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Schatow sah sie mit einem schnellen, huschenden Blicke an, schlug dann aber sogleich die Augen nieder.
»Auch Nikolai Wsewolodowitsch hat mir viel von Ihnen gesagt.«
Schatow errötete plötzlich.
»Übrigens, hier sind schon einige Zeitungen,« fuhr Lisa fort, indem sie schnell ein bereitliegendes, zusammengebundenes Paket Zeitungen von einem Stuhle nahm. »Ich habe hier versuchsweise eine Anzahl von Tatsachen für die Sammlung ausgewählt, angestrichen und numeriert ... Sie werden ja sehen.«
Schatow nahm das Päckchen hin.
»Nehmen Sie es mit nach Hause, und sehen Sie es in Ruhe durch; wo wohnen Sie denn?«
»In der Bogojawlenskaja-Straße, im Filippowschen Hause.«
»Ach ja, ich weiß. Da wohnt ja wohl, wie es heißt, auch ein Hauptmann mit Ihnen, ein Herr Lebjadkin?« fragte Lisa in derselben raschen Art wie vorher.
Schatow saß mit dem Päckchen in der Hand eine volle Minute lang in derselben Haltung, wie er es hingenommen hatte, ohne zu antworten da und blickte zu Boden.
»Für diese Angelegenheiten müßten Sie sich einen andern aussuchen; ich werde Ihnen da nicht dienen können,« sagte er schließlich auffallend leise, fast flüsternd.
Lisa wurde dunkelrot.
»Von was für Angelegenheiten reden Sie? Mawriki Nikolajewitsch!« rief sie. »Bitte, geben Sie doch den gestrigen Brief her!«
Ich ging ebenfalls hinter Mawriki Nikolajewitsch her zum Tische hin.
»Sehen Sie einmal dies hier an!« wandte sie sich auf einmal an mich, indem sie in großer Aufregung den Brief auseinanderschlug. »Haben Sie je etwas Ähnliches gesehen? Bitte, lesen Sie es laut vor; ich möchte, daß es auch Herr Schatow hört.«
Mit nicht geringem Erstaunen las ich laut folgende Epistel:
»An das in jeder Hinsicht vollkommene Fräulein Tuschina.
Gnädiges Fräulein
Jelisaweta Tuschina!
Schön und allerliebst ist ja
Lisaweta Tuschina,
Wenn sie mit ihrem Verwandten auf dem Damensattel reitet geschwind
Und ihre Locken flattern im Wind,
Oder wenn sie mit ihrer Mutter in der Kirche kniet
Und man die Röte der andächtigen Gesichter sieht.
Dann geht nach den Freuden der Ehe mein Sehnen,
Und ich vergieße hinter ihr und ihrer Mutter Tränen.
Gedichtet von einem Ungelehrten
infolge einer Wette.
Gnädiges Fräulein!
Am meisten bedauere ich, daß ich nicht in Sewastopol einen Arm um des Ruhmes willen verloren habe; ich bin überhaupt nicht da gewesen, sondern war während des ganzen Feldzuges bei der Austeilung gemeinen Proviants tätig, was ich für unwürdig hielt. Sie sind eine Göttin des Altertums; ich aber bin ein Nichts und habe die Grenzenlosigkeit geahnt. Sehen Sie das Obige als Verse an; denn Verse sind dummes Zeug, und man darf in ihnen das sagen, was in Prosa für Dreistigkeit gilt. Kann die Sonne dem Infusionstierchen zürnen, wenn dieses an sie aus dem Wassertropfen schreibt, wo ihrer eine Menge vorhanden sind, wenn man durchs Mikroskop sieht? Sogar jener Verein bei der höchsten Gesellschaft in Petersburg, der gegen die großen Tiere so menschenfreundlich ist und mit den Hunden und Pferden Mitleid hat, verachtet das winzige Infusionstierchen und erwähnt es gar nicht, weil es so klein ist. Auch ich bin ein kleines Wesen. Der Gedanke an eine Ehe könnte humoristisch erscheinen; aber ich werde bald zweihundert frühere Seelen durch einen Menschenfeind besitzen, der Ihrer Verachtung wert ist. Ich kann vieles mitteilen und erbiete mich auf Grund von schriftlichen Beweisen sogar nach Sibirien. Verachten Sie meinen Antrag nicht. Das von dem Infusionstierchen Gesagte ist poetisch gemeint.
