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„Christin, können Sie etwa Gedanken lesen?“, äußerte er sich erstaunt und sog den frischen Duft ein.
„Nein“, lächelte sie. „Aber die Türe zu meinem Zimmer stand offen. Verzeihen Sie mir, dass ich gelauscht habe?“
„Nein, ich verzeihe es Ihnen nicht“, grinste er. „Im Gegenteil, ich bin sogar glücklich darüber, dass Sie es getan haben. Zur Strafe aber, weil Sie gelauscht haben, verpflichte ich Sie dazu, mich bis in alle Ewigkeit zu duzen. Mir geht das „Sie“ auf den Wecker, wenn man tagtäglich zusammen ist“, verlangte er von ihr. Mal sehen, ob ich das auch so schnell fertigbringe wie Gordon mit Melissa, dachte er.
„Es ist uns leider nicht erlaubt unsere Patienten mit „Du“ anzureden“, erklärte sie.
„Ach, hat das vielleicht auch die Mutter Oberin vorgeschrieben?“ Er bedachte sie mit einem lauernden Blick.
„Ja, sie meint, das „Du“ würde zu vertraulich klingen“, versuchte sie ihm zu erläutern. „Der Respekt ginge zwischen dem Patienten und der Pflegeperson verloren.“
„Vertraulich? Respekt? Papperlapapp! Sage deiner Oberin, ein todkranker Mann hat darum gebeten, dessen Tage sowieso gezählt sind. Einen solchen Wunsch kann sie nicht abschlagen, wenn sie ein Herz besitzt.“ Brandon öffnete seine Augen einen Spalt und beobachtete die Nonne genau. Er erkannte, dass sie Zweifel bekam und mit sich rang, ob sie das Gebot der Oberin brechen durfte oder nicht. Eine Weile später atmete sie tief auf.
„Na gut, aber nur hier unter uns“, willigte sie ein. Sie wusste allerdings nicht, dass das kleine Wort „Du“ sie noch näher an ihn kettete.
„Ich danke dir. Du kannst es auch in Gegenwart von Richard und Doreen tun. Sie werden ganz gewiss nichts verraten“, versicherte er ihr mit einem kleinen Lächeln. „Außerdem ist die Mutter Oberin weit weg von hier.“
Das erste Lächeln, das sie bei ihm sah, seit sie ihn betreute. Sie deutete es als einen Fortschritt, als einen Aufwärtstrend, einen Meilenstein in seiner Krankheit. Und wenn ihm das „Du“ dabei weiterhalf, dann sollte es eben so sein.
„Ich werde dir immer Respekt zollen, weil deine Pflege mit Herz, Verstand und Liebe geschieht. Du setzt deine ganze Kraft dafür ein, deine Patienten gesunden zu lassen. Das hat bisher keine der anderen Pflegerinnen getan, denn denen wäre es lieber gewesen, ich wäre so schnell wie möglich abgekratzt. Dafür bin ich dir aufrichtig dankbar. Du schätzt die Würde des Menschen noch“, bestätigte er ihr.
Das hatte bisher noch kein Patient zu ihr gesagt und sie wurde schlichtweg einfach rot vor Verlegenheit.
„Ach, da wäre noch etwas, Christin. Verzeihst du mir die Nebelkrähe und den Pinguin?“, bat er sie zaghaft.
„Das habe ich doch schon längst vergessen“, versicherte sie ihm.
Tatsächlich ging es die nächsten Tage mit ihm etwas bergauf. Brandon nahm wieder kleine Portionen Nahrung zu sich. Christin entfernte die Infusion. Jeden Tag erhöhte sie die Brotmenge um ein kleines Stück mehr.
Ganz behutsam begann sie ihn auf Vollwertkost umzustellen. Frisches Gemüse und saftiges Obst kam mehr und mehr auf seinen Menüteller. Er bekam mehrere kleine Portionen Salat über den Tag verteilt. Jeden dritten Tag gab es eine Fleischmahlzeit, bestehend aus Hühnchen, Pute, Fisch oder zartem Rinderfilet. Christin war mehr als überrascht, als Brandon ihre Speisen lobte, ja sogar mit Appetit verzehrte. Er begrüßte es geradezu, dass von nun an weniger Fleisch auf dem Teller lag. Vor allem gab es dieses ekelhafte, fette Schweinefleisch nicht mehr, das all die anderen Pflegerinnen ihm immer wieder vorgesetzt hatten. Als ob es nichts anderes zu kaufen gäbe. Nach vier Wochen konnte er zum ersten Mal wieder eine gefüllte Tasse zum Mund führen, ohne dabei zu zittern und die Hälfte davon auf das Bett zu verschütten.
