er ihm den Eimer vor sein Gesicht.
„Bin ich das jetzt mit dem Fisch oder immer noch deine Chemotherapie?“, vergewisserte er sich.
„Ich fürchte beides“, antwortete Brandon ihm.
Als es ihm etwas besser ging und der Patient erschöpft in seinen Kissen lag, entsorgte Gordon den Inhalt des Eimers und begab sich anschließend ins Bad um zu duschen.
Nach der Dusche kam der Freund zu ihm zurück. Brandon lag erschöpft in den Kissen. Gordon erhob sich und wollte sich leise aus dem Zimmer schleichen. Doch da rief ihn Brandon plötzlich zurück.
„Gordon, warte noch einen Moment. Ich muss dir noch etwas sagen: Sollte ich in den nächsten Tagen sterben, dann musst du die Rose-Bud-Bank und ihre sechs Filialen übernehmen. Ich möchte nicht, dass sie zersplittert werden. Ich habe dich als alleinigen Haupterben in meinem Testament einge…“
Weiter kam er nicht. Da fiel ihm der Freund ins Wort. „Bist du verrückt geworden? Ich habe noch niemals etwas mit einer Bank zu tun gehabt, außer, wenn ich jeden Monat mein Gehalt abgehoben habe. Wie kommst du darauf, dass ich sie übernehmen soll? Ich habe keinen blassen Schimmer von Bankgeschäften. Wie soll ich das machen?“
„Du bekommst die Hilfe von zwei Managern“, entgegnete Brandon ganz gelassen. „Und was du sonst noch tun musst, steht alles im Testament. Ich musste mich damals auch da hinein arbeiten. Ich war ja auch nicht als Erbe vorgesehen. Und so, wie ich dich kenne, schaffst du das genauso. So, und jetzt lass mich etwas schlafen. Ich bin ziemlich erschöpft“, verabschiedete er ihn.
Melissa öffnete die Augen, als Christin zurückkam.
„Wie geht es dir?“, erkundigte sich die Freundin.
„Es ist schon wieder besser“, antwortete Melissa.
„Puh, du stinkst abartig, wie ein altes Fischweib“, stellte Christin fest.
„Ich habe ja auch in einem Fischteich gebadet“, klärte sie sie auf.
„Und darauf bist du stolz? Komm, ich lasse dir ein Bad ein. Dort kannst du auch deine Haare waschen.“ Schon verschwand sie im Nebenzimmer.
Während Melissa in der Wanne saß, bezog Christin das Bett frisch und legte ihr ein Nachthemd von sich auf das Kopfkissen. Anschließend riss sie die Fenster auf, um den ekelhaften Geruch nach altem Fisch aus dem Zimmer zu vertreiben. „Ich komme mir vor wie auf dem Fischmarkt“, murmelte sie vor sich hin.
Nachdem Melissa wieder im Bett lag, wollte Christin wissen, wie sich das Ganze zugetragen hatte, vor allem konnte sie sich keinen Reim auf die seltsame Bekleidung machen.
„Wir mussten vor einem Hornissenschwarm flüchten und sprangen in unserer Not mitsamt unserer Kleidung in einen Fischteich und auf dem schwammen obenauf eine Menge Algen. Außerdem weißt du ja, dass ich nicht schwimmen kann. Wenn mich Gordon nicht herausgeholt hätte, wäre ich entweder ertrunken oder von den Insekten zu Tode gestochen worden“, erklärte ihr die Freundin. Dabei rutschte ihr der Vorname ihres Oberarztes unbewusst heraus.
Aha, sie nennen sich bereits beim Vornamen, registrierte Christin. Wenn das mal gut geht!
„Ach ja, mein Habit befindet sich noch im Auto. Wenn du ihn vielleicht waschen könntest?“, bat Melissa sie. „Aber Vorsicht, er stinkt genauso.“
„Aber ja, das mache ich doch gern für dich. Hauptsache du wirst wieder gesund“, versicherte ihr die Freundin. Sie reichte ihr ein Glas kaltes Wasser.