Hauptmann Lebjadkin, Ihr ergebenster
Freund und hat viel freie Zeit.«
»Das hat einer in der Betrunkenheit geschrieben und zugleich ein Taugenichts!« rief ich empört. »Ich kenne den Menschen.«
»Diesen Brief habe ich gestern erhalten,« sagte uns Lisa zur Erklärung; sie war rot geworden und sprach hastig. »Ich sah sofort selbst, daß er von einem Narren herrührt, und habe ihn Mama bis jetzt noch nicht gezeigt, um sie nicht noch mehr aufzuregen. Aber wenn er damit fortfahren sollte, so weiß ich nicht, wie ich mich verhalten soll. Mawriki Nikolajewitsch will hingehen und es ihm verbieten. Da ich Sie als meinen Mitarbeiter betrachte,« fuhr sie, zu Schatow gewendet, fort, »und da Sie in demselben Hause wohnen, so wollte ich Sie fragen, um beurteilen zu können, was noch weiter von ihm zu erwarten ist.«
»Er ist ein Trunkenbold und ein Taugenichts,« murmelte Schatow wie mit Überwindung.
»Ist er immer so dumm, wie?«
»O nein, wenn er nicht betrunken ist, ist er gar nicht so dumm.«
»Ich habe einen General gekannt, der genau ebensolche Verse schrieb,« bemerkte ich lachend.
»Sogar aus diesem Briefe ist zu ersehen, daß es ihm nicht an Verstand fehlt,« warf der schweigsame Mawriki Nikolajewitsch unerwartet dazwischen.
»Er lebt, wie es heißt, mit einer Schwester zusammen?« fragte Lisa.
»Ja, allerdings!«
»Und es wird gesagt, er tyrannisiere sie; ist das wahr?«
Schatow blickte Lisa wieder an, machte ein finsteres Gesicht und brummte: »Was kümmert es mich?« Dann ging er zur Tür.
»Ach, warten Sie doch!« rief Lisa erregt. »Wo wollen Sie denn hin? Wir haben ja noch so vieles miteinander zu besprechen ...«
»Worüber sollen wir denn noch reden? Ich werde Sie morgen benachrichtigen ...«
»Über das Wichtigste, die Druckerei. Sie können mir glauben, daß ich keinen Scherz treibe, sondern ernstlich etwas leisten will,« versicherte Lisa in immer wachsender Erregung. »Wenn wir uns dazu entschließen, das Buch herauszugeben, wo werden wir es dann drucken lassen? Das ist ja doch die wichtigste Frage; denn nach Moskau werden wir doch deswegen nicht reisen, und in einer hiesigen Druckerei ist die Herstellung einer solchen Ausgabe unmöglich. Ich habe mich schon längst dafür entschieden, eine eigene Druckerei einzurichten, wenn auch auf Ihren Namen, und Mama wird es sicherlich erlauben, vorausgesetzt, daß es auf Ihren Namen geschieht ...«
»Woher wissen Sie denn, daß ich mit dem Drucken Bescheid weiß?« fragte Schatow grimmig.
»Peter Stepanowitsch hat mir, als ich noch in der Schweiz war, ausdrücklich gesagt, Sie könnten eine Druckerei leiten und verständen sich auf dieses Metier. Er wollte mir sogar ein Briefchen an Sie mitgeben; aber ich habe es vergessen.«
In Schatows Gesicht ging, wie ich mich noch jetzt erinnere, eine auffällige Veränderung vor. Er blieb noch einige Sekunden stehen und ging auf einmal aus dem Zimmer.
Lisa wurde ärgerlich.
»Geht er immer so weg?« fragte sie, sich an mich wendend.
Ich zuckte die Achseln; aber plötzlich kehrte Schatow zurück, ging geradeswegs auf den Tisch zu und legte das Zeitungspaket, das er mitgenommen hatte, darauf.
