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Am Zielort angekommen, nahm die Nonne ihren kleinen Koffer mit der Reservetracht, dankte Richard mit einem abwesenden Lächeln und steuerte sogleich auf die Kapelle zu. Am Eingang stellte sie ihr Gepäck ab und schritt zielstrebig zum Altar. Lange sah sie mit gefalteten Händen empor zum Kreuz. Dann warf sie sich mit dem Gesicht nach unten auf den Läufer vor dem Altar und breitete die Arme zu beiden Seiten aus. Während sie dies tat, betrat die Mutter Oberin die Kapelle. Sie wartete, bis Christin wieder aufstand und sich in eine Bank setzte. Beinahe geräuschlos glitt die Mutter neben sie. Nach einer schweigsamen Zeit erkundigte sie sich leise: „Ist es wirklich so schlimm mit Mr. Stonewall? Soll ich Sie ablösen lassen?“
„Nein, nein“, wehrte Christin beinahe ein wenig zu schnell ab. „Es ist nicht mehr so schlimm, wie es am Anfang aussah. Er hat jetzt sogar eine stabile Phase erreicht.“
„Mir wurde berichtet, er sei sehr schwierig, werfe mit Essen um sich und terrorisiere das ganze Haus“, erkundigte sich die Oberin.
„Nein, ganz so ist es nicht. Er war nur eben vollkommen am Ende, fühlte sich von allen total allein gelassen und war mit sich, Gott und der Welt im Unreinen. Mir hat er jedenfalls noch nie einen Teller voll Essen über den Kopf gestülpt, wie meiner Vorgängerin. Ich habe es gesehen, als ich ankam. Mit ihm hatte und habe ich keine Schwierigkeiten. Im Gegenteil, mir machte es Freude als er die Talsohle durchschritten hatte und nach und nach die Lebensfreude und die Energie wieder zu ihm zurückkehrten“, berichtete sie ihr.
Die Oberin beobachtete ihren Schützling genau. Während Christin berichtete, nahm sie eine feine Röte auf ihren Wangen wahr und auch die Augen bekamen einen besonderen Glanz.
„Wenn Sie keine Schwierigkeiten haben, weshalb sind Sie dann hier?“, wollte die Mutter wissen.
„Ich vermisse die Stille beim Gebet, die ich hier in dieser Kapelle finde. Ich fühle mich an diesem Ort Gott viel näher. Um dieses Gefühl wieder zu vertiefen bin ich gekommen“, erklärte sie.
„Haben Sie sonst noch etwas auf dem Herzen?“ Die Mutter Oberin sah sie scharf von der Seite an.
Christin zögerte etwas. Doch dann antwortete sie mit fester Überzeugung: „Nein, sonst gibt es nichts, Mutter.“
„Gut, dann lasse ich Sie jetzt allein.“ Mit diesen Worten erhob sich die Oberin und verließ die Kapelle.
Irgendetwas schwelt im Untergrund, sagte sie sich. Ich habe ein sehr ausgeprägtes Gefühl für solche Sachen. Es wäre wohl nicht das erste Mal, dass sich eine Ordensschwester verliebt hätte. Und sei es sogar in den eigenen Patienten. Dass es hier ein strenges Verbot gab, wussten alle, aber danach fragt die Liebe eben nicht. Sie kommt und geht, wie es ihr beliebt.
In diesen dreieinhalb Monaten lief in der Kinderklinik alles seinen gewohnten Gang. Außer Melissas Überstunden. Die störten natürlich die Mutter Oberin. So kam es, dass sie eines Abends, Anfang Mai, plötzlich bei der Stationsschwester auftauchte.
„Was müssen Sie so spät noch arbeiten?“, forschte sie.
Melissa bekam einen heftigen Schreck, der ihr direkt in die Beine fuhr, und sie war darüber froh, auf einem Stuhl zu sitzen. „Ich muss die Eintragungen in die Kurven noch nachholen. Wir hatten heute einen sehr hektischen Tag auf Station, so dass ich noch nicht dazugekommen bin“, erklärte die Schwester ausweichend.
„Dann müsste es die letzten zwei Wochen jeden Tag hektisch gewesen sein. Ich habe Sie beobachtet, Schwester. Es ist nicht die Hektik, sondern Ihre Arbeitsweise.“ Die Stimme der Oberin wurde immer schärfer und Melissas Gesicht immer blasser.