„Eines würde mich schon interessieren“, begann Christin vorsichtig. „Wer hat dich in das Nachthemd gekleidet?“
„Der Oberarzt hat mir ein Gegenmittel gespritzt, worauf ich sehr müde wurde.“ Sie kehrte wieder zu der konventionellen Anrede zurück. „Ich kann dir nur sagen, ich weiß von gar nichts mehr. Ich hatte einen regelrechten Filmriss. Aber da wir nur zu zweit unterwegs waren, kann es nur er gewesen sein. Aber ich denke, dass ich ihm vertrauen kann. Schließlich lag hier ein Notfall vor. Er arbeitet seit zwei Wochen bei mir in der Kinderklinik als Oberarzt. Alle Kinder lieben ihn und das nach so kurzer Zeit.“ Energisch rubbelte sie mit dem Handtuch ihre Haare trocken.
„Was meinte der Oberarzt vorhin, als er sagte: „Immer wenn ich eine Nonne im Auto habe, geschieht etwas?“, wollte Melissa wissen. „Ich habe das so im Halbschlaf mitbekommen.“
„Als er mich hierher fuhr, landeten wir während eines schweren Gewitters in einem Schlammloch und zwar so, dass sein Auto nur noch Schrottwert hatte“, erklärte Christin lachend.
Gordon ging doch noch in die Küche hinunter zu dem Hausmeisterehepaar.
„Was möchtest du essen?“, ermunterte ihn Doreen.
„Ein Apfel genügt mir“, antwortete er und nahm sich einen vom Obstteller.
„Du bringst uns lauter hübsche Mädchen ins Haus“, sprach ihn Richard an. „Nur dumm, dass alle Ordensschwestern sind.“
„Ich glaube kaum, dass sich das als ein großes Problem herausstellt, wenn sie mal angebissen haben“, erwiderte Gordon und versenkte seine Zähne herzhaft im Apfel.
„Deine Tante wird nicht so sonderlich begeistert sein, wenn du ihr die besten Schwestern wegnimmst. Am Ende entlässt sie dich wieder“, gab der Hausmeister zu bedenken.
„Ich will nicht alle, Richard. Eine genügt mir voll und ganz. Vor allem, wenn es die richtige ist“, antwortete er.
„Und welche von den beiden ist es? Die weiße oder die hellbraune?“, erkundigte sich der Hausmeister neugierig.
„Die Hellbraune“, ließ Gordon ihn uneingeschränkt wissen.
„Hab ich es mir doch gedacht. Wer nichts essen kann, der ist verliebt“, bestätigte Richard und lachte in sich hinein. „Na, dann halt dich mal ran, Junge. Du bist schließlich schon dreiunddreißig Jahre alt und eine Nonne aus ihrem Kloster loszueisen wird bestimmt nicht so einfach sein“, lachend klopfte er Gordon auf die Schulter. „Nicht, dass du dann schon graue Haare hast, bis es dir gelungen ist, sie davon zu überzeugen, dass ein Liebesleben besser ist als das Klosterleben.“
Das Hausmeisterehepaar und Brandons Freund kannten sich bereits seit vielen Jahren. Schon als Kinder spielten sie bei ihnen in der Küche. Gordon war ein gerngesehener Gast. Er gab sich zu jeder Zeit rücksichtsvoll und wohlerzogen, wurde nie ausfällig oder hinterhältig. Außerdem war er sehr hilfsbereit.
Er wünschte allen eine Gute Nacht und begab sich nach oben in sein Bett. Doreen dachte ihm das Nebenzimmer von Melissa zu, das ebenfalls mit einer Verbindungstür ausgestattet war. Er fühlte sich nach der Aufregung heute am Tag todmüde und schlief auch sofort ein.
Doch nach einer halben Stunde wurde er von Melissas unruhigem Schlaf geweckt. Ihre Schreie drangen zu ihm, da die Türe offen stand. Leise schlich er sich in den angrenzenden Raum und machte das Nachtlicht an.. Sie musste wohl einen Alptraum haben, weil sie so wild um sich schlug. Er beugte sich über sie und bekam prompt eine Ohrfeige ab. „Au!“, rief er und schüttelte seinen Kopf, während er ihre Hände einfing. Leise redete er sie an. „Melissa, Melissa, wach auf. Du hast einen Alptraum. Sei still, du weckst ja das ganze Haus auf.“
Sie schlug die Augen auf und ließ ihre Hände fallen. Mit einem Mal flossen die Tränen.