„Du bist schon viel kräftiger geworden in den letzten Wochen“, freute sich Christin. „Noch zwei, drei Monate und du bist stark genug eine Wirbeloperation zu überstehen“, ermutigte sie ihn.
„Vorausgesetzt, die Blutwerte bessern sich bis dahin“, wandte er ein.
Tatsächlich trat ein Stillstand der wachsenden Krebszellen ein. Brandon fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr und vor allem vollkommen schmerzfrei. Die Müdigkeit wich einem unbändigen Tatendrang. Er hätte sonst etwas unternommen, wäre da nicht die Rückenverletzung gewesen, die ihn an das Bett fesselte. Doch dazwischen holte ihn trotzdem manchmal eine bleierne Müdigkeit ein. Und wenn er ihr dann nachgab, schlief er sehr tief und fest, was allerdings seiner Gesundung diente.
Einmal während dieser tiefen Schlafphasen ging Christin hinunter in die Halle und suchte nach einer Türe, die in den angrenzenden Anbau führen musste. Eigentlich durfte sie das gar nicht tun. Eine Ordensfrau durfte nicht neugierig sein. Neugierde fiel mit unter die zehn größten Vergehen einer Nonne. Dessen war sie sich voll bewusst, doch in diesem Augenblick überwog der Wissensdurst. Erregt, von Erwartung getrieben, setzte sie leise einen Fuß vor den anderen. Da bemerkte sie einen leichten Luftzug, der ganz hinten unter den beiden Treppen hervorkam. Vorsichtig schlich sie dahinter und fand eine geöffnete Türe genau unter den beiden Treppen, die in den ersten Stock führten. Sie kam in einen Vorraum, wo sich Winterstiefel und Wintergarderobe befanden. Eine weitere Türe stand offen und sie kam zu einer geschwungenen Treppe, die ebenfalls nach oben führte. Noch ein Stück weiter stand sie plötzlich in einem großen, hellen Wohnzimmer mit nur wenigen Möbeln, die mit weißen Tüchern abgedeckt waren. Geradeaus entdeckte sie den Wintergarten, den sie vom Garten draußen gesehen hatte. Dort erblickte sie Doreen, die mit einer Gießkanne die Blumen goss. Die Frau drehte sich um, da sie fertig war und sah Christin im Wohnzimmer stehen.
„Oh, Entschuldigung bitte, Doreen. Ich bin wieder viel zu neugierig gewesen“, gestand die kleine Nonne und drehte sich auf dem Absatz um.
„Nein, nein, bleib doch hier, Christin!“, rief sie. „Du tust nichts Verbotenes. Dieses Haus ist im Grunde ein Doppelhaus und gleichzeitig sind es auch zwei eigenständige Häuser.“ Die Haushälterin ging ohne Umschweife zum persönlichen „Du“ über.
„Ich wollte eigentlich nur wissen, wie man in den Wintergarten kommt, den man vom Garten aus sieht“, erklärte sie ihr ungehöriges Vordringen.
„Komm doch herein in den Wintergarten“, forderte Doreen sie auf.
Langsam betrat Christin den gläsernen Raum. Sie entdeckte dort eine Sitzgruppe aus hellem Rattan mit einem ebensolchen Tisch. Die Frau hatte alle großen Fenster und Schiebetüren geöffnet, um die sehr warme Luft, die sich im Raum staute, auszutauschen. Hier wuchsen Palmen und Orchideen in großen Kübeln, Kletterpflanzen, die bis hinauf zur gläsernen Decke rankten. Ein intensiver Duft von den vielen verschiedenen Blüten umgab die beiden.
„Warum steht das Gebäude leer?“, wunderte sich Christin.