„Verrichten Sie in Zukunft Ihren schriftlichen Stationsdienst und anschließend die schwerkranken Kinder, wie sonst auch immer. Für die übrigen Arbeiten, wie Infusionen legen, Blutabnehmen und dergleichen müssen Sie nicht unbedingt anwesend sein. Dafür ist ja genügend anderes Pflegepersonal da. Die wissen sonst gar nicht mehr, was sie tun sollen, wenn Sie ihnen die ganze Arbeit abnehmen. Ich wünsche, dass meine Anordnungen ab sofort befolgt werden.“ Die Oberin drehte sich um und verließ die Station.
„Jawohl, Mutter“, hauchte Melissa.
Sie saß ganz zusammengesunken an ihrem Schreibtisch Es hieß, die Mutter Oberin habe ihre Augen überall. So wie es aussah, stimmte das auch. Die Stationsschwester richtete sich auf und drängte die aufsteigenden Tränen zurück. Somit gab es in Zukunft keine lustige Stationsarbeit mit dem Oberarzt mehr. Kaum konnte sie noch die Zeilen auf den Kinderkurven erkennen, so blind vor Tränen waren ihre Augen. Mit Mühe beendete sie ihre Arbeit und begab sich anschließend in die Kapelle zum Abendgebet. Dort schüttete sie ihr Herz dem Herrn dort oben am Kreuz aus. Unter anderem kam die Bitte: „Herr, kannst du mir verzeihen?“ Es trat eine Pause ein, ehe sie losplatzte. „Aber ich habe den Oberarzt so gern. Ich weiß, dass ich das nicht darf, sondern nur dich allein lieben soll. Doch bei ihm ist das ganz anders. Zu ihm fühle ich mich so sehr hingezogen. Wenn du nicht willst, dass ich einen anderen liebe, warum schickst du ihn dann zu mir? Ich bin nur ein schwacher Mensch, eine Nonne, und die hat auch Gefühle. Wenn du das nicht gewollt hättest, müsstest du alle Nonnen ohne diese Gefühle ausgestattet haben.“ Diese Bitte war ein regelrechter Aufschrei ihrer Empfindungen.
Damit stand sie auf und verließ schnellen Schrittes die Kapelle.
Am nächsten Tag verkroch sich Melissa sofort im Stationszimmer. Die Visite machte sie wie gewohnt mit, doch dann blieb sie bei ihren Kurven, um die neuen Anordnungen sofort einzutragen. Dazwischen und auch nachmittags kümmerte sie sich um die schwerkranken Kinder. Am Ende des Tages verließ sie pünktlich die Kinderklinik.
„Heute bin ich zur richtigen Zeit fertig geworden. Hoffentlich registriert sie das auch“, grollte sie der Oberin und ging absichtlich an ihrem Fenster vorbei.
Sie begab sich in ihr Zimmer, holte sich ein Badetuch und schlenderte hinunter zum See. Dort gab es einen halbrunden Platz, der dicht mit Bäumen und Sträuchern bewachsen war. Auf dem Boden lag feiner, weißer Sand. Niemand konnte diese Stelle einsehen. An diesen einsamen Ort zog sich Melissa immer zurück, wenn sie nachdenken wollte über Ängste und Sorgen, denn sie meinte, es sei der ideale Platz. Oder wie zum Beispiel heute, einem heißen Tag, das Nachdenken mit einem willkommenen Bad zur Abkühlung zu verbinden. Die tiefste Stelle des Sees maß nur eineinhalb Meter. Hier konnte sie unbeobachtet und sicher im Wasser baden. Rasch zog sie hinter einem Busch ihren Habit aus und legte ordentlich darüber ihren Schleier. Langsam schritt sie auf das Wasser zu. Es fühlte sich im ersten Moment kühl an, doch nachdem sie bis zum Bauch eingetaucht war, glaubte sie es wäre angenehm warm. Es war immer nur der Anfang. Wenn man von der heißen Außenluft sich ins Wasser begab. Als sie gerade so richtig entspannt im Wasser saß, hörte sie plötzlich Schritte im Sand. Erschrocken tauchte sie unter, so dass nur noch ihr Kopf herausschaute. Vorsichtig drehte sie sich um.
