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Na so etwas, er lebte noch? Der Drache hatte ihn nicht gefressen oder mit seinem Feuer verbrannt. Er fühlte sich nach dieser Unterredung ganz frei und leicht. Er hätte singen und tanzen können vor Freude, dass Melissa nun frei für ihn war.
„Ich habe bald eine kleine Familie“, sang er leise vor sich hin.
So glücklich fühlte er sich noch nie in seinem Leben. Melissa war seine erste große Liebe und er wollte sie lieben bis zum Ende.
Zwei Tage später ging es besagter Ordensschwester schon deutlich besser. Da erschien die Mutter Oberin bei ihr.
„Wie geht es Ihnen?“, erkundigte sie sich.
„Schon wieder besser. Nächste Woche kann ich bestimmt wieder arbeiten“, versicherte ihr die Schwester.
„Nein, Sie werden solange nicht mehr arbeiten, bis die vielen Fälle von Salmonellen und Meningitis verschwunden sind. Sie waren so schlecht beieinander, dass Sie sich schonen sollten“, trug ihr die Mutter auf.
„Mutter Oberin, ich habe Ihnen etwas zu beichten.“ Melissa schlug die Augen nieder. „Ich bekomme ein Baby.“ So, nun hatte sie es gesagt. Sie holte tief Luft und sah ihre Vorgesetzte flehentlich an.
Es entstand erst einmal eine Pause. Dann erkundigte sich die Mutter: „Stehst du zu dieser Schwangerschaft?“ Mit einem Mal duzte sie ihre Untergebene.
„Ja, auf jeden Fall. Ich könnte kein Kind abtreiben.“ Die Augen der Schwester strahlten. „Ich liebe Gordon über alles. Dieses Baby ist die Krönung unserer Liebe. Wegen meines Fehltritts habe ich bereits mit Gott gesprochen. Ich glaube fest, dass er mir vergibt, sonst hätte er mir nicht dieses besondere Geschenk eines neuen Lebens gemacht.“
„Wenn Gott dir schon vergeben hat, muss ich dir wohl auch vergeben.“ Die Oberin lächelte ihr zu. „Noch dazu, wenn du in meine Familie einheiratest. Jedenfalls darf ich dich behalten. Ab jetzt bin ich für dich Tante Rose.“ Die Mutter umarmte Melissa freundschaftlich. „Bis zur Hochzeit kannst du hier bleiben und deinen Habit tragen. Dann allerdings musst du gehen und dir mit deinem Mann eine Wohnung suchen. Wenn du Sehnsucht nach uns bekommst, darfst du jederzeit kommen und uns besuchen. Ich möchte doch euer Baby auch kennenlernen“, machte sie ihrer Ordensschwester Hoffnung.
„Du bist so verständnisvoll, Tante Rose. Eigentlich müsstest du fürchterlich sauer auf mich und Gordon sein“, wunderte sich die Schwester.
„Weißt du, als ich siebzehn Jahre alt war, befand ich mich in einer ähnlichen Situation“, berichtete ihr die Oberin.
„Aber du bist geblieben“, stellte Melissa fest. „Bekamst du auch ein Baby?“
„Ja, und ich musste eine sehr schwere Entscheidung treffen, doch am Ende sollte es gut sein, so wie es kam“, antwortete sie.
„Erzählst du mir deine Geschichte?“, bat die Schwester. „Hast du dein Kind etwa abgetrieben?“
„Nein, aber ich erzähle es dir ein anderes Mal, meine Liebe. Es würde dich im Moment zu sehr aufregen.“ Damit verabschiedete sich die Tante. In diesem Augenblick klingelte ihr Handy. Gordon teilte ihr mit, dass er Dr. Clark soeben in seinem Zimmer tot aufgefunden hatte. Ein tödlicher Herzinfarkt setzte seinen Leben ein Ende. So eilte die Mutter Oberin zum nächsten Problem.
Ein paar Tage später durfte Melissa das Krankenhaus verlassen. Zu dieser Zeit traf Christin im Kloster ein. Nachdem sie viele Gebete in der Kapelle verrichtet hatte, fand sie in der Abgeschiedenheit ihres Zimmers langsam wieder zu sich selbst und vor allem zur inneren Ruhe. Bevor sie wieder nach „Twenty-Two-Oaks“ ging, musste sie unbedingt ihre Freundin vorher treffen. Sie hatten sich jetzt seit drei Monaten nicht mehr gesehen. Die kleine Nonne klopfte an ihre Türe. Melissa öffnete erst einen Spalt. Doch dann sah sie, wer da stand. Sie riss die Türe ganz auf und zog Christin ins Zimmer.