„Nun ja, in der Ehe von Brandons Eltern gab es keine große Liebe. Die Eltern der jungen Leute arrangierten diese Verbindung. Dabei ging es vorrangig um die Banken und sehr viel Geld. Vor dem Personal wurde zwar nie darüber gesprochen, aber wir besaßen auch Augen und Ohren. Mr. Stonewall musste für mehrere Wochen auf Geschäftsreise gehen. Der Sohn hielt sich in einem Ferienlager auf. Mrs. Stonewall fuhr deshalb in die Berge, da ihr allein zu Hause langweilig wurde. Sie kam nach ein paar Wochen zurück und wir alle stellten fest, dass sie sehr glücklich wirkte. Einige Monate später, bemerkte man, dass Mrs. Stonewall ein Baby erwartete. In Windeseile wurde auf Befehl des Hausherrn das Herrenhaus vergrößert. Wir wunderten uns damals auch darüber, denn das alte Haus bot noch genügend ungenutzte Räume, wo man ein weiteres Kind hätte unterbringen können. Doch kaum brachte Mrs. Stonewall das Kind Brandon auf die Welt, gab es einen riesengroßen Krach zwischen den beiden Eheleuten und der Hausherr verbannte seine Frau mitsamt dem Baby regelrecht in den angebauten Teil des Hauses. Sie lebten dort sehr abgeschieden. Nur zu Tagen, an denen die Presse kam, oder zu Gartenpartys durften sie erscheinen. So wollte Mr. Stonewall der Welt eine heile Familie vorspielen. Scheiden ließ er sich nicht von seiner Frau und das Stiefkind existierte in seinen Augen so gut wie gar nicht. Denn sein eigenes Kind konnte es ja nicht sein. Schließlich konnten wir auch rechnen und wussten, wer wann im Haus zusammenkam. Mrs. Stonewalls Baby war ein Mitbringsel aus dem Urlaub in den Bergen. Doch was da geschah, das weiß bis heute keiner. Man bemerkte allerdings den Unterschied. Dieses Kind musste aus einer großen Liebe entstanden sein. Brandon hing mit der gleichen Liebe an seiner Mutter wie sie an ihm und es traf ihn sehr schwer, als sie bei diesem Autounfall starb“, erzählte ihr Doreen. „Auf jeden Fall wurde dieser Junge mit sehr viel Liebe von seiner Mutter aufgezogen. Der überstrenge Vater hatte keinen Einfluss auf ihn. Er tendierte später nicht zum Spieler und Trinker wie sein Halbbruder, denn der wollte sich nur Freiraum beschaffen, um seinem Vater zu beweisen, dass er auch anders sein konnte. Nämlich genau das Gegenteil von brav, gut und fleißig. Für den Vater tat sich hier ein tiefer Abgrund auf. Dennoch ließ er ihn nicht fallen und setzte ihn als Haupterben ein. Brandon dagegen lernte fleißig in der Schule und beendete sie mit einem sehr guten Abschluss. Nachdem er volljährig war übernahm er das Erbe seines Stiefvaters. Doch das erlebte seine Mutter leider nicht mehr. Er ist ein sehr sparsamer Mensch geblieben und finanzierte alles mit seinem Beruf als Tierarzt und den Zinsen, die ihm zustanden, bis die Krankheit bei ihm ausbrach. Er tastete nichts von den ererbten Konten an, obwohl ihm mehrere Millionen zur freien Verfügung standen. Dann entließ er alle Dienstboten bis auf uns. Er meinte wohl, es würde sich nicht mehr groß rentieren, wenn er nicht mehr lange zu leben hätte. Das Wenige, was wir jetzt zu tun haben, dazu brauchen wir keine große Dienstbotenschar.“
„Na ja, den Gärtner hätte er vielleicht doch behalten sollen. Die Gehwege sind alle vergrast und das Unkraut wuchert überall“, entgegnete Christin.
„Seitdem er nicht mehr laufen und seinen geliebten Rosengarten nicht mehr erreichen kann, ist ihm alles egal geworden“, teilte die Haushälterin ihr betrübt mit.
Langsam gingen sie wieder in das ältere Haus zurück und die Pflegerin sah gleich nach ihrem Patienten, der inzwischen ausgeschlafen hatte.