„Dieser Traum kommt immer wieder. Ich habe ihn heute wohl schon zum vierten Mal geträumt. Die Hornissen greifen mich pausenlos an. Ich höre sogar ihr Brummen“, erklärte sie ihm völlig aufgelöst. „Sag, habe ich dich vorhin etwa geschlagen?“, wollte sie wissen und blickte ihn mit großen erschrockenen Augen an.
„Das war nicht schlimm. Wie du siehst, sitzt mein Kopf noch auf den Schultern“, scherzte er. „Soll ich bei dir bleiben?“, begann er vorsichtig.
„Ja, bitte, bleib bei mir“, schluchzte sie. „Und wenn ich dich wieder schlage?“, warnte sie ihn.
„Dann werfe ich dich aus dem Bett!“, drohte er ihr.
Rasch schlüpfte er unter die Decke des linken freien Bettes. Er nahm ihre Hände in die seinen und wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Mit der Zeit verebbten die Tränen und sie hörte auf zu schluchzen. Sie fühlte die Wärme seiner Hände und seines Körpers. Vorsichtig zog er sie in seine Arme. Sie hörte sein Herz im gleichmäßigen Takt schlagen und legte ihren Kopf vertrauensvoll an seine Schulter. Mit einem Handgriff machte er das Nachtlicht aus. So schliefen sie beide ein. In dieser Nacht kehrte kein Alptraum mehr zurück. Sie fühlte sich bei ihrem Lebensretter vollkommen sicher und geborgen.
Am nächsten Morgen, als sich alle am Frühstückstisch versammelt hatten, schlug Gordon vor: „Ich bleibe heute bis Mittag bei Brandon, damit Christin auch ein paar Stunden für Melissa Zeit hat.“ Er wandte sich an die Ordensschwester. „Geht es dir auch wirklich wieder gut, Melissa?“ In diesem Moment achtete er gar nicht auf die Anrede „Schwester.“
„Mir geht es sehr gut“, antwortete sie lachend und ihre Augen glänzten, als sie ihn ansah.
Christin versorgte zuerst ihren Patienten und brachte ihm sein Frühstück. Während sie ihm beim Essen half, blinzelte er sie von der Seite her an. „Wo kommen denn plötzlich all die Klosterschwestern her? Ist hier irgendwo ein Nest?“, erkundigte er sich.
„Ja, im Heilig Geist Kloster. Dort finden Sie mindestens noch weitere zweihundert ihrer Art“, antwortete die Pflegerin.
„Zweihundert? Was tun die alle dort?“, wunderte er sich.
„Sie arbeiten und beten“, klärte ihn Christin auf. „Sie betätigen sich im Krankenhaus, in der Kinderklinik, in der Apotheke, im Waisenhaus, in der Küche, in der Wäscherei und sie pflegen die alten Menschen.“
„Ich habe mir noch nie um dieses Kloster Gedanken gemacht. Sind dort alle Schwestern so jung und hübsch wie Sie?“, musste er unbedingt erfahren.
Christin musste schlucken. Ein Kompliment von ihm? wunderte sie sich. „Nein, wir sind ein gemischter Haufen von Ordensschwestern von achtzehn bis siebzig Jahren, wobei letztere nicht mehr zum Dienst eingeteilt werden“, teilte sie ihm mit.
„Die bringen Sie aber bitte nicht alle hierher“, forderte er.
„Nein, natürlich nicht. Ich werde nur Melissa ab und zu treffen. Sie ist meine beste Freundin, seit ich geboren wurde“, ließ sie ihn wissen.
Erschöpft schloss er die Augen. Damit beendete er sein Frühstück.
Ich weiß jetzt, dass nicht alle so jung und so wunderschön sind in diesem Kloster. Aber ich habe die hübscheste und intelligenteste Pflegerin des Vereins bekommen, überlegte er lächelnd.
Kurz danach lenkte Christin ihre Schritte mit der Freundin in den Park der Stonewalls. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel und der Wind spielte leicht in den Zweigen der Weiden und Trauerbirken. Tulpen und Narzissen blühten überall und verteilten verschwenderisch ihren Duft.
„Wie geht es voran bei dir?“, erkundigte sich Melissa.