„Christin, wie schön, dich einmal wieder zu sehen.“ Voller Freude drückte sie die Freundin an sich. Dabei fühlte Christin eine feste Wölbung im Bereich des Bauches. Doch sie schüttelte innerlich den Kopf. Nein, das konnte nicht sein, Melissa war Ordensschwester, wie sie auch. Aber ihre Neugier regte sich und deshalb beobachtete sie ihre Freundin mit Argusaugen.
„Wie geht es in der Kinderklinik?“, erkundigte sie sich.
„Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht. Ich arbeite zur Zeit nicht“, antwortete die Stationsschwester. „Ich muss dir übrigens etwas verraten“, begann sie und streckte sich, um ein Buch in das Regal zurückzustellen.
In diesem Moment sah Christin die Wölbung des Bauches ganz deutlich. Erschrocken sprang sie vom Stuhl auf. „Du bist schwanger?“, rief sie beinahe entsetzt.
„Ja, genau das wollte ich dir gerade sagen“, bestätigte die Freundin voller Freude.
Christin sank auf den Stuhl und starrte sie fassungslos an.
„Du bekommst ein Baby“, murmelte sie tonlos vor sich hin.
Melissa kniete sich vor sie hin und blickte sie mit großen, strahlenden Augen an.
„Ich bin Anfang des vierten Monats. Ach Christin, ich bin ja so glücklich. Jetzt weiß ich erst, wie schön Liebe ist und was uns hier entgeht“, erklärte sie ihr.
Christin starrte sie nur völlig verständnislos an.
„Weißt du wie das ist? Wie der Himmel auf Erden! Das heißt, wenn du den richtigen Mann hast und den habe ich. Gordon ist so zärtlich und so liebevoll. Er liest mir jeden Wunsch von den Augen ab“, schwärmte sie ihr vor. „Und er freut sich genauso unbändig auf unser Baby, wie ich auch.“
„Die Mutter Oberin,… weiß sie es schon?“, erkundigte sich Christin.
„Ja, natürlich weiß sie es. Sie ist sehr rücksichtsvoll und verständnisvoll mir gegenüber. Geschimpft hat sie auch nicht. Sie muss früher einmal etwas Ähnliches erlebt haben, das leider nicht so gut ausgegangen ist. Deshalb ist sie im Kloster geblieben. Sie erlaubte mir, bis zur Hochzeit hierzubleiben. Sag, möchtest du gern meine Trauzeugin werden?“ Melissa sah sie erwartungsvoll an.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann?“, zweifelte Christin.
„Ach, das ist gar nicht schwer. Du musst nur eine Unterschrift auf dem Standesamt leisten und bei der Trauung in der Kirche hinter mir stehen“, erklärte die Freundin.
„Gut, das kann ich gerade noch“, erwiderte sie tonlos, ganz ohne innere Regung.
„Du musst keine Angst haben. Ich werde dich oft besuchen. Und wenn das Baby erst da ist, dann wird es so richtig lustig“, versuchte Melissa ihre Freundin aufzuheitern, denn sie bemerkte den Schreck über ihre Schwangerschaft und den Verlust ihrer besten Freundin an ihrem todtraurigen Gesichtsausdruck.
„Ich werde dich vermissen und vielleicht sogar verlieren“, seufzte Christin und starrte ins Leere.
„Nein, ganz gewiss nicht. Gordon und ich werden dich nicht vergessen“, versprach Melissa.
Mit hängenden Schultern begleitete die kleine Nonne ihre Freundin in die Cafeteria. Dort tranken sie zusammen einen Tee und unterhielten sich leise noch über dieses und jenes. Es begann bereits zu dämmern, als sich die beiden trennten. Gordon, inzwischen zum Chefarzt erhoben, erbot sich Christin zu ihrem Patienten zu fahren. Sie fühlte sich wieder stabil und gestärkt, hatte praktisch wieder Boden unter den Füßen gewonnen, so dass sie sich sicher war, keine Panik mehr zu bekommen, wenn sie Brandon in die Augen sah.