„Christin, hast du es schon bemerkt?“, überfiel er sie, als sie den Raum betrat. Er blickte sie von der Seite her an. „Die schwarzen Krähen sind fort. Sie müssen bemerkt haben, dass es mir wieder besser geht. Eine haben sie allerdings vergessen“, ließ er sie raten.
Die Ordensschwester sah aus dem Fenster, doch sie konnte keinen einzigen Vogel mehr sehen. „Wen haben sie denn vergessen?“, wollte sie wissen.
„Dich“, lachte Brandon.
„Nur weil ich einen schwarzen Habit trage, ist das noch lange kein Grund mich mit den Krähen zu vergleichen“, entgegnete sie etwas scharf.
„Verzeihung, Christin, das sollte nur ein Witz sein. Bitte sei nicht beleidigt. Ich bin sehr froh, dass du hier bist, sonst hätten mich die schwarzen Vögel schon längst mitgenommen.“ Beim letzten Satz wurde seine Stimme immer leiser.
„Du bringst diesen Aberglauben wohl nie mehr aus deinem Kopf heraus? Wer hat dir das überhaupt erzählt?“, erkundigte sie sich.
„Mein Stiefbruder“, antwortete er. „Der wusste eine ganze Menge solcher Lügen. Ich war damals noch sehr klein und ich glaubte ihm einfach alles.“
Christin versuchte ihm die Langeweile mit Würfel- und Kartenspielen zu vertreiben. Vor allem jedoch wollte sie ihn auch von den schwarzen Krähen ablenken, denn sie beobachtete ihn dabei, dass sein erster Blick frühmorgens immer dem Fenster galt, mit der bangen Frage im Gesicht: Sind sie etwa wieder zurückgekehrt? In den nächsten Tagen ließ sie ihm einen hängenden Fernseher über dem Bettende installieren und seine Stereoanlage im Zimmer anschließen. Über die Fernbedienung konnte er so ziemlich alles regeln. Endlich wusste er wieder, was draußen in der Welt vor sich ging. Auch konnte er seine geliebte Musik wieder hören. Das Interesse daran erlosch völlig bei den starken Schmerzen. Nur sie beherrschten nun sein Leben.
Christin ordnete die CDs in seinen Nachtschrank ein und bemerkte, dass sich viele klassische Musikstücke darunter befanden. Auch moderne Klassik fand sie. Brandon beobachtete sie, als sie eine CD nach der anderen umdrehte, um die angegebenen Musikstücke zu lesen. Da sie neben seinem Bett kniete, war sie ihm somit sehr nahe. So nahe, dass er den Duft von Cyclamen wieder einatmete, der ihr anhaftete. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und wünschte sich nichts sehnlicher, als sie einfach in seine Arme zu schließen. So ein bezauberndes Geschöpf konnte und durfte doch nicht ein Leben lang als Nonne in einem Kloster leben, ging es ihm durch den Kopf. Etwas regte sich in ihm, wofür es sich wieder zu leben lohnte. Er überließ sich jetzt nicht mehr seinen Schmerzen und der aussichtslosen Situation, in der er sich befand. Er kämpfte plötzlich intensiv gegen diese heimtückische Krankheit von sich aus an. Das Gefühl für Christin wurde von Tag zu Tag stärker in ihm. Doch was konnte er ihr schon groß bieten, außer seinen Millionen, die sie nicht nehmen würde und auch nicht behalten durfte. Er wollte sich selbst geben, aber er lag hier beinahe gelähmt im Bett und kämpfte tagtäglich gegen diese Leukämiezellen an. Er musste gesund werden, wenn er sie für sich gewinnen wollte. Doch wie das bewerkstelligen? Und vor allem stand ein noch viel größeres Problem vor ihm: Wollte sie sich überhaupt von ihm gewinnen lassen, für immer? Als er seine Augen wieder öffnete, saß Christin bei ihm auf der Bettkante. Sie wollte ihm gerade die Kopfhörer abnehmen, da sie glaubte, er sei eingeschlafen. Erschrocken zuckte sie zurück.
„Oh, Verzeihung, ich dachte du wärst eingeschlafen“, entschuldigte sie sich.