„Noch nicht so recht. Die letzte Chemotherapie hat ihn wieder weit zurückgeworfen. Wir stehen praktisch wieder am Anfang. Er ist sehr negativ gestimmt und möchte am liebsten sterben. Es ist schwer ihn umzustimmen. Ununterbrochen im Bett zu liegen ist ja auch nicht gerade aufbauend“, berichtete Christin.
„Meinst du, er schafft es?“, wollte die Freundin wissen.
„Ich hoffe es zumindest. Meine letzten beiden Patienten sind gestorben. Ich möchte auch wieder einmal ein Erfolgserlebnis verbuchen. Ich tue was ich kann, damit er überlebt“, erklärte sie. „Er hat allerdings eine äußerst aggressive Leukämie, der man mit den herkömmlichen Medikamenten schlecht beikommt.“
„Aber wenn Gott nicht will?“, gab Melissa zu bedenken.
„Ja, dann kann ich ihm nicht helfen“, antwortete Christin traurig. „Dann hat der Herr wohl anders entschieden.“
Langsam überquerten sie eine kleine steinerne Brücke.
„Ich bewundere dich. Wie hältst du es nur bei ihm aus? Ich habe gehört, dass er mehrere Pflegekräfte regelrecht vergrault hat“, erkundigte sich die Freundin.
„Ich kann nicht klagen. Bei mir hat er sich nur am Anfang etwas daneben benommen. Er nannte mich Pinguin und Nebelkrähe.“ Sie musste lächeln in der Erinnerung. „Aber diese anderen Pflegerinnen haben ihn nicht im Mindesten gepflegt. Sie nahmen ihm die Glocke weg, damit er nachts ihre Ruhe nicht störte. Dann ließen sie ihn nur auf dem Rücken liegen, so dass sich bei ihm ein sehr tiefer Dekubitus entwickelte. Kein Spezialbett wurde beantragt. Sie lagerten seine Füße nicht und ließen ihn in seinen Exkrementen stundenlang liegen. Auch das Essen schnitten sie ihm nicht. Niemand half ihm bei den Mahlzeiten. Sie ließen ihn im Dunkeln liegen und warteten praktisch nur auf seinen Tod“, erklärte Christin aufgebracht.
„Das ist ja furchtbar“, entrüstete sich Melissa.
„Jedenfalls wirft er bei mir keine Teller mit Essen an die Wand oder spuckt mir ins Gesicht“, bestätigte die Pflegerin.
„Das glaube ich dir. Du gehst mit deinen Patienten ja auch ganz anders um. Du bist Tag und Nacht immer für sie da. Habe ich Recht?“ Melissa bedachte sie mit einem Seitenblick.
„Ja, und so soll es auch sein“, bestätigte Christin.
„Und du selbst? Fühlst du dich hier wohl?“, wollte die Freundin wissen.
„Ja, das tue ich. Das Hausmeisterehepaar hilft mir, wo es nur geht. Es sind zwei nette und liebenswerte Menschen, die auch sehr an Mr. Stonewall hängen. Sie haben ihn nach dem Tod seiner Familie mit dreizehn Jahren aufgenommen wie ein eigenes Kind. Deshalb ist es auch für sie eine schlimme Sache ihn so dahinvegetieren zu sehen“, erzählte sie ihr.
Sie sah auf ihre Armbanduhr. „Oh, es ist schon spät. Ich muss zurück“, erklärte sie.
„Aber es ist doch erst elf Uhr. Du hast noch eine Stunde Zeit. Gordon ist doch bei ihm. Er hilft ihm, wenn er etwas braucht. Er hat ihn zuvor doch auch schon manchmal versorgt“, widersprach Melissa.
Sie folgten einem kleinen Rinnsal, das sich durch große und kleine Steine schlängelte, bis es als Miniaturwasserfall über einen großen Findelstein hinabstürzte und als kleines Bächlein weiter plätscherte. Überall im Park wuchsen Blumen in voller Blüte, die einen betörenden Duft verbreiteten. Wer diesen Park anlegte, musste viel Fantasie gehabt haben.
„Du magst ihn sehr gern, deinen Oberarzt, oder?“, erkundigte sich Christin vorsichtig und schlug den Rückweg ein.