„Hier bist du also. Ich habe dich schon überall gesucht“, redete sie Gordon an.
Der Schreck fuhr in die Beine.
„Wie … hast du … mich gefunden?“, stotterte sie überrascht.
„Durch Zufall. Ich habe einen Spaziergang gemacht und bin hier unten gelandet“, erklärte er.
Er nahm das Handtuch und hielt es ihr geöffnet hin, damit sie aus dem Wasser steigen konnte.
„Nein, nein!“, rief sie da entsetzt. „Lege das Handtuch bitte wieder hin und drehe dich um“, verlangte sie.
„Was soll ich?“ Gordon lachte. „Hör mal, ich weiß genau, wie du ohne Kleidung aussiehst. Ich habe dich doch vor den Hornissen gerettet. Ich kann mich noch genau erinnern, dass du tropfnass aus dem Wasser kamst und ich dich abtrocknen und in ein Nachthemd hüllen musste. Also, mach kein solches Drama daraus. Komm heraus. Ich mache auch die Augen zu. Versprochen“, forderte er sie auf.
Nur widerstrebend verließ sie das Wasser. Gordon hüllte sie in ihr Badetuch. Er wollte sie festhalten, aber sie riss sich mit einem energischen Ruck von ihm los.
„Lass mich! Ich muss mich anziehen“, rief sie etwas unwirsch.
Sie trat hinter den dichten, grünen Blätterbusch und zog eilig ihre Tracht an. Als sie wieder hervortrat, fand sie Gordon im Sand sitzen, den Blick hinaus auf den See gerichtet. Mit einem kleinen Abstand zu ihm setzte sie sich neben ihn in den Sand. Der Arzt registrierte den Platz, den sie absichtlich zwischen ihnen freiließ und versuchte ihre gegenwärtige Gereiztheit zu deuten. Er streckte seine Hand nach ihrem Gesicht aus, doch sie wich mit ihrem Kopf zur Seite aus.
„Hey, ich will dir doch nichts tun. Dein Schleier sitzt nur etwas schief. Darf ich ihn richten? Sonst vermutet jemand sonst noch etwas“, lachte er leise.
So ließ sie ihn mit geschlossenen Augen gewähren.
„Sag, was ist geschehen? Du gehst mir heute schon den ganzen Tag aus dem Weg und verschanzt dich in deinem Stationszimmer. Stehe ich etwa nicht mehr auf deiner Bestsellerliste? Habe ich dich vielleicht beleidigt oder verärgert? Bitte Melissa, sag’ mir den Grund. Ich kann sonst nicht schlafen heute Nacht“, bat er die Nonne, während seine dunklen Augen sie anbettelten.
Es dauerte eine Weile, bis sie langsam und stockend erzählte, was vorgefallen war. Abschließend bestätigte sie: „Die Mutter muss etwas bemerkt haben.“
Gordon grinste. „Nun, dann müssen wir auf Station eben so tun, als wäre an der Sache nichts dran. Wir können uns ja hier am See abends treffen und schwimmen gehen“, überlegte er.
„Du weißt schon, dass ich nicht schwimmen kann?“, erinnerte sie ihn und blickte nach unten in den feinen Sand.
„Dann bringe ich es dir bei“, erbot er sich.
Unmerklich rutschte er ein wenig näher zu ihr. Er konnte die Lücke zwischen ihnen einfach nicht akzeptieren.
„Du würdest mir Schwimmen beibringen?“ Sie bedachte ihn mit einem etwas ungläubigen Blick.
„Ja, warum denn nicht?“ Gordon sah ihr direkt in die Augen.
„Nein, das geht nicht. Ich habe keinen Badeanzug“, gestand sie ihm leise und sah voller Scham nach unten auf ihre Hände.
Daraufhin bekam er einen Lachanfall. „Wenn es nur an dem liegt! Ich kann dir einen besorgen“, versprach er.
Sie blieben auf der kleinen Sandbank, bis es dunkel wurde. Dann ging jeder einen anderen Weg zu seinem Zimmer im Kloster zurück.