Dabei sah sie ihm direkt in seine blauen Augen, die sie mit einem seltsamen, heißen Begehren ansahen. Völlig verstört sprang sie auf. Dieser Blick ging ihr etwas zu tief unter die Haut. Doch da war es auch schon vorbei. Brandon rief sich schnellstens zur Ordnung. „Christin! Bleib doch hier. Möchtest du vielleicht auch etwas Musik hören?“, versuchte er sie abzulenken.
Zögernd setzte sie sich wieder auf die Bettkante, jedoch bereit jederzeit wieder aufzuspringen und zu fliehen.
Er nahm die Kopfhörer ab und setzte sie ihr auf. Staunend hörte sie fantastische Klänge. Interessiert beobachtete er sie. Ihr Gesichtsausdruck ließ auf Begeisterung schließen.
„Das ist herrlich. Solche Musik habe ich noch nie gehört“, gestand sie ihm begeistert. „Man könnte dabei direkt träumen.“
Vorsichtig nahm sie die Kopfhörer ab und gab sie ihm zurück.
„Außer Kirchenmusik hören wir im Kloster nichts anderes“, teilte sie ihm mit.
„Was? Ach, ihr armen Schweine. Ihr tut mir wirklich leid. Das muss doch langweilig sein“, warf Brandon ein.
„Nein, solange man nichts anderes kennt, nicht“, antwortete sie.
„Was ist schon viel anders an einer Symphonie, dass ihr sie nicht hören dürft?“, informierte er sich.
„Sie ist weltlich“, erklärte sie.
„Wie oft werden Symphonien in Kirchen gespielt?“, gab er ihr zu verstehen.
„Das mag schon sein. Aber nicht bei uns, nicht in unserem Kloster“, ließ sie ihn wissen.
„Aber jetzt kennst du diese andere Musik“, forschte er weiter. „Und wie ich feststellen konnte, gefällt sie dir sogar.“
„Ja, du hast Recht. Wahrscheinlich sehne ich mich ab jetzt immer nach ihr“, gab sie versonnen zu.
Das ist schon die zweite Regel, die ich gebrochen habe, dachte sie.
„Ist das eine große Sünde?“, interessierte sich Brandon.
„Ich glaube nicht, dass es ein so großes Vergehen ist“, überlegte Christin mit einem Lächeln.
Er musste schnell die Augen schließen. Dieses Lächeln brachte ihn total durcheinander. Nie hätte er sich träumen lassen, noch einmal zu solchen Gefühlen fähig zu sein. Vor allem zu so intensiven, tiefen Empfindungen, die er noch niemals je zuvor wahrgenommen hatte. Auf keinen Fall durfte Christin vorläufig davon erfahren. Sie würde ihn wohl auf der Stelle verlassen. Er würde äußerst behutsam damit umgehen müssen.
„Ich gehe in die Küche und koche dir deinen Tee“, informierte sie ihn und verließ das Zimmer. Mit leisen Schritten ging sie die Treppe hinunter. Es war später Nachmittag. Draußen hingen schwere, dunkle Wolken am Himmel und es regnete.
Hoffentlich ist niemand in der Küche, dachte Christin bei sich. Doch als sie die Türe öffnete stand da Doreen, die gerade Orangen auspresste.
„Hallo, Christin“, rief sie erfreut. „Was macht Brandon?“
„Er hört klassische Musik“, berichtete sie ihr, nahm eine kleine Teekanne vom Regal und stellte sich an das Spülbecken mit dem Rücken zu Doreen.
„Das ist gut. Er hat schon so lange seine geliebte Musik nicht mehr gehört“, redete die Haushälterin weiter.
Christin drehte den Wasserhahn auf und ließ Wasser in die Kanne laufen. Dabei zitterten ihre Hände so sehr, dass sie das Gefäß mit beiden Händen festhalten musste.