Die Freundin atmete tief auf. „Ja, ich weiß auch nicht, wie es geschehen konnte. Die Mutter Oberin teilte ihn mir als Oberarzt zu. Als ich ihm zum ersten Mal begegnete, fühlte ich mich sofort zu ihm hingezogen. So, als würde ich ihn schon mein halbes Leben kennen. Er wirkte so vertraut. Mein Herz kam ganz aus dem Takt. Er ist so sanft, so liebevoll. Ich habe so etwas noch nie zuvor erlebt. Dieses Gefühl ist einfach wunderbar. Man möchte mehr davon. Es ist wie eine Droge. Ich kann mich nicht dagegen wehren und ehrlich gesagt, will ich es auch gar nicht“, schwärmte sie und lachte befreit, dass sie wenigstens einem Menschen ihre Gefühle anvertrauen konnte, ohne befürchten zu müssen, bei der Mutter verraten zu werden. „Ich weiß, dass ich gegen alle Regeln verstoße und ich eines Tages vor der Entscheidung stehen werde: er oder der Orden“, sprudelte es aus ihr heraus.
Sie blieb stehen und Christin sah sie mit großen Augen an, die völliges Nichtverstehen vermittelten. Ich muss äußerst vorsichtig sein, sonst ende ich genauso wie Melissa, ging es durch ihren Kopf.
„So, wie es im Moment aussieht, werde ich wohl aus dem Orden austreten. Ich möchte Gordon keinesfalls verlieren. Außerdem glaube ich, wenn Gott es nicht gewollt hätte, dann wären wir uns wohl nie begegnet“, erläuterte sie.
„Es kann aber auch eine Prüfung sein. Gott will deinen Glauben testen, wie fest du zu ihm stehst“, gab die Freundin zu bedenken.
Melissa schüttelte jedoch nur energisch den Kopf. „Nein, das kann ich nicht glauben. Dieses Gefühl ist einfach zu intensiv.“
Langsam folgten sie dem Weg zurück zum Haus.
„Dieser Park ist voll von Blumen und es duftet herrlich. Jede Blume entwickelt ihr eigenes Parfüm und doch passen sie am Ende alle zusammen. Hier eine halbe Stunde jeden Tag spazieren gehen wirkt gewiss wie eine Kur“, stellte Melissa fest. „Jetzt weiß ich, warum es dir hier so gut gefällt.“
Derweil saß Gordon bei Brandon am Bett in einem großen Schaukelstuhl und vertrieb ihm die Langeweile.
„Ich muss sagen, du siehst wirklich zum Gotterbarmen aus“, sprach ihn der Freund an.
„Das weiß ich selbst. Das brauchst du mir nicht auch noch zu sagen“, brummte Brandon. „Die Schwester hält mir schon gar keinen Spiegel mehr vor.“
„Da bringe ich dir die beste Pflegekraft meiner Tante und …“
„Schwester Christin kann nichts dafür, dass es mir so miserabel geht“, fiel er ihm ins Wort. „Es ist die Chemotherapie, die mir so zusetzt. Ich habe die ganze Woche über nur gekotzt. Die Schwester, die du mir gebracht hast, ist vollkommen anders. Ihre Pflege ist erste Klasse. Sie schimpft auch nicht, wenn mir mal ein Malheur passiert. Stell dir vor, sie füttert mich sogar, wenn ich nicht kann. Und zur Chemotherapie in die Klinik hat sie mich auch begleitet.“
„Du trinkst gar keinen Alkohol mehr? Ich sehe keine leeren Flaschen stehen“, wunderte sich Gordon.
„Mir wurde letzthin furchtbar übel darauf, verbunden mit wahrhaft tierischen Bauchschmerzen. Wahrscheinlich haben sich die Medikamente mit dem Whiskey auf Dauer nicht vertragen“, erklärte er ihm. „Du wirst staunen, Morphium bekomme ich auch kaum mehr. Sie hat eine viel bessere Medizin, eine die nicht abhängig macht und trotzdem den Schmerz nimmt. Mein Kopf ist wieder ganz frei. Ich kann wieder denken.“
Der Freund lachte. „Brandon, du schwärmst ja geradezu von ihr.“
„Das musst ausgerechnet du sagen? So viel ich mitbekommen habe, hast du deiner Stationsschwester innerhalb von nur zweieinhalb Wochen Stationsdienst den Kopf völlig verdreht“, warf er ein. „Ich weiß, dass du wieder arbeitest und zwar im Kloster Heilig Geist. Deine Tante hat dir den Job als Oberarzt verschafft, doch ich glaube, ihr unterlief hier ein Kardinalfehler, denn sie packte dich in die Kinderklinik zu Schwester Melissa.“
„So? Ist das schon bis zu dir in dein Zimmer vorgedrungen?“, wunderte sich Gordon.
