- -
- 100%
- +
Nicht weniger als die Romantik beeinflußt die schottische Moralphilosophie die Entstehung einer Medizin des menschlichen Geistes, der Psychiatrie. Das gilt für die theoretische Rechtfertigung der Besonderheit eines solchen wissenschaftlichen Bereichs ebenso wie für die Entwicklung einer pragmatisch-menschenfreundlichen Haltung der Ärzte dem Gegenstand ihrer Wissenschaft, den Irren, gegenüber und nicht minder für die Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion der Psychiatrie. Wie der Romantik, so ist auch der schottischen Philosophie ein doppelter Protest immanent. Sie ist skeptisch gegenüber der Metaphysik, aber auch gegenüber dem Sensualismus. Sie wendet sich gegen die Absolutheit äußerer Autorität und will sie doch – nach dem Kriterium der Nützlichkeit – erhalten wissen. Das heißt, sie vertraut nicht einer sich aus den Bewegungen der bürgerlichen Gesellschaft von selbst ergebenden Autorität, sondern hält an der Tradition als Basis einer kontinuierlichen Entwicklung, eines naturwüchsigen Fortschritts fest. »Ihre Kritik hält sich im Einklang mit dem Konservatismus der Naturgeschichte selbst.«103 Mit der Überlegenheit des Herzens über den Kopf, der Bestimmung der sozialen Tugend der »sympathy«, knüpfen die Schotten an Shaftesbury an, ebenso mit dem »common sense«, der ursprüngliche und natürliche Urteile und damit gesellschaftliches Dasein ermöglicht: »They serve to direct us in the common affairs of life, where our reasoning faculty would leave us in the dark.«104 Freilich subjektivieren sie den »common sense«; er hat nicht mehr den medizinisch im Organismus bestimmbaren Ort wie bei Willis, bleibt nur per analogiam auf die Natur bezogen. Relativ abgelöst von ihr konstituiert »common sense« einen Bereich subjektiver Evidenz. Die schottische Philosophie »setzte an die Stelle von Erkenntnis im eigentlichen Sinne ein pragmatisch bestimmtes Vertrauen auf die Gültigkeit des ›gesunden Menschenverstandes‹ und darauf, daß die Wahrheit immer in der Mitte liege. [...] Der common sense war gewissermaßen ein statistisches Mittleres aller in der Welt vorkommenden Überzeugungen«.105 Es wird hier der Versuch unternommen, unmittelbar zu Aussagen über psychische und soziale Gegebenheiten zu gelangen, nur noch indirekt bezogen auf Kopf und Körper, auf rationale Erkenntis und Natur.
So finden wir schon Hutcheson um denselben Nachweis bemüht, den auch Battie, Arnold und Whytt anstrebten: daß es im menschlichen Subjekt einen Bereich gibt, in dem rational Durchschaubares und moralisch Beurteilbares eigenständig wird und gleichsam mit der Macht einer zweiten Natur agiert, gegen die der rationale Korrekturversuch ohnmächtig ist, ja nur noch der Rationalisierung dient: »... and commonly beget some secret Opinions to justify the Passions«.106 Dies ist für Th. Reid bereits so selbstverständlich, daß er für sein Vorhaben – »anatomy of the mind«, »analysis of the human faculties« – nur die Introspektion in den eigenen Geist zuläßt. Aber auch diese komme, als Reflexion, immer zu spät, um den Berg der anerzogenen Vorurteile bis auf die »simple and original principles of the Constitution« abzutragen.107 Von hier aus zeichnen sich Wege ab, diese Art Psychologie für die Medizin nutzbar zu machen. Für J. Gregory, Professor der Philosophie und dann der Medizin in Aberdeen, ist das möglich über eine »comparative Animal Oeconomy of Mankind and other Animals«; denn in Übereinstimmung mit Whytt ist der Instinkt, im Gegensatz zur Vernunft, ein untrügliches Prinzip für den Menschen und eine sichere Basis für sein psychologisches Verständnis. Die guten, natürlichen Instinkte der Tiere und der Wilden sind für Gregory das Kriterium dafür, daß diese auch beim Menschen zu trennen sind vom »depraved and unnatural State, into which mankind are plunged«. Man sieht: nicht nur von Richardson, auch aus Schottland führen Wege zur Zivilisationskritik Rousseaus. Durch praktische Anwendung solcher »vergleichenden Beobachtung« wird namentlich die Psychiatrie zu einer »progressive art«, da »intimate knowledge of the Human Heart« und »employing one Passion against another« nur durchs Leben selbst, aber niemals durch ein Buch zu lehren ist.108 In der Tat zeigt gerade die Funktionalisierung der Hysterie, daß die Psychiatrie von Anfang an auch in jener Bewegung steht, die den Ursprung des Übels in dem sieht, was durch die Zivilisation und: die bürgerliche Gesellschaft der Natur künstlich hinzu- und zugefügt wird, und die umgekehrt den Anspruch abgibt, nicht durch exakte Wissenschaft, sondern durch Wissenschaft als Kunst diese Mißstände wieder an eine heile Natur anzunähern, die sich indessen zumeist unter der Hand in den Normbereich des »common sense« als bürgerlich-moralischer Natürlichkeit verwandelt. Wichtigste Erkenntnis des schottischen Philosophierens für die Psychiatrie: die (psychischen) Gesetze des Herzens und seiner Störungen bilden eine eigene Realität, die aber ebenso real ist wie die der körperlichen Natur: »Although the fears of these patients are generally groundless, yet their sufferings are real. [...] Disorders in the imagination may be as properly the object of a physician’s attention as a disorder of the body.« Auch Gregory sieht, daß mit den »armen Irren« und den bürgerlichen »nervous disorders« die psychische Medizin von ihrer Entstehung an in der Praxis zwei sozio-ökonomische Gruppen unterscheidet: »It is not unusual to find physicians treating these complaints with the most barbarous neglect, or mortifying ridicule, when the patients can ill afford to fee them ; while at the same time, among patients of higher rank, they foster them with the utmost care and apparent sympathy: there being no diseases, in the stile of the trade, so lucrative as these of the nervous kind.«109
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.