Was ist nur los mit mir? fragte sie sich im Stillen. Habe ich mich tatsächlich in ihn verliebt? Wenn das Liebe ist, dann ist es aber seltsam, dass ich dabei so sehr zittere und ganz durcheinander bin. Mir wurde erzählt, es sei etwas Wundervolles und Schönes. Dieses Gefühl in mir macht mir eher Angst. Oder ist tatsächlich nur dieses Wörtchen „Du“ daran schuld? Verzweifelt betete sie wieder still: „Wer auf sein Herz vertraut, der ist ein Tor.“
Vorsichtig stellte sie die Kanne mit dem Wasser auf den Tisch und verschüttete trotzdem einen Teil davon. In der Küche herrschte eine gewisse Düsternis durch das Regenwetter, das begrüßte die Schwester. Auch dankte sie Doreen im Geheimen, dass sie noch kein Licht machte. Doch im nächsten Augenblick tat sie es und sah natürlich die ganze Bescherung. Hastig versuchte Christin das verschüttete Wasser aufzuwischen, da entglitt ihr auch noch der Lappen. In ihrer Aufregung stieß sie an die Teekanne und beförderte sie zu Boden. Sie zerbrach in tausend Scherben. Doreen kam ihr zu Hilfe und bemerkte ihre bebenden Hände.
„Christin, was hast du denn? Du wirst uns doch nicht krank werden?“, stellte sie besorgt fest. „Na, ein Wunder wäre es nicht. Tag und Nacht bist du bei Brandon. Du musst auch einmal eine Pause einlegen.“
Die Haushälterin ergriff die Hände der Schwester und führte sie zu einem Stuhl. „So, hier setz dich.“ „Doreen“, begann Christin mit schwankender Stimme. „Ich würde gern drei bis vier Tage ins Kloster gehen. Aber ich habe Angst, dass es ihm während meiner Abwesenheit wieder schlechter gehen könnte“, äußerte sie ihren Wunsch.
„Ach, Christin! Richard und ich sind doch auch noch da. Gehe ruhig die paar Tage ins Kloster und tanke wieder Kraft. Ich weiß, wie schwer deine Arbeit hier ist mit ihm. Irgendwann musst du auch mal ausspannen. Mach dir nur keine Sorgen. Das geht schon in Ordnung. Morgen früh wird dich mein Mann hinfahren“, zerstreute Doreen ihre Bedenken.
Die Schwester nickte leicht. „Danke, Doreen. Ihr beide seid wirklich ganz liebe Menschen“, lobte sie die Frau und ihren Mann.
Die Haushälterin stand auf, kehrte die Scherben zusammen, wischte das Wasser weg und kochte nun ihrerseits einen Beruhigungstee für die Pflegerin. Nachdem diese ihn getrunken hatte, schickte sie die kleine Nonne ins Bett. Dann begab sich Doreen zu Brandon.
„So, Junge, heute bekommst du deinen Tee von mir serviert. Christin geht es nicht gut. Ich glaube, sie muss sich ein paar Tage ausruhen, sonst wird sie uns noch krank“, informierte sie ihn.
„Was fehlt ihr denn?“, erschrocken blickte Brandon Doreen an.
„Ich nehme an, sie ist überarbeitet. Du bist nämlich kein einfacher Patient, wenn ich das mal bemerken darf“, erklärte sie.
„Kann ich ihr irgendwie helfen?“, flehte er.
„Ja, indem du sie für vier Tage ins Kloster gehen lässt. Vielleicht bekam sie auch etwas Heimweh nach ihrer vertrauten Umgebung. Auf jeden Fall werden ihr das Kloster und die Ruhe im Gebet gut tun“, meinte die Haushälterin.
„Meinst du?“, forschte er unsicher in ihrem Gesicht und auch gleichzeitig etwas enttäuscht nach. Jetzt wird sie schon selbst krank, dachte er. Sicher kann sie es nicht mehr mit mir ertragen, dachte er.
Er lässt sie ungern gehen, bemerkte Doreen. Aber dieses Mädchen hat ein Recht auf eine Pause, wenn auch nur eine kleine. Kam sie ja sofort nach einer Pflege zu ihm, ohne sich auszuruhen. Schließlich arbeitete sie jetzt schon wieder beinahe dreieinhalb Monate hier. Und sie bewirkte Unglaubliches bei ihrem Patienten.