Als sie in „Twenty-Two-Oaks“ ankamen, zeigte die Uhr in der Küche dreiundzwanzig Uhr an. Alle Hausbewohner hatten bereits ihre Betten aufgesucht, als Gordons Handy klingelte. Er sprach nur ganz kurz, dann wandte er sich mit sorgenvoller Miene zu Christin.
„Melissa hat vorzeitige Wehen bekommen. Ich muss sofort zurück zu ihr“, unterrichtete er sie.
„Ja, fahr nur zu ihr. Sie braucht dich jetzt am allermeisten. Danke, dass du mich hergefahren hast.“ Christin begleitete ihn noch nach draußen.
Sie sah ihm nach, wie er ins Auto stieg und die lange Auffahrt hinunterfuhr. Sie werden ein schönes Paar abgeben, überlegte sie. Melissa hat bestimmt den richtigen Mann an ihrer Seite. Höflich, gebildet, rücksichtsvoll, kinderlieb und vor allem überaus liebevoll ihr gegenüber. Langsam löste sie sich aus der Erstarrung, dass ihre Freundin nun einen Mann und bald eine Familie haben würde. Wenn sie nach dieser Pflege ins Kloster zurückkehrte konnte es sein, dass es sehr einsam um sie werden könnte, denn mit den anderen Ordensschwestern verkehrte sie nicht in so einem engen Kontakt wie mit Melissa. Immer noch nachdenklich löschte sie das Hauslicht und begab sich leise, um keinen zu wecken, in ihr Zimmer. Bevor sie sich niederlegte, warf sie noch einen Blick auf ihren Patienten. Doch der schlief fest.
Es mochte wohl so zwischen zwei und drei Uhr früh sein, als die Hausbewohner von „Twenty-Two-Oaks“ ziemlich unsanft von lautem Geschrei geweckt wurden. Christin sprang aus dem Bett und warf sich rasch ihren Morgenmantel über. Ihre Schuhe fand sie in der Eile nicht, also ging sie barfuß. Auch zum Schließen des Morgenmantels blieb keine Zeit mehr.
Das Geschrei ging einem durch Mark und Bein. Christin schaltete nur eine kleine Lampe neben ihrem Bett an. Sie stürzte in Brandons Zimmer. Abrupt verstummte das Geschrei.
„Ein Engel“, krächzte er.
Da nur eine Lampe brannte und Christins Gestalt von hinten beleuchtet wurde, sah es tatsächlich so aus, als stünde da ein Engel. Das bodenlange weiße Nachthemd, die weiten Ärmel des Morgenmantels und die dicken, langen, gewellten und teilweise gelockten dunklen Haare, die ihr bis über die Hüften reichten, trugen dazu bei. Und wie alle Engel trug sie auch keine Schuhe an ihren Füßen.
„Was tust du auf dem Fußboden, Brandon?“, erschrak sie.
Er jedoch starrte sie weiter an. „Christin, bist du das? Oder bist du wirklich ein Engel?“, äußerte er sich völlig durcheinander.
„Ich bin schon Christin“, antwortete sie und kam ein paar Schritte näher zu ihm.
„Ich bin aus dem Bett gefallen“, erklärte er.
„Du bist noch nie aus dem Bett gefallen“, wunderte sie sich und kniete sich neben ihn.
„Ich habe in letzter Zeit sehr wilde Träume. Vor allem, seit du mich verlassen hast. Aber jetzt wird alles wieder gut, weil du zurückgekommen bist und bei mir bist.“ Er sprach sehr schnell und beinahe atemlos. Anschließend verzog er schmerzlich sein Gesicht.
„Hast du Schmerzen?“, erkundigte sie sich.
„Ja.“ Er knirschte so sehr mit den Zähnen, dass sie es hören konnte. „Vor allem im Rücken.“
Er lag sehr unglücklich auf dem Bauch, wie ein gestrandeter, breitgetretener Frosch.
„Ich kann dich nicht umdrehen“, ließ ihn Christin wissen. Sie versuchte es ihm etwas bequemer zu machen, indem sie ihm ein Kissen unter den Kopf stopfte. Dann deckte sie ihn mit seiner Bettdecke zu, als er plötzlich nach ihrer Hand griff. Erschrocken hielt sie inne.