„Der Wind, der Wind ist schneller als die Gedanken“, scherzte Brandon.
„Ja, du hast Recht. Ich habe mich sofort in sie verliebt und ich glaube, ihr erging es ebenso. Es ist einfach so geschehen. Plötzlich wusste ich mit Sicherheit, dass sie die Frau meines Lebens ist“, bestätigte der Freund ernst.
„Deine Tante vermutete wohl nicht, dass du gleich bei der ersten Nonne schwach werden würdest?“, machte sich Brandon lustig. „Ich freue mich für dich, dass du wieder Arbeit hast. Dann kommst du wenigstens auf andere Gedanken und musst dich nicht mehr um mich sorgen. Ich danke dir, dass du mir diese Nonne gebracht hast, wenn ich auch am Anfang darüber geschimpft habe.“
„Danke nicht mir, sondern meiner Tante. Sie hat sie für dich ausgewählt“, berichtigte er ihn.
„Schon wieder die Tante? Spielt sie die Vorsehung? Dann braucht sie sich aber nicht wundern, wenn hinterher ein paar Schwestern fehlen“, lachte er seinen Freund matt an.
Das Gespräch ermüdete ihn, aber er wollte ihn nicht schon wieder fortschicken. Er seufzte tief. „Schau, wie schön die Sonne scheint. Es ist warm draußen und es riecht nach Frühling. Wie viele Blumen müssen wohl jetzt in meinem Garten blühen? Ich kann sie nicht einmal sehen oder ihren herrlichen Duft wahrnehmen. Immerzu hier im Bett zu liegen, zu jedem Umdrehen jemanden brauchen, der den Knopf an meiner Liegestätte betätigt, ist furchtbar. Außerdem ist es entsetzlich langweilig. Nicht mal ein Buch kann ich lesen, ohne dass mir die Arme einschlafen, weil ich es so hoch halten muss. Schwester Christin liest mir zwar abends manchmal vor, aber sie hat auch nicht immer Zeit. So liege ich hier und meine Gedanken kreisen ununterbrochen in meinem Kopf“, klagte Brandon sein Leid, doch es klang anders als vor einigen Wochen. Das fiel Gordon sofort auf. Er bekam wieder Interesse an seinem Garten.
„Hey, Brandon, das hört sich ja ganz anders an als vor drei Wochen. Wenn ich mich recht entsinne, wolltest du zu dieser Zeit nur noch sterben. Du willst wieder lesen?“, staunte der Freund.
„Ja, und Musik hören würde ich vor allem sehr gern wieder“, unterbrach er ihn. „Und da ist noch etwas: Ich erzählte dir einmal, dass ich mich wie ein Baum ohne Blätter im kalten Nebel fühle. Jetzt ist eine rote Rose dazugekommen, die mir neue Kraft und Hoffnung gibt. Sie blüht dort trotz Kälte und Nebel vor den kahlen Bäumen. Ich glaube, dass es Christin ist und ich nenne sie die Rose aus dem Nebel.“
Gerade in diesem Augenblick, als die beiden Freunde sich so angeregt unterhielten, kam Christin von ihrem Spaziergang zurück. Die Türe zum Zimmer ihres Patienten stand offen und so bekam sie das Gespräch ungewollt mit. Somit hörte sie auch das mit den Blumen. Ja, das ist es. Ihm eine kleine Freude bereiten, um ihn aus seiner trüben Phase herauszuholen, ging es ihr durch den Kopf. Rasch lief sie die Treppe hinunter, zur Haustüre hinaus, um das Haus herum, in den blühenden Garten. Hier wuchsen tatsächlich eine Unmenge bunter Blumen. Sie zögerte. Welche sollte sie nehmen? Die Bienen umschwirrten sie fleißig und ein schwerer, beinahe betäubender Duft lag in der Luft. Allerdings stellte sie fest: Der Garten sah reichlich verwildert aus, da Brandon den Gärtner entließ. Der Hausmeister schaffte es nicht allein, dem Unkraut Herr zu werden, denn er musste auch noch andere Arbeiten im Haus verrichten. Sie bahnte sich vorsichtig einen Weg zu einer