Einige Tage später trafen sie sich wieder an ihrem geheimen Ort. Gordon brachte eine Badehose und ein Badetuch für sich und einen zauberhaften Badeanzug in pink-weiß für Melissa mit.
„Du hast das wirklich ernst gemeint?“, stellte sie leicht unsicher fest.
„Aber natürlich“, bestätigte er. „Ein Mann, ein Wort, eine Tat. Sonst muss ich ja bei jeder Pfütze Angst haben, du gehst unter.“
Hinter den dichten Büschen zogen sie sich um. Kichernd, wie zwei kleine Kinder, die etwas Verbotenes taten, rannten sie ins Wasser hinein, dass es nur so spritzte. An der tiefsten Stelle hob er sie hoch und legte sie flach auf das Wasser.
„Ich habe Angst, Gordon! Ich gehe unter!“ In wilder Panik wollte sie um sich schlagen, aber er ergriff ihre Hände und zog sie langsam durch die warmen Fluten.
„Keine Angst, Melissa. Ich halte dich fest“, beruhigte er sie. „Ich lasse dich nicht untergehen. Du atmest jetzt schön gleichmäßig und lässt dich einfach von mir führen.“
Mit der Zeit bekam sie ein Gefühl für das Element Wasser. Sie bemerkte außerdem, wenn sie Luft holte und sie anhielt, dass sie an der Wasseroberfläche blieb. Er zeigte und übte mit ihr die Schwimmbewegungen, die Atemtechnik und tatsächlich schaffte sie es nach einer Woche täglichen Trainings allein zu schwimmen.
„Ha, das macht Spaß!“, rief sie. „Schade, dass Christin nicht hier ist!“
„Wie ich vermute, kann sie auch nicht schwimmen“, stellte er fest.
Er begab sich an Land und griff nach seinem Badetuch.
„Natürlich nicht“, antwortete sie.
„Ich könnte es ihr doch auch beibringen?“, schlug er etwas belustigt vor.
„Ja, natürlich, du machst hier eine Schwimmschule für Nonnen auf. Sei vorsichtig, sie werden bestimmt alle Schlange stehen.“ Melissa bekam sich kaum mehr ein vor Lachen, als sie es sich bildlich vorstellte.
Inzwischen hatte sie auch das Wasser verlassen. Gordon hüllte sie in das Badetuch und drehte sie zu sich herum.
„Du hast hart gearbeitet in dieser Woche und dir eine Belohnung verdient“, machte er sie neugierig.
Sie sah ihn fragend mit großen, dunklen Augen an. Im nächsten Augenblick senkte er seinen Kopf zu ihr und küsste sie zärtlich auf die Lippen.
„Ich liebe dich“, murmelte er anschließend in ihr Haar hinein.
„Vorsicht, ich bin das Kind, das keiner in meiner Familie haben wollte“, warnte sie ihn leise.
„Wahrscheinlich nur wegen deiner Hautfarbe. Aber ich will dich und zwar für immer, weil ich dich so sehr liebe, gerade mit dieser anderen Hautfarbe“, bestätigte er.
Doch statt dass sie vor ihm zurückwich, schlang sie ihre Arme um ihn und hielt ihn fest. Nach dieser Aufforderung blieb es nicht bei diesem einen Kuss. Zusammen mit ihren Badetüchern sanken sie in den Sand. Gordon schob die Träger ihres Badeanzugs herunter und streichelte ihre vollen Brüste. Sie brauchten keine Worte weiter. Es gab kein Halten mehr zwischen ihnen. Nur der Mond und die Sterne sahen zu, als sie sich auf der kleinen Sandbank liebten. Die Luft war lau und ihre Körper heiß vor Verlangen. Lange danach lagen sie noch eng umschlungen auf dem warmen Sand.
„Tut es dir jetzt leid?“, flüsterte er.
„Nein, ich wollte es ja auch“, antwortete Melissa ebenso leise.
„Aber du bist jetzt keine Nonne mehr. Du hast dein Gelübde gebrochen“, gab er zu bedenken.
„Das macht nichts. Ich kann damit leben, weil ich dich auch liebe. Meinen Herrn habe ich davon schon letzte Woche unterrichtet. Wenn er mir so etwas wie dich vor die Nase setzt, muss er damit rechnen, dass ich ihm untreu werde“, erklärte sie ihm.
