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»Beachten Sie am Schlusse diese gereizte Redewendung von der Formalität! Arme, arme Freundin meines ganzen Lebens! Ich bekenne, diese plötzliche Entscheidung, die das Schicksal trifft, hat mich niedergedrückt ... Ich bekenne, ich hoffte immer noch; aber jetzt tout est dit; ich weiß jetzt, daß alles zu Ende ist; c'est terrible. O wenn es doch diesen Sonntag gar nicht gäbe, sondern alles wie früher wäre: Sie würden zu mir kommen, und ich würde hier ...«
»Sie haben sich durch all die Gemeinheiten und Klatschereien, die Liputin heute vorgebracht hat, ganz aus dem ruhigen Geleise bringen lassen.«
»Mein Freund, Sie haben soeben mit Ihrem Freundesfinger einen andern wunden Punkt berührt. Diese Freundesfinger sind überhaupt erbarmungslos und manchmal unvernünftig, pardon; aber (werden Sie es glauben?) ich hatte dies alles, diese Gemeinheiten beinah vergessen, das heißt vergessen hatte ich sie durchaus nicht; aber die ganze Zeit über, während ich bei Lisa war, bemühte ich mich in meiner Dummheit, glücklich zu sein, und redete mir ein, daß ich glücklich sei. Aber jetzt ... o jetzt denke ich an diese großmütige, humane, gegen meine häßlichen Mängel so nachsichtige Frau; das heißt, sie ist nicht durchweg nachsichtig gewesen, aber was bin ich auch für ein Mensch mit meinem schwächlichen, häßlichen Charakter! Ich bin ja ein eigensinniges Kind und besitze den ganzen Egoismus eines Kindes, aber ohne dessen Unschuld. Sie hat mich zwanzig Jahre lang wie eine Kinderwärterin gepflegt, dieses arme ›Tantchen‹, wie Lisa sie so anmutig nennt ... Und auf einmal, nach zwanzig Jahren, will das Kind sich verheiraten, ›verheirate mich, verheirate mich!‹ sagt es und schreibt Brief auf Brief, und sie hat sich Essigumschläge gemacht, und ... und da hat es nun am nächsten Sonntag erreicht, was es wollte, und ist ein verheirateter Mann; es klingt komisch! ... Und warum habe ich denn selbst darauf bestanden und die Briefe geschrieben? Ja, das hatte ich noch vergessen zu sagen: Lisa ist entzückt von Darja Pawlowna; wenigstens sagt sie es; sie sagt von ihr: ›C'est un ange; sie versteckt es nur etwas.‹ Beide haben sie mir dazu geraten, sogar Praskowja ... übrigens hat mir Praskowja nicht dazu geraten. Oh, wieviel Gift liegt in dieser Frau Korobotschka verborgen! Und auch Lisa hat mir eigentlich nicht dazu geraten: ›Wozu wollen Sie eine Frau nehmen,‹ sagte sie; ›Sie haben doch an den gelehrten Genüssen genug.‹ Dazu lachte sie. Ich habe ihr ihr Lachen verziehen, weil ihr selbst nicht wohl ums Herz ist. Aber sie sagten beide: ›Ohne Frau können Sie nicht zurechtkommen. Die Jahre der Altersschwäche rücken bei Ihnen heran; da wird dann die Frau Sie betreuen‹, oder wie sie da sagten ... Ma foi, ich habe auch selbst in dieser ganzen Zeit, während ich hier mit Ihnen zusammensaß, bei mir gedacht, daß wohl die Vorsehung selbst sie mir beim Ausgange meiner stürmische Tage sendet, und daß sie mich betreuen wird, oder wie sie da sagten ... Enfin, sie ist in meiner Wirtschaft notwendig. Was herrscht bei mir für eine Unsauberkeit! Und sehen Sie nur: alles liegt herum; vorhin habe ich befohlen aufzuräumen, und nun liegt noch ein Buch auf der Erde! La pauvre amie hat sich immer darüber geärgert, daß es bei mir so unreinlich aussieht ... Oh, jetzt wird ihre Stimme hier nicht mehr ertönen! Vingt