japanischen Teerose. Sie bückte sich und brach die Blume ganz unten am Stiel ab. Ein herrlicher Duft stieg ihr in die Nase. Die Blütenblätter leuchteten in einem kräftigen Pink. Sie richtete sich auf und gewahrte einen wunderschönen, großen Wintergarten, in dem ebenfalls viele Pflanzen wuchsen. Sie wusste nicht, dass ein solcher überhaupt existierte, denn vom Hausinneren führte kein Weg zu ihm. Das dachte sie jedenfalls. Ebenfalls erst jetzt erkannte sie, dass das Haus einen moderneren Anbau bekam und das altertümliche Haupthaus um einiges vergrößerte. Wie mag man wohl dorthin kommen? überlegte sie. Es müssen praktisch zwei Häuser sein, die miteinander verbunden wurden. Dann entdeckte sie einen runden Pavillon, der früher wohl einmal weiß gewesen war. Jetzt sah er grau und etwas baufällig aus. Wenn man dorthin gelangen wollte, musste man an vielen Rosenbeeten vorbei. Es gab hier Rosen in Hülle und Fülle und in allen Farben, viele bereits erblüht, manche noch als Knospe, und jede verströmte einen anderen intensiven Duft. Jetzt wusste sie, dass Brandon ein Rosen-Fan war, denn diese Blumen blühten nicht nur im Garten, sondern im gesamten Park. Sie gewahrte ein kleines Rinnsal, welches verschlungen durch den ganzen Park plätscherte und alle zwanzig Meter führten noch mehr kleine steinerne Brücken darüber. Am Wegesrand, der nun wild überwuchert wurde, fand sie versteckt zwischen den Blumen Solar-Lampen. Hier in lauschigen Sommernächten spazieren zu gehen müsste ein Traum sein, dachte sie. Sie wollte schon ins Haus zurückkehren, da entdeckte sie eine riesige, Trauerweide und sie schien ihr sogar zuzurufen: „Komm’ doch mal her.“ Langsamen Schrittes ging Christin auf den Baum zu und verschwand unter den langen, dichten Blätterzweigen, die bis auf den Boden reichten. Ihre Füße standen auf knorrigen Wurzeln. Ein dicker Stamm lud sie zu einer Umarmung ein. Die Rinde besaß sogar ein Gesicht, wenn man genau hinsah. Zwei Augen mit halb geschlossenen Lidern, eine breite Nase und ein gütig lächelnder Mund. Seine Zweige schlossen sich rechts und links hinter ihr, wenn sie sich ganz nah am Stamm befand und sie schienen Christin das Gefühl von Schutz zu vermitteln. Der Wind raschelte in den Blättern. Sie blickte hinauf in die Krone der Weide. Die Sonne blitzte dazwischen hindurch. Etwas geblendet schloss sie die Augen. Da meinte sie ein leises Wispern in den Zweigen zu hören, das von uralten Zeiten erzählte. Von heiterem Kinderlachen, strengen Befehlen und unzähligen Tränen eines kleinen Jungen. An einer kleinen Stelle der Rinde trat Harz aus, das wie eine Träne geformt aussah. Hatte hier der kleine Junge geweint? Oder empfand der Baum so wie das Kind und vergoss ebenfalls eine Träne? Sie fühlte sich so verzaubert, dass sie beinahe vergaß, wo sie sich befand. Nur widerwillig löste sie sich von diesem geheimnisvollen alten Baum. Sie beugte sich nach vorn, teilte die Zweige mit ihren Händen und trat darunter hervor. Ihr kam es vor, als würde sie aus einem Traum erwachen. Als sie ins Haus zurückkehrte, hatten sich Gordon und Melissa bereits verabschiedet und befanden sich auf der Rückfahrt. Sie stellte die Blume in eine Vase, füllte frisches Wasser ein und ging damit zu ihrem Patienten. Dieser lag matt, mit geschlossenen Augen, in den Kissen. Leise näherte sie sich seinem Bett und hielt ihm die Blume unter die Nase. Langsam öffnete er seine Augen.