»Ich werde nicht Ihr Mitarbeiter sein; ich habe keine Zeit ...«
»Warum denn nicht? Warum denn nicht? Es scheint, daß Sie etwas übelgenommen haben?« fragte Lisa in betrübtem, bittendem Tone.
Dieser Ton schien auf ihn Eindruck zu machen; ein paar Augenblicke sah er sie unverwandt an, wie wenn er geradezu in ihre Seele hineinschauen wollte.
»Ganz gleich!« murmelte er leise. »Ich will nicht ...«
Damit ging er endgültig fort. Lisa war ganz bestürzt, anscheinend sogar mehr, als es die Sache verdiente; wenigstens hatte ich diesen Eindruck.
»Ein höchst sonderbarer Mensch!« bemerkte Mawriki Nikolajewitsch laut.
III.
Sonderbar war er allerdings; aber die ganze Sache war doch außerordentlich unklar. Es mußte etwas dahinterstecken. Ich glaubte entschieden nicht an diese Herausgabe eines Buches; ferner dieser dumme Brief, in dem sehr deutlich eine Denunziation »auf Grund von schriftlichen Beweisen« offeriert wurde; über diesen Punkt aber hatten alle geschwiegen und es vorgezogen, von etwas ganz anderem zu sprechen. Dazu dann endlich noch diese Druckerei und der Umstand, daß Schatow plötzlich weggegangen war, gerade weil Lisa von der Druckerei zu reden angefangen hatte. Alles dies brachte mich auf den Gedanken, daß hier schon vor meinem Besuche etwas vorgegangen sei, wovon ich nichts wisse, daß ich mithin überflüssig sei und die ganze Sache mich nichts angehe. Auch war es Zeit, daß ich wegging: für einen ersten Besuch war ich schon lange genug dagewesen. Ich trat an Lisaweta Nikolajewna heran, um mich zu verabschieden.
Sie schien völlig vergessen zu haben, daß ich im Zimmer war, und stand immer noch in Gedanken versunken auf demselben Flecke am Tische; den Kopf hielt sie geneigt und blickte regungslos auf einen bestimmten Punkt im Teppich.
»Ah, Sie wollen auch gehen; auf Wiedersehen!« sagte sie in ihrem gewöhnlichen, freundlichen Tone. »Empfehlen Sie mich Stepan Trofimowitsch, und reden Sie ihm zu, recht bald zu mir zu kommen! Mawriki Nikolajewitsch, Anton Lawrentjewitsch geht fort. Entschuldigen Sie, Mama kann nicht kommen, um Ihnen Adieu zu sagen ...«
Ich ging hinaus und war schon die Treppe hinabgestiegen und vor die Haustür gelangt, als mich ein Diener einholte.
»Das gnädige Fräulein läßt Sie sehr bitten, noch einmal zurückzukommen.«
Ich fand Lisa nicht mehr in jenem großen Salon, wo wir soeben gesessen hatten, sondern in dem anstoßenden Empfangszimmer. Die Tür nach dem Salon, in welchem jetzt Mawriki Nikolajewitsch allein zurückgeblieben war, war vollständig zugemacht.
Lisa lächelte mich an; aber sie war blaß. Sie stand mitten im Zimmer, sichtlich unentschlossen und sichtlich mit sich kämpfend; aber auf einmal faßte sie mich bei der Hand und führte mich schweigend schnell ans Fenster.
»Ich will unverzüglich dieses Mädchen sehen,« flüsterte sie, indem sie einen leidenschaftlichen, energischen, ungeduldigen Blick auf mich richtete, der nicht den geringsten Widerspruch duldete. »Ich muß sie mit meinen eigenen Augen sehen und bitte Sie um Ihre Hilfe.«
Sie war ganz außer sich und in Verzweiflung.
»Wen wollen Sie sehen, Lisaweta Nikolajewna?« fragte ich erschrocken.
»Dieses Fräulein Lebjadkina, diese Lahme ... Ist es wahr, daß sie lahm ist?«
Ich war starr vor Erstaunen.
»Ich habe sie nie gesehen; aber ich habe gehört, daß sie lahm sei; noch gestern habe ich es gehört,« stammelte ich eilig und dienstfertig und ebenfalls flüsternd.