„Ich fühle meine Füße“, flüsterte er. „Christin, ich spüre meine Beine. Oh mein Gott, hilf mir, dass dieses Gefühl nicht wieder vergeht. Nein, nein, jetzt wird der Schmerz wieder unerträglich!“, jammerte er und krallte seine Finger in das Kissen.
Sie erhob sich und schaltete zuerst das Licht an. Dann richtete sie eine Infusion mit einem starken Schmerzmedikament her, die sie ihm in die linke Armvene infundierte.
In der Zwischenzeit kamen Richard und Doreen ins Zimmer gehastet, die durch den Lärm geweckt worden waren.
„Brandon, Junge, was ist geschehen?“, rief Richard erschrocken, als er ihn auf den Fußboden liegend vorfand.
Christin antwortete für ihren Patienten, der nur schwer atmend dalag.
„Er ist aus dem Bett gefallen und jetzt hat er sehr starke Schmerzen im Rücken. Wir brauchen dringend einen Notarzt und einen Rettungswagen. Kann den bitte jemand besorgen?“, bat sie.
Richard lief sofort nach unten in die Halle, um zu telefonieren. Es dauerte auch gar nicht lange, bis der Arzt kam. Dieser untersuchte Brandon kurz und meinte: „Ich fürchte eine Einblutung zwischen den Wirbeln. Er muss sofort in ein Krankenhaus.“
Zwei Sanitäter kamen und betteten den großen Mann fachgerecht auf eine Spezialtrage für Querschnittsgelähmte. Christin musste sich beeilen, um in ihre Tracht zu kommen. In Windeseile rannte sie die Treppe hinunter und erreichte den Rettungswagen gerade noch rechtzeitig, um mitzufahren. Die Sanitäter schlossen die Türen und schon ging es los mit Blaulicht. So eine wilde Fahrt erlebte die junge Ordensschwester in ihrem ganzen Leben noch nicht. Selbst der Haltegurt im Wagen schützte sie kaum. Sie wurde so herumgeschleudert, dass sie die blauen Flecken hinterher gewiss nicht mehr alle zählen konnte.
„Hallo!“, rief sie. „Können Sie nicht etwas vorsichtiger fahren? Der Patient hat eine schwere Rückenverletzung, die durch dieses Rütteln noch verstärkt werden könnte. Am Ende ist er dann tatsächlich querschnittsgelähmt!“
„Der Notarzt hat uns befohlen, so schnell wie möglich in ein Krankenhaus zu fahren! Er sagte uns, es eilt! Außerdem sind nicht wir an dieser unruhigen Fahrt schuld, sondern der Straßenbelag!“, rief einer der Sanitäter zurück, um die Sirene auf dem Dach des Fahrzeugs zu übertönen. Christin versuchte währenddessen verzweifelt ihren Patienten mit beiden Armen in der Körpermitte einigermaßen ruhig zu halten und zu stützen. Es war ein sehr mühsames Unterfangen, doch sie gab nicht auf. Unter anderem rutschte auch noch die Infusionsflasche aus der Verankerung und traf Brandon am Kopf. Christin wollte es verhindern, landete jedoch bei dem Gerüttel auf seiner Brust. Ihr Patient stöhnte nur noch vor sich hin.
„Ich habe doch schon genug Kopfschmerzen und jetzt bekomme ich nicht einmal mehr genügend Luft“, schnaufte er.
Haltsuchend hangelte sich Christin zu ihrem Sitz und hängte die Infusion wieder auf. Dazu brauchte sie allerdings drei Versuche. Ein Hubschrauber wäre wohl besser gewesen, als so eine unsanfte Fahrt. Ich hoffe, es schadet seinem Rücken nicht noch mehr, ging es ihr durch den Kopf.
Nach einer Stunde Fahrt erreichten sie schließlich ein Krankenhaus in Vancouver. Man rollte Brandon auf seiner Trage durch endlos lange, beleuchtete Korridore und von einem Aufzug zum anderen. Christin mühte sich ab, den Sanitätern zu folgen. Sie fühlte sich sehr wackelig auf den Beinen nach dieser Höllenfahrt. Schließlich bogen die Sanitäter mit der fahrbaren Trage um eine Ecke und schoben ihn durch eine sich selbst öffnende Glastür in einen Untersuchungsraum. Im Raum öffnete sich eine weitere Türe und ein ziemlich müde wirkender Arzt in einem zerknitterten, weißen Kittel mit zerknautschten schwarzem Haar erschien gähnend. Christin reichte ihm die Papiere, die der Notarzt ausgefüllt hatte. Er setzte eine Brille auf und überflog kurz die Diagnose.