ans! Und sie haben, wie es scheint, anonyme Briefe erhalten, in denen steht, denken Sie nur, Nikolai habe sein Gut an Lebjadkin verkauft. C'est un monstre: et enfin, was für ein Mensch ist dieser Lebjadkin? Lisa hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu; nein, wie sie zuhörte! Ich habe ihr ihr Lachen verziehen; ich sah, mit was für einem Gesichte sie zuhörte, und ce Maurice ... ich möchte jetzt nicht an seiner Stelle sein, brave homme tout de même, aber etwas blöde; übrigens wünsche ich ihm alles Gute ...«
Er schwieg; er war müde und konfus, saß mit gesenktem Kopfe da und blickte mit matten Augen starr auf den Fußboden. Ich benutzte diese Pause und erzählte von meinem Besuche im Filippowschen Hause, wobei ich in scharfem, trockenem Tone meine Meinung dahin aussprach, daß Lebjadkins Schwester (die ich nicht gesehen hatte) tatsächlich einmal Nikolais Opfer geworden sein könne, in jener rätselhaften Periode seines Lebens, wie sich Liputin ausgedrückt hatte, und daß es sehr möglich sei, daß Lebjadkin aus irgendwelchem Grunde von Nikolai Geld empfange; das sei aber auch alles. Was die Klatschereien über Darja Pawlowna anlange, so sei das alles nur dummes Zeug, Verdrehungen des Schurken Liputin; wenigstens versichere das Alexei Nilowitsch mit großer Wärme, und es sei kein Grund vorhanden, diesem zu mißtrauen. Stepan Trofimowitsch hörte meinte Versicherungen mit zerstreuter Miene an, wie wenn ihn die Sache gar nichts anginge. Ich erwähnte bei dieser Gelegenheit auch mein Gespräch mit Kirillow und fügte hinzu, Kirillow sei vielleicht geistesgestört.
»Er ist nicht geistesgestört; aber er gehört zu den Menschen mit beschränktem Gesichtskreise,« murmelte er matt und anscheinend nur mit Überwindung. »Ces gens-là supposent la nature et la société humaine autres que Dieu ne les a faites et qu'elles ne sont réellement. Manche scherzen mit diesen Leuten; aber Stepan Werchowenski tut das jedenfalls nicht. Ich habe sie damals in Petersburg gesehen, avec cette chère amie (oh, wie habe ich diese Freundin damals gekränkt!), und habe mich nicht nur ihren Schimpfreden, sondern auch ihren Lobsprüchen gegenüber furchtlos bewiesen. Ich fürchte sie auch jetzt nicht; mais parlons d'autre chose ... ich habe, wie es scheint, schreckliche Dinge angerichtet; denken Sie sich: ich habe gestern einen Brief an Darja Pawlowna abgeschickt, und ... wie verwünsche ich mich nun deswegen!«
»Was haben Sie ihr denn geschrieben?«
»O mein Freund, Sie können mir glauben: es war alles ein Ausfluß edler Gesinnung. Ich teilte ihr mit, daß ich schon fünf Tage vorher an Nikolai geschrieben hätte, und zwar in demselben Sinne.«
»Jetzt verstehe ich!« rief ich erregt. »Und welches Recht hatten Sie, die beiden so miteinander zu konfrontieren?«
»Aber, mon cher, drücken Sie mich doch nicht vollständig zu Boden, und schreien Sie mich nicht so an; ich bin ja so schon zerquetscht wie ... wie eine Schabe; und ich glaube doch auch, daß meine ganze Handlungsweise durchaus edel ist. Nehmen Sie an, daß dort, en Suisse, wirklich etwas geschehen ist ... oder sich angebahnt hat. Da muß ich doch vorsichtshalber ihre Herzen befragen, damit ... enfin, damit ich ihren Herzen nicht hinderlich werde und ihnen wie ein Pfahl im Wege stehe ... Ich habe nur aus edler Gesinnung gehandelt.«
»O Gott, wie dumm haben Sie gehandelt!« entfuhr es mir unwillkürlich.
»Dumm, dumm!« fiel er ordentlich eifrig ein. »Das ist das Klügste, was Sie je gesagt haben; c'était bête, mais que faire, tout est dit. Ich werde ja doch unter allen Umständen heiraten, auch wenn ›fremde Sünden‹ vorliegen; also wozu brauchte ich da erst noch zu schreiben? Nicht wahr?«
»Sie kommen wieder auf dasselbe zurück!«
»Oh, jetzt lasse ich mich nicht durch Ihr Geschrei erschrecken; jetzt haben Sie nicht mehr jenen früheren Stepan Werchowenski vor sich; der ist begraben; enfin, tout est dit. Und warum machen Sie ein solches Geschrei? Einzig und allein deswegen, weil Sie selbst nicht heiraten und auf diese Art nicht in die Lage kommen, den bekannten Kopfschmuck zu tragen. Ärgert Sie diese Bemerkung wieder? Mein armer Freund, Sie kennen das Weib nicht; ich aber habe im Leben kaum etwas anderes getan als das Weib studiert. ›Wenn du die ganze Welt überwinden willst, so überwinde dich selbst!‹ Das ist der einzige gute Ausspruch, der einem andern, Ihnen ähnlichen Romantiker, Schatow, dem Bruder meiner künftigen Frau, gelungen ist. Gern nehme ich diesen Gedanken von ihm herüber. Nun, sehen Sie: auch ich bin bereit, mich selbst zu überwinden, und heirate; aber was werde ich statt der ganzen Welt erobern? O mein Freund, die Ehe ist der geistige Tod jeder stolzen Seele, jeder Unabhängigkeit. Das Eheleben wird mich verderben, mir die Energie rauben, mir den Mut benehmen, der guten Sache zu dienen; es werden Kinder kommen, die noch dazu möglicherweise nicht die meinigen sind, das heißt, die selbstverständlich nicht die meinigen sind: der Weise scheut sich nicht, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen ... Liputin hat mir heute geraten, mich vor Nikolai durch Barrikaden zu schützen; er ist dumm, dieser Liputin. Das Weib betrügt selbst das Auge, das alles sieht. Le bon Dieu wußte, als er das Weib schuf, gewiß, was er wollte; aber ich bin überzeugt, daß das Weib selbst ihn an der Ausführung seiner wahren Absicht gehindert und ihn dahingebracht hat, sie so zu schaffen, wie sie jetzt ist, und mit solchen Eigenschaften; wer würde sich sonst ohne Not so viele Mühe und Sorgen aufladen? Nastasja wird mir allerdings vielleicht wegen meiner Freidenkerei zürnen; aber ... Enfin, tout est dit.«
Er wäre nicht er selbst gewesen, wenn er es unterlassen hätte, ein billiges, freidenkerisches Späßchen zu machen, wie dergleichen damals en vogue waren; jedenfalls tröstete er sich jetzt durch ein solches Späßchen; aber der Trost hielt nicht lange vor.
»Oh, warum fällt nicht dieses Übermorgen, dieser Sonntag ganz fort!« rief er plötzlich, nunmehr in völliger Verzweiflung, aus. »Warum kann nicht wenigstens diese eine Woche ohne Sonntag sein, si le miracle existe? Nun, was würde es denn der Vorsehung ausmachen, aus dem Kalender diesen einen Sonntag auszustreichen, wärs auch nur, um den Atheisten ihre Macht zu zeigen et que tout soit dit! O wie habe ich sie geliebt! Zwanzig Jahre lang, ganze zwanzig Jahre lang, und niemals hat sie mich verstanden!«
»Aber von wem reden Sie denn?« fragte ich ihn erstaunt. »Auch ich verstehe Sie nicht.«
»Vingt ans! Und kein einziges Mal hat sie mich verstanden; oh, das ist hart! Und glaubt sie denn wirklich, daß ich aus Furcht, aus Not heirate? O welche Schmach! Tante, Tante, ich tue es um deinetwillen! Oh, möge sie es erfahren, diese Tante, daß sie die einzige Frau ist, die ich zwanzig Jahre lang angebetet habe! Das muß sie erfahren; sonst wird nichts daraus; sonst wird man mich nur mit Gewalt unter das schleppen können ce qu'on appelle la Krone.«
Ich hörte zum ersten Male dieses so energisch ausgesprochene Bekenntnis. Ich will nicht leugnen, daß ich die größte Lust hatte, laut loszulachen. Ich hatte unrecht.
»Nur er, nur er ist mir jetzt geblieben; er ist meine einzige Hoffnung!« rief er und schlug die Hände zusammen, wie wenn er plötzlich von einem neuen Gedanken überrascht wäre. »Jetzt wird nur er, mein armer Junge, mich retten und ... oh, warum kommt er nicht? O mein Sohn, o mein Peter! ... Ich verdiene zwar eher den Namen eines Tigers als den eines Vaters, aber ... laissez moi, mon ami: ich will mich ein bißchen hinlegen, um meine Gedanken zu sammeln. Ich bin so müde, so müde; und auch für Sie, glaube ich, ist es Zeit, schlafen zu gehen; voyez-vous, es ist schon zwölf Uhr ...«
Viertes Kapitel.
Die Lahme.
I.
Schatow benahm sich nicht eigensinnig und erschien infolge meines Zettels um zwölf Uhr bei Lisaweta Nikolajewna. Wir traten fast gleichzeitig ein; ich war ebenfalls gekommen, um meinen ersten Besuch zu machen. Sie saßen alle, das heißt Lisa, die Mama und Mawriki Nikolajewitsch, in dem großen Salon und stritten sich miteinander. Die Mama hatte verlangt, Lisa solle ihr einen bestimmten Walzer auf dem Klavier vorspielen; als diese aber den verlangten Walzer angefangen hatte, hatte die Mama behauptet, das sei nicht der richtige. Mawriki Nikolajewitsch war in seiner schlichten Aufrichtigkeit für Lisa eingetreten und hatte versichert, daß es wirklich eben jener Walzer sei; die Alte aber hatte vor Ärger angefangen zu weinen. Sie war krank und konnte nur mit Mühe gehen. Die Füße waren ihr geschwollen, und so hatte sie denn seit einigen Tagen nichts anderes getan als die übrigen durch ihre Launen gequält und mit ihnen Händel gesucht, trotzdem sie vor Lisa immer etwas Furcht hatte. Über unser Kommen freuten sie sich. Lisa wurde ganz rot vor Freude und sagte zu mir merci natürlich mit Bezug darauf, daß ich Schatow zum Kommen veranlaßt hatte; dann trat sie zu ihm hin und betrachtete ihn neugierig.
Schatow war linkisch an der Tür stehen geblieben. Nachdem sie ihm für sein Kommen gedankt hatte, führte sie ihn zur Mama.
»Dies ist Herr Schatow, über den ich schon mit Ihnen gesprochen habe, und dies ist Herr G***w, ein guter Freund von mir und von Stepan Trofimowitsch. Mawriki Nikolajewitsch ist gestern auch schon mit ihm bekannt geworden.«
»Und welcher von beiden ist der Professor?«
»Ein Professor ist überhaupt nicht da, Mama.«
»Aber du hast doch selbst gesagt, es werde ein Professor herkommen; gewiß ist es der,« sagte sie, indem sie nachlässig auf Schatow zeigte.
»Ich habe nie zu Ihnen gesagt, daß ein Professor zu uns kommen werde. Herr G***w ist Beamter, und Herr Schatow ist früher Student gewesen.«
»Student, Professor, das kommt doch auf eins heraus; die sind beide von der Universität. Du willst immer nur streiten. Der in der Schweiz trug einen Vollbart.«
»Mama nennt den Sohn von Stepan Trofimowitsch immer Professor,« sagte Lisa und führte Schatow nach dem andern Ende des Salons zu einem Sofa. »Wenn ihr die Füße geschwollen sind, ist sie immer so; Sie verstehen wohl: sie ist krank,« flüsterte sie Schatow zu und fuhr dabei fort, ihn und besonders den aufrechtstehenden Haarbüschel auf seinem Kopfe mit größtem Interesse zu betrachten.
»Sind Sie beim Militär?« fragte mich die Alte, der mich Lisa erbarmungslos überlassen hatte.
»Nein, ich bin Beamter ...«
»Herr G***w ist ein guter Freund von Stepan Trofimowitsch,« rief Lisa sogleich.
»Sind Sie bei Stepan Trofimowitsch angestellt? Der ist ja auch Professor?«
»Ach Mama, Sie träumen gewiß auch in der Nacht von Professoren!« rief Lisa ärgerlich.
»Ich habe auch schon bei Tage genug davon! Aber du mußt doch auch immer deiner Mutter widersprechen. Waren Sie hier, als Nikolai Wsewolodowitsch vor vier Jahren herkam?«
Ich antwortete bejahend.
»War da ein Engländer mit Ihnen zusammen hier?«
»Nein, es war keiner hier.«
Lisa lachte.
»Siehst du wohl, es ist gar kein Engländer dagewesen; also ist das Schwindel. Warwara Petrowna und Stepan Trofimowitsch schwindeln alle beide. Alle Menschen schwindeln.«
»Nämlich die Tante und Stepan Trofimowitsch«, sagte Lisa erklärend zu uns, »fanden gestern eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Nikolai Wsewolodowitsch und dem Prinzen Harry in Shakespeares Heinrich dem Vierten, und daher fragt Mama, ob kein Engländer dagewesen sei.«
»Wenn kein Harry da war, dann war auch kein Engländer da. Nikolai Wsewolodowitsch hat seine Tollheiten allein begangen.«
»Ich versichere Ihnen, daß Mama absichtlich so redet,« fand Lisa für nötig zu Schatow zur Erklärung zu sagen. »Sie weiß sehr gut mit Shakespeare Bescheid. Ich habe ihr selbst den ersten Akt des Othello vorgelesen; aber sie ist jetzt sehr leidend. Mama, hören Sie? Es schlägt zwölf; es ist Zeit, daß Sie Ihre Medizin einnehmen.«
»Der Doktor ist gekommen,« meldete das Stubenmädchen, das in der Tür erschien.
Die alte Dame stand auf und rief ihr Hündchen:
»Semirka, Semirka, komm mit mir mit!«
Das kleine, alte, häßliche Hündchen Semirka gehorchte indessen nicht, sondern kroch unter das Sofa, auf dem Lisa saß.
»Du willst nicht? Dann will ich dich auch gar nicht haben. Leben Sie wohl, mein Lieber; ich kenne Ihren Vor- und Vatersnamen nicht,« wandte sie sich an mich.
»Anton Lawrentjewitsch ...«
»Nun, es ist ganz gleich, ob ich es höre oder nicht; so etwas geht bei mir zum einen Ohre herein und aus dem andern hinaus. Sie brauchen mich nicht zu begleiten, Mawriki Nikolajewitsch; ich hatte nur Semirka gerufen. Ich kann ja, Gott sei Dank, noch allein gehen, und morgen will ich spazieren fahren.«
Ärgerlich verließ sie den Salon.
»Anton Lawrentjewitsch, unterhalten Sie sich solange mit Mawriki Nikolajewitsch; ich versichere Ihnen, daß Sie beide Gewinn davon haben werden, wenn Sie einander näher kennen lernen,« sagte Lisa und lächelte dem Offizier freundlich zu, dessen Gesicht unter ihrem Blick freudig aufleuchtete.
Es war weiter nichts zu machen; es blieb mir nichts übrig, als mich mit Mawriki Nikolajewitsch zu unterhalten.
II.
Zu meiner Verwunderung stellte es sich heraus, daß Lisaweta Nikolajewna mit Schatow tatsächlich nur über ein literarisches Unternehmen sprechen wollte. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte mir eingebildet, sie habe ihn zu irgendeinem andern Zwecke zu sich kommen lassen. Da wir, das heißt ich und Mawriki Nikolajewitsch, sahen, daß die beiden aus der Sache kein Geheimnis vor uns machten und ganz laut sprachen, so fingen wir an zuzuhören; dann wurden wir sogar zu Rate gezogen. Die ganze Sache bestand darin, daß Lisaweta Nikolajewna schon lange die Herausgabe eines ihrer Meinung nach nützlichen Buches plante, aber bei ihrer völligen Unerfahrenheit eines Mitarbeiters bedurfte. Der Ernst, mit welchem sie sich daran machte, Schatow ihren Plan auseinanderzusetzen, setzte mich geradezu in Erstaunen.
»Also auch eine von der modernen Richtung,« dachte ich; »sie scheint nicht umsonst in der Schweiz gewesen zu sein.«
Schatow hörte, den Blick auf den Boden geheftet, aufmerksam zu und bekundete nicht die geringste Verwunderung darüber, daß eine durch ganz andere Interessen in Anspruch genommene Dame der höheren Gesellschaftskreise sich mit solchen ihr anscheinend fernliegenden Dingen abgab.
Das literarische Unternehmen war von folgender Art. Es erscheinen in Rußland in den Hauptstädten und in der Provinz eine Menge von Zeitungen und anderen Journalen, und in ihnen wird täglich über eine Menge von Ereignissen berichtet. Das Jahr geht zu Ende, die Zeitungen werden überall entweder in Schränke gepackt oder beschmutzt und zerrissen oder zum Einwickeln und zu Nachtmützen verwendet. Viele der publizierten Tatsachen machen Eindruck und haften eine Weile im Gedächtnisse, werden aber dann im Laufe der Jahre vergessen. Viele Leute möchten sich dann gern über solche Dinge informieren; aber was ist es für eine Arbeit, in diesem Meere von Blättern etwas zu suchen, wenn man oft weder den Tag noch den Monat des betreffenden Ereignisses kennt? Wenn aber alle diese Tatsachen für ein ganzes Jahr in einem einzigen Buche nach einem bestimmten Plane und einer bestimmten Idee vereinigt würden, mit Inhaltsverzeichnissen und Hinweisungen, nach Monaten und Tagen geordnet, dann würde ein solches Sammelwerk eine vollständige Charakteristik des russischen Lebens für ein Jahr bieten können, auch wenn von allen Tatsachen, die sich wirklich begeben haben, nur ein verhältnismäßig sehr kleiner Teil veröffentlicht würde.
»Statt einer Menge von Blättern hätten wir dann ein paar dicke Bücher; das wäre alles,« bemerkte Schatow.
Aber Lisaweta Nikolajewna verteidigte ihren Gedanken mit Wärme, obwohl es ihr bei ihrer Unerfahrenheit Mühe machte sich auszudrücken. Es sollte nur ein einziges Buch werden, nicht einmal sehr dick, versicherte sie. Aber selbst wenn es dick würde, so würde es doch klar und übersichtlich sein; denn die Hauptsache sei die ganze Anlage und die Art, in der die Tatsachen dargestellt würden. Allerdings dürfe man nicht alles sammeln und abdrucken. Kaiserliche Erlasse, Verfügungen der Regierung, Anordnungen der Lokalbehörden, Gesetze, all das seien zwar sehr wichtige Tatsachen; aber in der beabsichtigten Ausgabe könnten derartige Tatsachen ganz fortgelassen werden. Man könne gar vieles fortlassen und sich auf eine Auswahl von Ereignissen beschränken, die für das sittliche individuelle Leben des Volkes, für die Individualität des russischen Volkes in einem bestimmten Zeitabschnitte mehr oder weniger charakteristisch wären. Natürlich könne allerlei aufgenommen werden: Kuriosa, Feuersbrünste, Spenden, gute und schlechte Handlungen aller Art, Aussprüche und Reden aller Art, vielleicht auch Nachrichten von Überschwemmungen, vielleicht auch einige Regierungsverfügungen; aber es müsse aus dem Gesamtmaterial nur das ausgewählt werden, was die betreffende Periode kennzeichne. Bei der Aufnahme müsse ein bestimmter Gesichtspunkt, eine bestimmte Absicht, eine bestimmte Idee maßgebend sein, eine Idee, die das Ganze, die ganze Sammlung durchleuchte. Und endlich müsse das Buch auch eine interessante, leichte Lektüre abgeben, ganz abgesehen von seiner Unentbehrlichkeit als Nachschlagewerk! Es würde das sozusagen ein Bild des geistigen, sittlichen, inneren russischen Lebens innerhalb eines ganzen Jahres sein. »Alle müssen es kaufen; das Buch muß ein weitverbreitetes Handbuch werden,« sagte Lisa nachdrücklich. »Ich sehe sehr wohl ein, daß dabei alles auf die Anlage ankommt, und deshalb wende ich mich an Sie,« schloß sie. Sie war sehr in Eifer geraten, und trotzdem sie sich nur unklar und unvollständig ausgesprochen hatte, begann Schatow doch sie zu verstehen.
»Also es wird etwas mit einer bestimmten Tendenz herauskommen, eine nach einer bestimmten Tendenz getroffene Auswahl von Tatsachen,« murmelte er, noch immer ohne den Kopf in die Höhe zu heben.
»Durchaus nicht; die Auswahl darf nicht tendenziös sein; eine Tendenz ist ausgeschlossen. Die einzige Tendenz muß die Unparteilichkeit sein.«
»Eine Tendenz wäre kein Schade,« versetzte Schatow, der nun in Bewegung kam; »und sie läßt sich auch nicht vermeiden, sobald man ans Auswählen geht. In der Auswahl der Tatsachen wird auch ein Hinweis darauf liegen, wie sie aufzufassen sind. Ihre Idee ist nicht übel.«
»Also ist ein solches Buch möglich?« fragte Lisa erfreut.
»Das muß man noch näher überlegen und erwägen. Es ist ein gewaltiges Unternehmen. Mit einemmal kann man es nicht durchdenken. Man muß erst Erfahrungen machen. Und auch wenn wir das Buch herausbringen, werden wir kaum schon den besten Modus erkannt haben. Vielleicht nach vielen Versuchen; aber der Gedanke wird sich durch die Eierschale hindurchpicken. Der Gedanke ist nützlich.«
Er hob endlich die Augen in die Höhe, und sie leuchteten sogar vor Vergnügen, so interessierte er sich für die Sache.
»Haben Sie sich das selbst ausgedacht?« fragte er Lisa freundlich und gewissermaßen, als ob er sich schämte.
»Das Ausdenken war nicht schwer; was schwer ist, das ist die Anlage,« erwiderte Lisa lächelnd. »Ich verstehe wenig von solchen Dingen und bin nicht sehr klug und verfolge nur das, was mir selbst klar ist ...«
»Sie verfolgen es?«
»Das ist wohl nicht der richtige Ausdruck?« fragte Lisa schnell.
»Man kann so sagen; ich habe nichts dagegen einzuwenden.«
»Schon als ich noch im Auslande war, habe ich mir gesagt, auch ich könnte irgendwie nützlich sein. Ich besitze eigenes Geld, das unnütz daliegt; warum sollte nicht auch ich für die gemeinsame Sache arbeiten? Zudem kam mir diese Idee auf einmal ganz von selbst; ich habe sie nicht mühsam ersonnen und freute mich sehr über sie; aber ich sah sogleich ein, daß ich ohne einen Mitarbeiter nichts würde ausrichten können, weil ich selbst nichts davon verstehe. Der Mitarbeiter wird natürlich zugleich Mitherausgeber des Buches werden. Wir wollen jeder die Hälfte beisteuern: Sie den Entwurf des Planes und die Arbeit, ich die erste Idee und die Mittel zur Herausgabe. Das Buch wird sich schon bezahlt machen!«
»Wenn wir die richtige Anlage finden, dann wird das Buch gehen.«
»Ich sage Ihnen von vornherein, daß ich es nicht des Gewinnes wegen tue; aber ich wünsche dem Buche sehr einen guten Absatz und werde auf den Gewinn stolz sein.«
»Nun, und wie soll ich mich bei der Sache beteiligen?«
»Ich fordere Sie ja auf, mein Mitarbeiter zu sein; wir machen halbpart. Sie sollen den Plan zur Anlage entwerfen.«
»Woher glauben Sie denn, daß ich imstande bin, einen solchen Plan zu entwerfen?«
»Man hat mir von Ihnen erzählt, und hier habe ich von Ihnen gehört ... ich weiß, daß Sie sehr klug sind und ... sich mit ernster Arbeit beschäftigen und ... viel denken; Peter Stepanowitsch Werchowenski hat in der Schweiz zu mir von Ihnen gesprochen,« fügte sie eilig hinzu. »Er ist ein sehr kluger Mensch, nicht wahr?«