»Ich muß sie unbedingt sehen. Könnten Sie das noch heute so einrichten?«
Sie tat mir schrecklich leid.
»Das ist unmöglich; ich weiß absolut nicht, wie ich das machen sollte,« begann ich; »ich will zu Schatow gehen ...«
»Wenn Sie es nicht bis morgen einrichten können, so gehe ich selbst zu ihr, ganz allein; denn Mawriki Nikolajewitsch hat sich geweigert. Sie sind meine einzige Hoffnung; außer Ihnen habe ich niemanden; dummerweise habe ich mit Schatow gesprochen ... Ich bin überzeugt, daß Sie ein durchaus ehrenhafter Mann und vielleicht mir ergeben sind; machen Sie es doch möglich!«
Es wurde in mir der leidenschaftliche Wunsch rege, ihr in allem behilflich zu sein.
»Also ich werde es so machen,« sagte ich nach kurzer Überlegung: »ich will heute selbst hingehen und es unter allen Umständen durchsetzen, daß ich sie zu sehen bekomme! Darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort; nur müssen Sie mir erlauben, mich mit Schatow ins Einvernehmen zu setzen.«
»Sagen Sie ihm, daß es mein dringender Wunsch ist, und daß ich nicht länger warten kann, daß ich ihn aber soeben nicht zu täuschen gesucht habe. Er ist vielleicht deshalb weggegangen, weil er sehr ehrenhaft ist und es ihm mißfallen hat, daß ich ihn anscheinend zu täuschen suchte. Ich habe ihn nicht zu täuschen gesucht; ich will wirklich das Buch herausgeben und eine Druckerei gründen ...«
»Er ist ein ehrenhafter, durchaus ehrenhafter Mann,« bestätigte ich mit warmer Empfindung.
»Wenn es sich übrigens bis morgen nicht einrichten läßt, dann will ich selbst hingehen, mag daraus entstehen, was da will, und wenn es auch alle erfahren.«
»Vor drei Uhr kann ich morgen nicht bei Ihnen sein,« bemerkte ich nach einiger Überlegung.
»Also um drei Uhr? Also habe ich gestern bei Stepan Trofimowitsch richtig vermutet, daß Sie mir ein klein wenig ergeben sind?« sagte sie lächelnd, drückte mir eilig zum Abschiede die Hand und ging schnell zu dem alleingelassenen Mawriki Nikolajewitsch.
Als ich hinauskam, fühlte ich mich ganz niedergedrückt durch mein Versprechen und begriff gar nicht, was eigentlich vorgegangen war. Ich hatte eine Frau in wahrer Verzweiflung gesehen, so daß sie sich nicht davor gefürchtet hatte, sich durch ihr Vertrauen zu einem ihr fast ganz unbekannten Manne zu kompromittieren. Ihr weibliches Lächeln in einem für sie so schweren Augenblicke und der Hinweis darauf, daß sie schon gestern meine Gefühle bemerkt habe, gaben mir gewissermaßen einen Stich ins Herz; aber sie tat mir leid, sehr leid; das wars! Ihre Geheimnisse wurden für mich plötzlich etwas Heiliges, und wenn man sie mir sogar jetzt hätte enthüllen wollen, so hätte ich mir vermutlich die Ohren zugestopft und nichts weiter hören wollen. Ich ahnte nur etwas ... Und doch begriff ich gar nicht, auf welche Weise ich hier etwas ermöglichen könnte. Ja, ich wußte noch nicht einmal, was ich eigentlich ermöglichen sollte: eine Begegnung? Aber was für eine Begegnung? Und wie sollte ich die beiden zusammenbringen? Meine ganze Hoffnung beruhte auf Schatow, obgleich ich im voraus wissen konnte, daß er mir nicht behilflich sein werde. Aber dennoch eilte ich zu ihm.
IV.
Erst am Abend, es war schon sieben durch, traf ich ihn zu Hause. Zu meinem Erstaunen hatte er Besuch: Alexei Nilowitsch war bei ihm und noch ein mir nur wenig bekannter Herr, ein gewisser Schigalew, ein Bruder von Frau Wirginskaja.