„Hm ja. Eine Wirbelverletzung“, brummte er vor sich hin.
Jetzt endlich stellte er sich vor. „Ich bin Doktor Porter. Ich denke, wir machen erst einmal ein CT (Computertomogramm), um einen Überblick über die Verletzungen zu bekommen.“ Dann begann er ziemlich blöde zu grinsen, als er weiterlas. „Sie sind aus dem Bett gefallen?“
Brandon nickte nur zustimmend.
„Wie geht das, wenn man gelähmt ist?“, erkundigte sich der Arzt und blickte über den Brillenrand. Es schien ihn sehr zu erheitern. Zum Glück hielt er sich so weit zurück, dass er nicht noch in einen Lachanfall ausbrach.
„Keine Ahnung. Aber Sie kennen meine wilden Träume nicht. Jedenfalls lag ich auf einmal auf dem Fußboden“, presste Brandon hervor. Die Schmerzen setzten wieder ein.
Der Arzt warf Christin einen schelmischen Seitenblick zu. „Ja, das ist durchaus nachvollziehbar“, äußerte er sich sehr langsam und wissend.
Diese bekam davon nichts mit, denn sie wälzte gerade andere schwere Probleme. Irgendwie beschlich sie der Verdacht, hier nicht in der richtigen Klinik zu sein, die sich mit Brandons Verletzung auskannte.
„Schwester, Sie können unten in der Halle warten. Dort gibt es auch einen Kaffeeautomaten“, bot ihr der Arzt an.
„Nein, danke. Ich bleibe hier bei meinem Patienten. Ich bin seine Pflegerin“, beharrte Christin.
„Sind Sie sicher? Hier sind schon mehrere Nonnen umgekippt“, warnte er.
„Nein, nein, Sie können ganz beruhigt sein. So zimperlich bin ich nicht“, gab sie lächelnd, jedoch standhaft zurück. „So ein harmloses CT bringt mich nicht um.“
Dr. Porter blickte nochmals in ihr Gesicht und dachte bei sich: Von dieser Schwester würde ich auch gern gepflegt werden. Da würde ich sogar die Querschnittslähmung hinnehmen, wenn ich so ein wunderschönes junges Mädchen an meiner Seite hätte.
Zwei andere Pfleger kamen und brachten Brandon zum CT. Christin eilte ihnen nach. Sie verfolgte die Untersuchung sehr genau. Danach erklärte der Arzt ihr die Bilder im Computer.
„Sehen Sie Schwester, hier sind drei Lendenwirbel. Der vierte, fünfte und sechste. Genau zwischen diesen drei Wirbeln sieht man eine Blutung.“
„Können Sie ihn operieren?“, wollte sie sogleich erfahren.
„Hier kann ich ihn leider nicht operieren“, antwortete Dr. Porter.
„Warum nicht? So etwas muss doch sofort behandelt werden“, widersprach sie.
„Ja, schon“, wand sich der Mediziner. „Ich sehe, Sie kennen sich aus. Aber wir sind für solche komplizierten Operationen nicht ausgestattet.“ Er warf erneut einen Blick auf die Bilder. „Außerdem bemerke ich hier noch eine alte Verletzung, die auch noch nicht behoben wurde. An so etwas wage ich mich nicht heran. Das muss ein sehr guter Spezialist operieren“, erklärte er ihr. Der Arzt bedachte Brandon mit einem bedauernden Blick, wandte sich ab und verschwand in ein angrenzendes Arztzimmer. Christin folgte ihm. Sie wich nicht von seiner Seite.