„Also, du bist mir ja eine! Ich hoffe, du wirst mir nicht auch eines Tages untreu?“, ließ er sie seinerseits verunsichert wissen.
„Nein“, antwortete sie ernst. „Dafür ist meine Liebe zu dir viel zu stark und außerdem kann ich dich sehen, riechen und vor allem fühlen, Gott jedoch nicht. Dich werde ich mein ganzes Leben lieben“, versprach sie ihm. „Beten werde ich weiterhin zu ihm. Ich möchte nicht völlig mit ihm brechen.“
Gordon bedachte ihren gesamten Körper mit Küssen und Melissa erschauerte immer wieder vor diesem intensiven Gefühl auf ihrer Haut. Seine Lippen und seine Hände erweckten erst so richtig ihre Sinne. Weit nach Mitternacht, es wurde sogar schon bald Morgen, da stahlen sich die beiden zurück ins Kloster.
Von Mitte Mai bis in den August hinein ging es in der Kinderklinik wirklich sehr hektisch zu. Sie betreuten ständig eine Menge Kinder mit schweren Durchfallerkrankungen und mehrere Fälle mit Hirnhautentzündung auf der Station. Melissa musste viele Schwestern als Sitzwachen bei den schwerkranken Kindern einsetzen. Sogar sie selbst übernahm Wachen in der Nacht. Tage und Nächte kämpften sie um deren Überleben. Die Stationsschwester kam kaum zum Essen, aber sie hatte überhaupt kein Verlangen danach. Ein seltsames Mißempfinden befiel ihren gesamten Körper. Sie fühlte sich nicht wohl und dauernd kam eine Welle von Übelkeit in ihr hoch. Auch musste sie sich des Öfteren übergeben. Sie glaubte schon, sich bei einem Kind infiziert zu haben. Doch die Übelkeit nahm an Intensität zu. Zusätzlich stellten sich Magenkrämpfe ein. Ebenso behielt sie kaum noch einen Schluck Flüssigkeit bei sich. Ihre wunderschöne, braune Haut nahm einen aschfahlen Ton an und unter den Augen bildeten sich tiefe, dunkle Schatten. Zum Schwimmen und Erholen blieb keine Zeit mehr. So konnte sie sich seit dieser einen letzten Nacht nicht mehr mit Gordon treffen.
Kurz vor der Morgenvisite schleppte sich Melissa in die Stationsküche. Dort stand der Oberarzt mit einer Tasse starken Kaffees in der Hand. Sonst befand sich niemand im Raum.
„Möchtest du auch eine Tasse?“, wandte er sich besorgt an sie. „Du siehst aus, als könntest du einen Muntermacher brauchen.“
Er goss ihr eine Tasse voll und reichte sie ihr. Sie nahm den heißen, dampfenden Kaffee mit zitternden Händen entgegen und sank auf einen Stuhl. Plötzlich meinte sie das Gefühl zu haben, als würde der Küchenschrank rundherum kreisen. Rasch schloss sie die Augen, um dieses unruhige Bild zu verscheuchen.
„Melissa, du siehst vollkommen erschöpft aus. Mach’ eine Pause, sonst rede ich selbst mit meiner Tante“, bot er ihr an.
Sie jedoch schüttelte nur den Kopf und antwortete leise: „Es geht schon gleich wieder.“
Heute war Mitte der Woche und an jedem Mittwoch begleitete die Mutter Oberin persönlich die Visite in der Kinderklinik. Gordon stellte seine leere Tasse in den Abwasch und verließ die Küche mit einem bedenklichen Blick auf die Ordensschwester. Melissa trank nichts von dem Kaffee. Allein schon der strenge Geruch widerte sie regelrecht an und da ging es auch schon wieder los. Ihr Magen drehte sich um und sie flüchtete nur noch auf die nächste Toilette. Vollkommen fertig, mit wackeligen Beinen sah sie auf die Uhr. Die Visite hatte bereits begonnen. Sie kam zu spät. Das auch noch, gerade heute, dachte sie.
Die Oberin sah auf ihre Uhr. „Nanu, wo bleibt denn Schwester Melissa?“, erkundigte sie sich.
Doch da ging die Türe auf und die Schwester kam völlig aufgelöst herein. Ihr Schleier saß schief und einige ihrer krausen Haare lugten hervor.
„Können wir dann beginnen?“, drängte die Mutter sichtlich ungeduldig und warf der Stationsschwester einen tadelnden Blick zu.
Melissa stand neben Gordon mit Block und Stift, um die neuen Anordnungen zu notieren.
Doch sie schrieb nichts auf. Die Worte des Oberarztes hallten im Krankenzimmer von einer Wand zur anderen. Sie behielt nichts von dem, was er sagte. Die Kinderbetten begannen zu kreisen, immer schneller und schneller. Der Schreibblock glitt ihr aus der Hand und ihre Beine versagten den Dienst. Aus dem Augenwinkel sah Gordon sie fallen. Er warf die Kinderkurve, die er in der Hand hielt, seiner Tante zu. Diese hatte Mühe das Dokument aufzufangen. Gerade noch rechtzeitig fing er die Schwester in seinen Armen auf, bevor sie auf den Boden sank.
In diesem Moment vergaß er alles. Nur die Angst beherrschte ihn.
„Melissa!“, rief er zutiefst erschrocken. Schnell trug er sie in den angrenzenden Untersuchungsraum und legte sie auf eine Liege. Dort schlug sie die Augen wieder auf.
„Melissa, was ist los mit dir? Du gefällst mir gar nicht“, stellte Gordon besorgt fest.
„Mir ist so furchtbar schwindlig und übel“, antwortete sie leise.
Der Arzt schloss die Türe zum Untersuchungsraum, um alle Neugierigen auszusperren. Er zog das Ultraschallgerät zu sich heran.
„Machst du mal bitte deinen Bauch frei?“, forderte er sie auf.
Sie blickte ihn etwas irritiert an. „Nein, nein“, wehrte sie ab. „Ich glaube, ich habe mich bei den Kindern infiziert“, redete die Schwester weiter.
„Das werden wir gleich sehen“, erwiderte er.
Gordon setzte den Ultraschallkopf auf ihren Bauch. Er brauchte auch gar nicht lange zu suchen, als ein Grinsen über sein Gesicht zog.
„Na, da haben wir es ja. Du hast einen Untermieter bei dir einquartiert“, lachte er erleichtert.
„Was habe ich?“ Melissa hob den Kopf und starrte auf den Monitor.
„Du bist schwanger, meine Liebe. Sieh mal, wie munter das kleine Kerlchen ist. Es schlägt laufend Purzelbäume“, amüsierte er sich.
„Um Himmel willen, Gordon“, rief sie aus. Fassungslos fiel ihr Kopf zurück auf die Liege. „Ich bekomme ein Baby? Und es schlägt Purzelbäume? Kein Wunder, dass mir so schlecht ist.“
Doch dann sah sie ihn entsetzt an. „Was jetzt? Ich kann der Mutter Oberin schlecht sagen, dass ich es vom heiligen Geist empfangen hätte“, gab sie zu bedenken.
„Das stimmt, weil es ganz eindeutig mein Kind ist. Das ist doch sonnenklar. Aber du brauchst dir keine Sorgen machen. Ich liebe dich. Ich lasse dich nicht im Stich, wenn es das ist, was du befürchtest.“ Damit küsste er sie auf ihre blassen Lippen.
„Doch jetzt müssen wir dringend etwas für dich tun, sonst verlierst du unser Kind“, ordnete er an. Er legte ihr sofort eine Infusion und ließ ein Bett für sie bringen.
„Auf die Entbindungsstation“, sagte er zu der verdutzt dreinschauenden Schwester.
„Haben Sie sich da nicht vertan?“, wunderte sich diese.
„Nein, absolut nicht“, bestätigte der Arzt schmunzelnd. „Und Sie halten den Mund!“, gab er der Schwester mit auf den Weg. Seine Stimme klang streng und sein Gesicht wirkte ernst.
Melissa bekam ein schönes, helles Einzelzimmer, damit nicht alle gleich mitbekamen, dass die Stationsschwester von der Kinderklinik ein Baby bekam. Dieser Umstand würde noch schnell genug die Runde im gesamten Kloster machen.
„Absolute Ruhe, viel Flüssigkeit und wenn sie wieder Appetit bekommt, leichte Kost“, ordnete der Oberarzt der Entbindungsstation an. Er lachte Melissa schelmisch an. „Aber Schwester, haben Sie etwa von den verbotenen Früchten genascht?“
„Es ist zwar selten, aber es kommt eben doch mal vor, Herr Oberarzt. Adam und Eva konnten sich auch nicht zurückhalten“, antwortete sie.
Gordon kam gerade die Treppe herunter, als ihm die Tante in den Weg lief.
Diese fiel aus allen Wolken, als sie vor wenigen Minuten von der Schwangerschaft ihrer Stationsschwester erfuhr. Da Melissa jetzt die ganze Zeit über brav ihren Dienst wie immer verrichtete, meinte sie die Phase der Schwärmerei für den Kinderarzt sei vorbei. Doch dass es solche Ausmaße annahm, ahnte sie nicht im Mindesten.
„Gordon, mit dir muss ich sofort ein ernstes Wort reden!“, befahl sie in strengem Ton.
Grinsend folgte er ihr in das Büro.
„Was ist los? Warum liegt Schwester Melissa auf der Entbindungsstation?“, bombardierte sie ihren Neffen erbarmungslos mit Fragen.
„Nun, warum wohl? Weil sie ein Baby bekommt“, antwortete er rundheraus.
„Und das sagst du mir einfach so ins Gesicht? Melissa, ein Baby? Von wem? Wer ist der Vater?“, überfiel sie ihn höchst nervös mit weiteren Fragen, obwohl sie es bereits ahnte.
„Ich“, gab er schlicht mit einem charmanten Lächeln zu.
„Da gibt es gar nichts zu lachen! Du bist dir absolut sicher?“, wollte sie eine Bestätigung und durchbohrte ihn dabei mit ihren Augen.
„Ja, ich bin mir vollkommen sicher, weil ich der erste Mann in ihrem Leben war“, bestätigte er wahrheitsgemäß. „Und danach kam keiner mehr, denn in der Kinderklinik war der Teufel los“, fügte er noch hinzu.
„Gordon, wie kannst du es wagen, dich an meinen Nonnen zu vergreifen!“ Die Oberin wurde immer lauter.
„Verzeihung, liebe Tante, ich habe mich nur an einer einzigen Nonne vergriffen. Bitte nicht die Mehrzahl verwenden. Und diese Ordensschwester liebe ich von ganzem Herzen, genauso wie sie mich liebt“, bekannte er. „Ich habe mich sofort in sie verliebt. Schon bei der ersten Begegnung, als sie mir die Kinderklinik zeigte.“
„Das habe ich befürchtet“, stöhnte die Oberin. „Euch Männern ist wirklich nichts heilig. Für dich sollte eine Nonne unantastbar sein und was tust du? Du verführst sie einfach. Das hätte ich nicht von dir gedacht“, zürnte sie ihm mit strengem Gesicht.
„Es ist eben einfach so geschehen. Ich konnte nicht dagegen ankämpfen und ehrlich gesagt, wollte ich es auch nicht“, gestand ihr der Neffe in ruhigem Ton.
„Ja, nun ist das Kind in den Brunnen gefallen. Jetzt müssen wir für Schadensbegrenzung sorgen. Was gedenkst du zu tun?“ Wieder durchbohrte die Tante Gordon mit ihren Augen beinahe.
„Ich werde sie so schnell wie möglich heiraten, liebe Tante, weil ich es ohne sie nicht lange aushalte. Es sei denn, du hältst sie weiterhin gefangen in deinen Mauern. Aber du wirst keine Chance haben. Ich hole sie auf jeden Fall hier heraus“, bestätigte er ihr. „Um eines bitte ich dich noch, Tante Rose: Gehe nicht zu hart ins Gericht mit ihr. Sie ist ein wunderbarer Mensch.“
„Das weiß ich und kaum bist du ein Vierteljahr hier, nimmst du sie mir weg“, grollte sie. „Nun gut. Ich werde Melissa aus dem kirchlichen Dienst als Nonne entlassen, sobald es ihr besser geht. Mir bleibt gar nichts anderes übrig“, resignierte sie und entließ ihren Oberarzt.