Dieser Schigalew hielt sich schon seit zwei Monaten in unserer Stadt auf; ich wußte nicht, wo er hergekommen war; ich hatte über ihn nur gehört, daß er einen Aufsatz in einer fortschrittlichen Petersburger Zeitschrift habe drucken lassen. Wirginski hatte mich mit ihm gelegentlich auf der Straße bekannt gemacht. In meinem ganzen Leben habe ich nie einen Menschen mit so finsterem, mürrischem, verdrossenem Gesichte gesehen. Er sah aus, als erwarte er den Weltuntergang, und zwar nicht etwa irgendwann auf Grund von Prophezeiungen, die auch trügen könnten, sondern mit völliger Bestimmtheit, also zum Beispiel übermorgen vormittag um zehn Uhr und fünfundzwanzig Minuten. Wir hatten übrigens damals kaum ein Wort miteinander gewechselt, sondern einander nur wie zwei Verschwörer die Hand gedrückt. Am meisten waren mir an ihm die Ohren aufgefallen, die von unnatürlicher Größe, lang, breit und dick waren und in eigentümlicher Weise vom Kopfe abstanden. Seine Bewegungen waren ungeschickt und langsam. Wenn Liputin sich manchmal in Zukunftsträumereien darüber erging, daß die Fourierschen sozialistischen Phantasien sich in unserm Gouvernement verwirklichen würden, so wußte dieser aufs genaueste Tag und Stunde, wann das geschehen werde. Er machte mir einen unheimlichen Eindruck; ich war erstaunt, ihn jetzt bei Schatow zu treffen, um so mehr da Schatow Besuch überhaupt nicht gern bei sich sah.
Schon als ich noch auf der Treppe war, hörte ich, daß sie sehr laut sprachen, alle drei zugleich, und, wie es schien, miteinander stritten; aber sowie ich erschien, verstummten sie alle. Sie hatten stehend gestritten; nun aber setzten sie sich auf einmal alle hin, so daß auch ich mich setzen mußte. Das dumme Stillschweigen wurde etwa drei volle Minuten lang nicht unterbrochen. Obgleich Schigalew mich wiedererkannte, tat er doch, als kenne er mich nicht, und das tat er gewiß nicht aus Feindschaft, sondern ohne besonderen Grund. Mit Alexei Nilowitsch begrüßte ich mich leichthin, aber schweigend und ohne Händedruck. Schigalew begann endlich, mich ernst und finster anzusehen, in dem sehr naiven Glauben, ich würde auf einmal aufstehen und hinausgehen. Schließlich erhob sich Schatow von seinem Stuhle, und alle andern sprangen plötzlich ebenfalls auf. Sie gingen hinaus, ohne Lebewohl zu sagen; nur sagte Schigalew, als sie schon in der Tür waren, zu Schatow, der ihnen das Geleit gab:
»Vergessen Sie nicht, daß Sie Rechenschaft schuldig sind.«
»Ich schere mich den Kuckuck um Ihre Rechenschaft und bin keinem Teufel etwas schuldig,« erwiderte Schatow und legte, als die beiden heraus waren, den Haken vor die Tür.
»Narren!« sagte er, indem er mich anblickte und das Gesicht zu einem schiefen Lächeln verzog.
Er sah zornig aus, und es kam mir ganz seltsam vor, daß er von selbst zu sprechen anfing. Gewöhnlich war früher der Hergang der gewesen: wenn ich zu ihm kam (was übrigens nur sehr selten geschah), so setzte er sich finster in eine Ecke, gab ärgerliche Antworten, wurde erst nach langer Zeit lebendig und begann dann mit Vergnügen zu reden. Dafür machte er beim Abschiede wieder jedesmal unfehlbar ein mürrisches Gesicht und entließ seinen Gast, wie wenn er sich einen persönlichen Feind vom Halse schaffte.
»Ich habe bei diesem Alexei Nilowitsch gestern Tee getrunken,« bemerkte ich. »Er scheint ja ein fanatischer Atheist zu sein.«
»Der russische Atheismus ist noch nie über die Witzelei hinausgekommen,« brummte Schatow, während er eine neue Kerze an Stelle des bisherigen Stümpfchens aufsteckte.