„So wie ich feststellen muss, sind Sie jedenfalls kein Spezialist. Ich bin froh darüber, dass Sie das zugeben und nicht einfach selbst einen Versuch die Verletzung zu beheben starten, denn dabei könnte mehr Schaden angerichtet werden als dass ihm geholfen würde. Aber Sie können ihn doch nicht einfach so liegen lassen. Bitte, Sie müssen etwas unternehmen“, flehte sie ihn an. „Wenn Sie einen solchen Spezialisten im Haus haben, dann wecken Sie ihn doch oder rufen Sie ihn an, dass er kommt. Diese Verletzung kann nicht auf die lange Bank geschoben werden.“
„Was soll ich tun? Jetzt ist es mitten in der Nacht! Vor heute früh acht Uhr können wir nichts unternehmen“, wich er aus.
„Dann ist es aber zu spät!“, schrie Christin entrüstet. Sie wunderte sich selbst über sich, was sie hier tat.
„Mein Patient sagte mir, dass er seine Beine und Füße wieder spüre. Sollen denn die ganzen Nerven nun vollends zerstört werden?“ Die kleine Nonne war außer sich ob diesem sturen und tatenlos zusehenden Arzt. „Also wissen Sie, ein Buschkrankenhaus ist besser ausgerüstet, als Sie hier mit diesem chirurgischen Krankenhaus in so einer Großstadt!“
Er blickte sie völlig entgeistert an, was sie da von sich gab. „Wie bitte?“
„Ja, legen Sie nur die Ohren an. Ich habe mich erkundigt, denn einst wollte ich in so einem Buschkrankenhaus einmal arbeiten.“, ließ sie ihn wissen.
„Sind Sie jetzt fertig?“, bremste er die aufgebrachte Nonne.
„Vielleicht? Aber vielleicht fällt mir noch etwas ein, worüber ich weitere Kritik üben könnte“, gab sie ihm zur Antwort. Und Gordon kann mir im Moment auch nicht helfen, ging es ihr durch den Kopf. Sie drehte sich um und verließ das Arztzimmer. Sie entfernte sich ein kurzes Stück, dann verhielt sie plötzlich den Schritt. Mit Schwung drehte sie sich um, so dass der Habit um ihre Beine flog. Ja, natürlich, Gordons Bruder, der ist Spezialist für Wirbelsäulenverletzungen und besitzt in Clearwater eine eigene Klinik, die er leitet, erinnerte sie sich.
Dr. Porter nahm gerade den Telefonhörer in die Hand.
„Ich lasse den Patienten einstweilen auf die Chirurgie verlegen“, ließ er sie wissen.
„Halt, nein, das tun Sie bitte nicht!“ Christin drückte seine Hand mit dem Hörer wieder auf die Gabel. „Bitte, helfen Sie ihm“, flehte sie erneut.
„Und wie, liebe Schwester?“, bemerkte er genervt, drehte sich mit dem Drehstuhl zu ihr um und blickte sie über den Brillenrand an.
„Indem Sie ihn mit dem Hubschrauber nach Clearwater fliegen lassen und in das St. Elisabeth Hospital bringen. Dort weiß ich einen Spezialisten, Dr. Kevin Spencer. Er fiel mir gerade ein“, teilte sie ihm mit.
Da der Arzt immer noch zögerte, äußerte sie sich entsetzt: „Jetzt sagen Sie bloß, es gibt hier auch keinen Rettungshubschrauber, oder?“
„Oh, ja, ja, aber natürlich“, beeilte er sich zu antworten. Ihm verschlug es regelrecht die Sprache. Diese kleine Nonne wusste doch ganz genau, was sie wollte.
„Ja, reden Sie nicht lange herum. Tun Sie’s einfach und zwar schnell. Wir haben nur dieses kleine Zeitfenster zur Verfügung!“, brachte sie den Arzt auf Trapp.
Er überlegte kurz, dann richtete er sich auf. „Gut, Schwester, ich werde Dr. Spencer sofort informieren und alles weitere veranlassen. Ist Ihnen das recht so?“, dabei richtete er seinen Blick auf sie.
„Ja, danke, vielen Dank“, hauchte Christin und ging hinaus zu Brandon.
Der hatte natürlich alles mitbekommen. Er streckte ihr seine Hände entgegen.
„Christin, du bist wirklich ein Engel. Danke, tausendfachen Dank für deinen Einsatz. Ich bin so froh, dass du bei mir bist“, gestand er ihr.
„Eigentlich müsste ich das jetzt der Mutter Oberin beichten“, überlegte sie leise.