Der August neigte sich dem Ende zu. Brandon verbrachte eine sehr unruhige Nacht. Des Öfteren wachte er auf mit der entsetzlichen Angst, Christin könnte ihn verlassen und zwar für immer. Man konnte ihm jederzeit eine andere Pflegerin zuteilen und dann wahrscheinlich eine alte, unansehnliche Ordensfrau, die nicht so liebevoll mit ihm umging. Das quälte ihn unentwegt. Dann wieder machte er sich selbst Vorwürfe. Hatte sie vielleicht seine Gefühle für sie erkannt? Oder waren ihre Wurzeln zu sehr mit dem Kloster verwachsen? So dass sie gar keine Liebe zu anderen empfinden konnte? Aber nein, sagte er sich wieder. Wenn ich mich nicht ganz getäuscht habe, sah ich die Liebe bereits in ihren Augen. Denn oft, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, ruhten eben diese wunderschönen großen dunkelbraunen Augen auf ihm, so sanft und liebevoll. Sie kann kein Mensch ohne jegliches Gefühl sein. Habe ich sie durcheinander gebracht? Sucht sie am Ende Halt und Kraft im Kloster? Vielleicht sogar für immer? Diese Überlegungen kreisten ununterbrochen in seinem Kopf und belasteten ihn ungemein.
Die Hitze stand regelrecht in seinem Zimmer, obwohl die Fenster offen standen. Ein Gewitter lag in der Luft, doch es kam nicht richtig zum Ausbruch. Es regnete nur leicht und brachte zu der Wärme auch noch eine Portion Feuchtigkeit. Brandon schwitzte sehr stark. Das Wasser lief regelrecht an seinem Körper hinab. Er nahm die Glocke zur Hand und wog sie hin und her. Er hätte gern nach seiner Pflegerin geläutet, aber dann verzichtete er darauf. Er wollte sie nicht aufwecken. Sollte sie ruhig schlafen, wenn es ihr nicht gut ging. Wie gerne hätte er sie jetzt getröstet. Aber er kam von diesem Bett nicht los. Voller Wut hieb er seine Fäuste in die Matratze. Was konnte er schon tun? Diese verfluchte Krankheit und der Unfall ketteten ihn an dieses verdammte Bett. Wenn er den Rollstuhl auch hasste, jetzt wäre er dankbar dafür gewesen, wenn er wenigstens darin hätte sitzen können. Soll denn so mein übriges Leben aussehen? Bis ans Ende so zu liegen, in diesem Bett? Ohne Freude, ohne ein wenig Liebe? überlegte er. Wider Willen stieg ihm das Wasser in die Augen. Wer kann mir helfen? Die Ärzte stehen macht- und ratlos meiner Leukämie gegenüber. Nur einmal möchte ich die reine, tiefe Liebe erleben. Nur einmal noch in diesem Leben glücklich sein. Ist das denn zu viel verlangt? flehte er, während ihm die Tränen über sein Gesicht liefen. So begann er doch tatsächlich zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder zu beten und bat den Herrn darum, dass man ihm doch bitte Christin wieder zurückschicken möge. Er liebte ihre kleinen, zierlichen Hände, die so sanft mit ihm umgingen, so dass er immer glaubte gestreichelt zu werden, wenn er seine Augen schloss. Er seufzte tief auf. Sie ging auf alle seine Wünsche und Bedürfnisse ein. Keinesfalls wollte er sie gegen eine andere Pflegekraft eintauschen. Ein Gedicht kam ihm in den Sinn, das genau seine und ihre Situation widerspiegelte.
Du bist die einzige, an die ich den ganzen Tag denke.
Du bist die einzige, die mich in meinen Träumen zärtlich küsst.
Und du, du bist die einzige, die das nicht weiß!
Bei diesem Gedicht ersetzte er das der durch die.
Der neue Morgen brachte dicken Nebel, als Richard mit Christin zum Kloster aufbrach. Die Fahrt verlief sehr schweigsam. Die kleine Nonne sah die meiste Zeit der Fahrt aus dem Fenster. Somit stellte der Hausmeister fest, dass die Pflegerin wohl doch ernstere Probleme wälzte, als sie zugeben wollte. Denn nach einer banalen Erschöpfung sah ihm das bei weitem nicht aus. Was hat der Junge denn nun wieder angestellt? fragte er sich. Oder hat sie etwas ganz Schlimmes verbrochen?