»Nein, dieser schien mir nicht auf Witzeleien auszugehen; er versteht nicht einmal einfach zu reden, geschweige denn Witze zu machen.«
»Es sind schlappe Kerle; das kommt alles von der lakaienhaften Denkweise,« bemerkte Schatow ruhig, setzte sich in eine Ecke auf einen Stuhl und stützte sich mit beiden Handflächen auf die Knie.
»Haß ist auch dabei,« sagte er, nachdem er etwa eine Minute lang geschwiegen hatte. »Sie würden die ersten sein, die kreuzunglücklich wären, wenn Rußland plötzlich auf irgendwelche Weise umgestaltet würde, selbst nach ihren Wünschen, und auf einmal unermeßlich reich und glücklich würde. Dann hätten sie niemand, den sie hassen und verhöhnen könnten, nichts, worüber sie spotten könnten! Bei ihnen ist nur ein tierischer, grenzenloser Haß gegen Rußland zu finden, der sich in ihren Organismus hineingefressen hat ... Und von Tränen hinter dem sichtbaren Lachen, von ›Tränen, die die Welt nicht sieht‹, ist bei ihnen nicht die Rede! Noch nie ist in Rußland etwas Verlogeneres gesagt worden als dieses Wort von den ungesehenen Tränen!« rief er beinah wütend.
»Nun, nun, Sie sind ja aber ganz wild!« sagte ich lachend.
»Und Sie sind ein ›gemäßigter Liberaler‹,« erwiderte Schatow lächelnd. »Wissen Sie,« fügte er plötzlich hinzu, »ich habe den Ausdruck ›lakaienhafte Denkweise‹ vielleicht falsch gegriffen; Sie werden mir gewiß sofort sagen: ›Du selbst bist als Sohn eines Lakaien geboren; aber ich für meine Person bin kein Lakai.‹«
»Das wollte ich durchaus nicht sagen ... Was reden Sie da!«
»Entschuldigen Sie sich nicht; ich fürchte Sie nicht. Früher war ich nur der Sohn eines Lakaien; aber jetzt bin ich selbst ein Lakai geworden, ein ebensolcher wie Sie. Unser russischer Liberaler ist vor allen Dingen ein Lakai und lauert nur darauf, jemandem die Stiefel zu putzen.«
»Was für Stiefel? Was ist das für ein bildlicher Ausdruck!«
»Das ist gar kein bildlicher Ausdruck! Ich sehe, Sie lachen ... Stepan Trofimowitsch hat ganz recht, wenn er sagt, daß ich zusammengequetscht, aber noch nicht totgedrückt unter einem Steine liege und mich winde; das ist ein sehr treffender Vergleich von ihm.«
»Stepan Trofimowitsch behauptet, daß Sie in die Deutschen vernarrt seien,« bemerkte ich lachend. »Und wir haben ja auch viel geistiges Eigentum der Deutschen in unsere Tasche gesteckt.«
»Zwanzig Kopeken haben wir von ihnen genommen und hundert Rubel eigenes Geld hingegeben.«
Etwa eine Minute lang schwiegen wir beide.