„Warum? Du hast dich für mich, für mein Leben und meine Gesundheit eingesetzt“, widersprach Brandon.
„Ja, das schon, aber eine Ordensschwester darf nicht so überlegen einem Arzt gegenüber auftreten. Sie hat sich ruhig im Hintergrund zu halten. Ich hätte jetzt bestimmt fünfzig Vaterunser zu beten bekommen“, erklärte sie.
„Die erlasse ich dir. Bete lieber dafür, dass ich noch etwas für meine Schmerzen bekomme, bevor wir starten“, raunte er ihr zu. „Der Arzt ist ein Nachtwächter. Er hätte längst nachsehen können, wo sich eine geeignete Spezialklinik für solche Sachen befindet, wenn er es schon nicht von sich aus weiß“, schimpfte er. „Der würde mich hier glatt verschimmeln lassen.“
Endlich bekam Brandon eine neue Infusion mit Schmerzmedikament. Christin erhielt alle Aufnahmen vom CT und Dr. Porters Diagnose mit Befund. Zwei Pfleger kamen und brachten sie mit dem Aufzug hinauf auf das Dach des Krankenhauses. Dort wartete bereits der Hubschrauber. Die Ordensschwester war noch nie zuvor mit einem solchen Gerät geflogen. Ihr gruselte ein wenig. Tapfer schüttelte sie jedoch ihr Unbehagen ab und stieg mit ein. Der Lärm der Motoren steigerte sich, als der Hubschrauber abhob. Brandon bemerkte Christins Ängste an ihrer steifen Körperhaltung und den starren Gesichtszügen. Er tastete nach ihrer Hand, die sich kalt und feucht anfühlte.
„Engelchen, hab keine Angst. Hubschrauber sind sehr sicher. Ohne ihn würde ich viel zu spät nach Clearwater kommen“, versuchte er sie zu beruhigen.
Beklommen nickte sie.
Sie flogen eine knappe Stunde, dann erreichten sie ihren Zielort. Hier wurden sie gleich von vier Pflegekräften empfangen. Sie brachten Brandon sofort in den Vorbereitungsraum. Dr. Kevin Spencer, ein großgewachsener Mann um die vierzig Jahre, mit bereits grauen Fäden im dunklen Haar und leichtem Bauchansatz, begrüßte seinen neuen Patienten und die Ordensschwester. Er nahm die Papiere entgegen und sah sie anschließend gleich durch. Christin fand Gordons Bruder sehr sympathisch. Sein Gesicht strahlte noch eine erfrischende Jugendlichkeit aus, obwohl er um einige Jahre älter als Gordon war. In dieser Klinik fühlte sich Christin auf seltsame Weise sofort heimisch. Vom Pflegepersonal wurde sie überall herzlich begrüßt. Man bot ihr Kaffee und Essen an. Anscheinend wohl, weil sie so blass und müde wirkte. Der Arzt begutachtete die Aufnahmen vom CT äußerst genau. Christin saß draußen vor dem Operationssaal auf einer schlichten Holzbank. Im spärlich beleuchteten Gang erkannte sie eine von der Decke hängende Uhr, deren Sekundenzeiger bei jeder Fortbewegung ein kleines tickendes Geräusch verursachte. Das lullte sie langsam ein, trotz des Kaffees. Die Uhr zeigte soeben die volle Stunde an: fünf Uhr. In diesem Moment rollten sie Brandon in den Operationssaal. Christin holte ihr Gebetbuch hervor und betete eine Zeitlang. Dann stand sie auf, um sich die Beine etwas zu vertreten. Sie sah zum Flurfenster hinaus und wartete auf den Sonnenaufgang. Doch stattdessen zogen schwarze Wolken auf und es entlud sich ein heftiges Gewitter. Eine wahre Sintflut ergoss sich über das Land. Sie kehrte wieder zu ihrem einsamen Platz auf der Bank zurück. Der Regen, der an das Fenster klatschte und der Sekundenzeiger der Fluruhr sorgten dafür, dass sie schläfrig wurde. Schließlich hatte sie inzwischen seit sechsundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen. Die Augen fielen ihr zu und sie rutschte zur Seite. Die Bank war sehr schmal und Christins Lage dementsprechend unbequem, doch der Schlaf übermannte sie einfach. Dort fand sie um zwölf Uhr mittags der Professor.