»Diese Anschauungsweise hat er sich zu eigen ge macht, als er in Amerika dalag.«
»Wer? Wieso dalag?«
»Ich meine Kirillow. Ich und er haben da vier Monate lang in einer Hütte auf dem Fußboden gelegen.«
»Sind Sie denn in Amerika gewesen?« fragte ich verwundert. »Sie haben ja nie davon gesprochen.«
»Was ist davon zu erzählen? Vor zwei Jahren fuhren wir zu dreien auf einem Auswandererdampfer für unser letztes Geld nach den Vereinigten Staaten, ›um an uns das Leben eines amerikanischen Arbeiters zu erproben und auf diese Art durch ein am eigenen Leibe vorgenommenes Experiment den Zustand des Menschen in seiner schlimmsten sozialen Stellung zu konstatieren‹. In dieser Absicht begaben wir uns dorthin.«
»Herrgott!« rief ich lachend; »da hätten Sie nur in unserem Gouvernement zur Erntezeit irgendwohin als Arbeiter zu gehen brauchen, um das durch ein Experiment am eigenen Leibe zu erproben; die Fahrt nach Amerika konnten Sie sich sparen!«
»Wir verdingten uns da als Arbeiter bei einem Unternehmer; Russen waren wir insgesamt sechs Mann: Studenten, sogar Gutsbesitzer, die eigene Güter hatten, sogar Offiziere, und alle mit demselben großartigen Ziele. Nun, wir arbeiteten und quälten uns, daß wir ganz herunterkamen; schließlich gingen Kirillow und ich weg; wir waren krank geworden und konnten es nicht mehr aushalten. Der Unternehmer übervorteilte uns gehörig bei der Abrechnung: statt der kontraktmäßigen dreißig Dollar bezahlte er mir acht und ihm fünfzehn; auch waren wir dort wiederholt geprügelt worden. Na, da lagen wir denn, Kirillow und ich, ohne Arbeit in einem kleinen Städtchen vier Monate hintereinander auf dem Fußboden; er hing seinen Gedanken nach und ich den meinigen.«
»Hat der Unternehmer Sie wirklich geprügelt? Geschieht so etwas in Amerika? Na, aber gewiß hatten Sie ihn geschimpft!«
»Durchaus nicht. Im Gegenteil, Kirillow und ich waren sogleich zu der Einsicht gekommen, daß ›wir Russen den Amerikanern gegenüber kleine Kinder sind, und daß man in Amerika geboren sein oder wenigstens lange Jahre mit den Amerikanern zusammengelebt haben muß, um mit ihnen auf gleichem Niveau zu stehen‹. Ja, wenn man uns für einen Gegenstand, der eine Kopeke wert war, einen Dollar abverlangte, so zahlten wir ihn nicht nur mit Vergnügen, sondern sogar mit Begeisterung. Wir lobten alles: den Spiritismus, das Lynchgesetz, die Revolver, die Vagabunden. Einmal fuhren wir auf der Bahn, da griff einer in meine Tasche, zog meine Haarbürste heraus und bürstete sich damit; Kirillow und ich wechselten nur einen Blick miteinander und sagten uns im stillen, daß dieses Benehmen in der Ordnung sei und uns sehr gefalle ...«
»Sonderbar, daß bei uns mancher sich den Gedanken an ein solches Experiment nicht nur durch den Kopf gehen läßt, sondern ihn auch zur Ausführung bringt.«
»Aber die meisten sind schlappe Kerle,« sagte Schatow noch einmal.
»So über den Ozean zu fahren, auf einem Auswandererschiffe, nach einem unbekannten Lande, mit der Absicht, ›durch ein am eigenen Leibe vorgenommenes Experiment zu erfahren‹ und so weiter: darin liegt doch wirklich eine hochsinnige Festigkeit ... Aber wie sind Sie denn von dort zurückgekommen?«
»Ich schrieb an jemand in Europa, und er schickte mir hundert Rubel.«
Schatow hatte, während er sprach, die ganze Zeit über nach seiner Gewohnheit hartnäckig auf die Erde geblickt, selbst wenn er in Eifer geriet. Nun hob er auf einmal den Kopf in die Höhe:
»Wollen Sie den Namen des Menschen wissen?«
»Wer war es denn?«
»Nikolai Stawrogin.«
Er stand plötzlich auf, wandte sich zu seinem Schreibtische aus Lindenholz und begann auf ihm herumzukramen. Bei uns ging ein dunkles, aber glaubwürdiges Gerücht, daß seine Frau eine Zeitlang in Paris ein Verhältnis mit Nikolai Stawrogin gehabt habe, und zwar gerade vor zwei Jahren, also als Schatow in Amerika war, allerdings schon lange, nachdem sie ihn in Genf verlassen hatte. »Wenn es so steht, wie kommt er dann jetzt auf den Einfall, den Namen zu nennen und von der Geschichte zu reden?« dachte ich.
»Ich habe sie ihm bis jetzt noch nicht zurückgegeben,« sagte er, indem er sich wieder zu mir wandte; dann setzte er sich, mich unverwandt ansehend, auf seinen früheren Platz in der Ecke und fragte kurz in ganz anderem Tone: