- -
- 100%
- +
Alle Mitglieder unseres Vereins waren gleich zu Anfang offiziell benachrichtigt worden, daß Stepan Trofimowitsch eine Zeitlang niemanden empfangen werde und bitte, ihn vollständig in Ruhe zu lassen. Er hatte auf einer Mitteilung an jeden einzelnen bestanden, obwohl ich ihm davon abgeraten hatte. Auf seine Bitte ging ich bei allen herum und sagte ihnen, Warwara Petrowna habe unserm »Alten« (so nannten wir alle Stepan Trofimowitsch unter uns) eine besondere Arbeit aufgetragen, nämlich eine mehrjährige Korrespondenz in Ordnung zu bringen; er habe sich eingeschlossen, und ich sei ihm dabei behilflich usw. usw. Nur zu Liputin war ich noch nicht gegangen und schob dies immer auf; richtiger gesagt, ich fürchtete mich davor, zu ihm hinzugehen. Ich wußte vorher, daß er mir kein Wort glauben, sondern unfehlbar denken werde, es stecke da ein Geheimnis dahinter, das man gerade vor ihm allein verbergen wolle, und daß er, sowie ich von ihm weggegangen sein würde, sogleich durch die ganze Stadt laufen werde, um sich zu erkundigen und es weiterzuklatschen. Während ich all das bei mir bedachte, traf es sich, daß ich mit ihm zufällig auf der Straße zusammenstieß. Es erwies sich, daß er von unseren Leuten, die durch mich soeben benachrichtigt waren, bereits alles erfahren hatte. Aber merkwürdig: er zeigte gar keine Neugier und erkundigte sich nicht weiter nach Stepan Trofimowitsch, sondern unterbrach mich sogar im Gegenteil, als ich mich entschuldigen wollte, daß ich nicht früher zu ihm gekommen wäre, und sprang sogleich auf ein anderes Thema über. Allerdings hatte sich bei ihm auch viel Gesprächsstoff angesammelt; er befand sich in sehr angeregter Stimmung und freute sich darüber, daß er an mir einen Zuhörer gefunden hatte. Er begann über die Stadtneuigkeiten zu reden, über die Ankunft der Frau Gouverneur, welche »neue Gesprächsthemata« mitgebracht habe, über die Opposition, die sich bereits im Klub bilde, über das Geschrei, das alle von den neuen Ideen machten, und wie dies den einzelnen stehe usw. usw. Er sprach in dieser Art etwa eine Viertelstunde, und so amüsant, daß ich mich nicht losreißen konnte. Obgleich ich ihn nicht leiden konnte, so muß ich doch bekennen, daß er die Gabe besaß, einen Zuhörer zu fesseln, besonders wenn er über etwas sehr aufgebracht war. Dieser Mensch war meiner Ansicht nach der richtige, geborene Spion. Er wußte in jedem Augenblicke die sämtlichen letzten Neuigkeiten und alle Geheimnisse unserer Stadt, namentlich die von skandalösem Genre, und man mußte sich darüber wundern, wie sehr er sich für Dinge interessierte, die ihn manchmal gar nichts angingen. Ich hatte von ihm immer den Eindruck, daß der Hauptzug seines Charakters der Neid sei. Als ich am Abend desselben Tages Stepan Trofimowitsch erzählte, daß ich am Morgen Liputin getroffen hätte, und was wir miteinander gesprochen hätten, da geriet dieser zu meinem Erstaunen in große Aufregung und fragte mich ganz wild: »Weiß Liputin es oder nicht?« Ich setzte ihm auseinander, daß es für jenen ein Ding der Unmöglichkeit sei, die Sache so schnell in Erfahrung zu bringen; von wem solle er auch etwas gehört haben; aber Stepan Trofimowitsch verblieb bei seiner Ansicht:
»Mögen Sie es nun glauben oder nicht,« schloß er unerwartet, »aber ich bin überzeugt, daß ihm nicht nur alles mit allen Einzelheiten über unsere« (so!) »Lage bereits bekannt ist, sondern daß er auch außerdem noch etwas weiß, was weder ich noch Sie bisher wissen, und was wir vielleicht niemals erfahren werden oder erst erfahren werden, wenn es schon zu spät ist und keine Umkehr mehr möglich ist! ...«
Ich schwieg; aber diese Worte enthielten doch viele Andeutungen. Nach diesem Gespräche taten wir ganze fünf Tage lang Liputins mit keinem Worte Erwähnung; es war mir klar, daß Stepan Trofimowitsch es sehr bedauerte, mir gegenüber einen solchen Verdacht geäußert und sich verplappert zu haben.
II.
Eines Morgens, nämlich am siebenten oder achten Tage, nachdem Stepan Trofimowitsch eingewilligt hatte, Bräutigam zu werden, gegen elf Uhr, als ich wie gewöhnlich zu meinem betrübten Freunde eilte, hatte ich unterwegs ein Erlebnis.
Ich begegnete Karmasinow, dem »großen Schriftsteller«, wie Liputin ihn nannte. Karmasinows Schriften hatte ich seit meiner Kindheit gelesen. Seine Novellen und Erzählungen sind der ganzen vorigen Generation und sogar noch der unsrigen bekannt; ich hatte mich an ihnen berauscht; ihre Lektüre war mir in meinem Knaben- und Jünglingsalter ein Genuß gewesen. Später war ich den Produkten seiner Feder gegenüber etwas kühler geworden; die Tendenznovellen, die er in der letzten Zeit geschrieben hatte, gefielen mir nicht mehr so gut wie seine ersten, ursprünglichen Schöpfungen, die soviel unmittelbare Poesie enthielten, und seine letzten Schriften gefielen mir gar nicht.
Wenn ich es wagen darf, über einen so heiklen Gegenstand auch meine Meinung zum Ausdruck zu bringen, so möchte ich allgemein Folgendes sagen. All diese unsere Herren Landsleute, die mit einem Talente mittlerer Sorte begabt sind, aber zu ihren Lebzeiten gewöhnlich beinah für Genies gehalten werden, verschwinden nicht nur mit ihrem Tode plötzlich und fast spurlos aus dem Gedächtnis der Menschen, sondern es kommt auch vor, daß sie schon bei ihren Lebzeiten unglaublich schnell von allen geringgeschätzt und vergessen werden, nämlich sobald eine neue Generation heranwächst und an die Stelle derjenigen tritt, zu deren Zeit sie gewirkt haben. Das vollzieht sich bei uns so plötzlich wie ein Dekorationswechsel im Theater. Oh, da geht es ganz anders zu als bei Männern wie Puschkin, Gogol, Molière, Voltaire und all diesen Großen, die vor die Welt hintraten, um Neues zu verkündigen! Auch das ist wahr, daß bei uns diese mit nur mittelmäßigem Talente begabten Herren sich gegen das Ende ihres an Ehren reichen Lebens gewöhnlich in der kläglichsten Weise ausschreiben, ohne es auch nur zu bemerken. Nicht selten dokumentiert ein Schriftsteller, dem man lange Zeit eine außerordentliche Tiefe der Ideen zugeschrieben und von dem man eine bedeutende, ernste Einwirkung auf die geistige Bewegung der Mitwelt erwartet hat, gegen das Ende seines Lebens eine solche Dürftigkeit und Kümmerlichkeit seines Fundamentalideechens, daß es niemand auch nur bedauert, daß er es fertiggebracht hat, sich so schnell auszuschreiben. Aber die grauhaarigen alten Herren bemerken das nicht und werden ärgerlich. Ihre Eitelkeit nimmt, namentlich gegen das Ende ihrer Laufbahn, mitunter erstaunliche Dimensionen an. Gott weiß, wofür sie sich dann zu halten anfangen, aber mindestens für Götter. Von Karmasinow erzählte man, daß ihm seine Beziehungen zu einflußreichen Leuten und zu den höchsten Gesellschaftskreisen fast wertvoller seien als sein eigenes Leben. Man erzählte von ihm, er empfangen diejenigen, die zu ihm kämen, freundlich, benehme sich gegen sie liebenswürdig, entzücke und bezaubere sie durch seine Gutherzigkeit, namentlich wenn er ihrer irgendwie bedürfe, und selbstverständlich wenn sie ihm vorher gut empfohlen seien. Aber sowie ein Fürst hereintrete oder eine Gräfin oder jemand, den er fürchte, halte er es für seine heiligste Pflicht, jene andern Besucher mit der beleidigendsten Geringschätzung wie Holzspänchen oder Fliegen unbeachtet zu lassen, und zwar sofort, ehe sie noch aus der Tür seien; das halte er in allem Ernste für den feinsten und besten Ton. Trotz seiner genauen Kenntnis und vollständigen Beherrschung der guten Umgangsformen sei er so eitel und empfindlich, daß er seine Reizbarkeit als Autor nicht einmal in denjenigen Gesellschaftskreisen verbergen könne, in denen man sich für die Literatur wenig interessiere. Wenn ihn aber zufällig jemand durch seine Gleichgültigkeit befremde, so fühle er sich tief gekränkt und suche sich zu rächen.
Vor einem Jahre habe ich in einer Zeitschrift einen Artikel von ihm gelesen, der gewaltige Ansprüche darauf erhob, naive Poesie und feine psychologische Beobachtungen zu enthalten. Er schilderte den Untergang eines Dampfers an der englischen Küste, bei dem er selbst Zeuge gewesen war und gesehen hatte, wie Untergehende gerettet und Ertrunkene herausgezogen wurden. Dieser ganze ziemlich lange und redselige Artikel war einzig und allein in der Absicht geschrieben, den Verfasser selbst in das rechte Licht zu stellen. Man konnte es ordentlich zwischen den Zeilen lesen: »Interessiert euch für meine Persönlichkeit; seht, wie ich mich in diesen Augenblicken benommen habe! Was kümmert euch das Meer, der Sturm, die Felsen, die zerbrochenen Planken des Schiffes? Ich bin es ja gewesen, der euch das alles in großartigem Stile geschildert hat! Wozu blickt ihr nach dieser ertrunkenen Frau mit dem toten Kinde in den toten Armen? Seht lieber mich an, wie ich dieses Schauspiel nicht ertragen konnte und mich von ihm abwandte! Ich drehte ihm den Rücken zu; ich war vor Angst nicht imstande zurückzublicken; ich kniff die Augen zu ... nicht wahr, das ist interessant?« Als ich Stepan Trofimowitsch meine Meinung über den Karmasinowschen Artikel mitteilte, stimmte er mir bei.
Als es nun vor kurzem bei uns hieß, Karmasinow werde in unsere Stadt kommen, da wurde natürlich bei mir ein starkes Verlangen rege, ihn zu sehen und, wenn möglich, seine Bekanntschaft zu machen. Ich wußte, daß sich dies durch Stepan Trofimowitschs Vermittlung erreichen ließ; denn die beiden waren früher einmal befreundet gewesen. Und da begegnete ich ihm nun plötzlich an einer Straßenkreuzung. Ich erkannte ihn sofort; er war mir erst drei Tage vorher gezeigt worden, als er in einer Equipage zur Frau Gouverneur fuhr.
Er war ein sehr kleiner, gezierter alter Herr, übrigens nicht über fünfzig Jahre alt, mit ziemlich frischem Gesichtchen, mit dichten, grauen Löckchen, die unter seinem Zylinderhute hervorquollen und sich um seine sauberen, rosafarbenen kleinen Ohren kräuselten. Sein sauberes Gesichtchen war nicht besonders hübsch, die Lippen schmal, lang und schlau zusammengekniffen, die Nase etwas fleischig; die kleinen Augen hatten einen scharfen, klugen Blick. Er war etwas altmodisch gekleidet und trug eine Art Mantel zum Umwerfen, wie man ihn in dieser Jahreszeit etwa in der Schweiz oder in Oberitalien trägt. Aber wenigstens alle kleineren Bestandteile seines Kostüms: die Hemdknöpfchen, der Chemisettkragen, die Rockknöpfe, die Schildpattlorgnette an einem schmalen, schwarzen Bande, der Ring am Finger, waren sämtlich von der Art, wie man sie bei Leuten von untadelhaft gutem Tone findet. Ich bin überzeugt, daß er im Sommer bestimmt in Halbstiefeln von farbigem Wollenstoff mit Perlmutterknöpfen an der Seite geht. Als wir zusammentrafen, blieb er an der Straßenecke stehen und sah mich aufmerksam an. Da er bemerkte, daß ich ihn neugierig betrachtete, fragte er mich mit einem süßlichen, wiewohl etwas kreischenden Stimmchen:
»Gestatten Sie die Frage: wie komme ich am nächsten nach der Bykowa-Straße?«
»Nach der Bykowa-Straße? Die ist hier gleich,« rief ich in großer Aufregung. »Immer diese Straße geradeaus und dann bei der zweiten Ecke nach links.«
»Ich danke Ihnen bestens.«
Verflucht sei dieser Augenblick! Ich glaube, ich war verlegen geworden und machte ein knechtisches Gesicht! Im Nu hatte er alles bemerkt und gewiß sofort alles durchschaut, nämlich daß ich bereits wußte, wer er war, und daß ich seine Schriften seit meiner Kindheit gelesen und ihn verehrt hatte, und daß ich jetzt verlegen geworden war und ein knechtisches Gesicht machte. Er lächelte, nickte mir noch einmal mit dem Kopfe zu und ging geradeaus weiter, wie ich es ihm angegeben hatte. Ich weiß nicht, warum ich umdrehte und ihm nachging; ich weiß nicht, warum ich zehn Schritte neben ihm herlief. Auf einmal blieb er wieder stehen.
»Könnten Sie mir nicht angeben, wo hier in der Nähe Droschken stehen?« kreischte er mir wieder zu.
Ein widerwärtiges Kreischen, eine widerwärtige Stimme!
»Droschken? Droschken sind hier ganz nah ... beim Dom stehen sie; da stehen immer welche.«
Beinah hätte ich mich umgedreht und wäre hingelaufen, um ihm eine Droschke zu holen. Ich vermute, daß er eben dies auch von mir erwartet hatte. Natürlich kam ich sofort zur Besinnung und blieb stehen; aber er hatte meine Bewegung recht wohl bemerkt und mit demselben widerwärtigen Lächeln verfolgt. Nun begab sich etwas, was ich nie vergessen werde.
Er ließ auf einmal einen kleinen Sack fallen, den er in der linken Hand trug. Übrigens war es eigentlich kein Sack, sondern eine Art Schächtelchen oder richtiger ein Portefeuille oder noch besser ein Ridikül von der Art, wie ihn früher die Damen trugen; übrigens weiß ich nicht genau, was es war; ich weiß nur, daß ich darauf zustürzte, um es aufzuheben.
Ich bin vollkommen überzeugt, daß ich es nicht aufgehoben hätte; aber die erste Bewegung, die ich machte, war unbestreitbar; sie ließ sich nicht mehr verbergen, und ich wurde rot wie ein Dummkopf. Der schlaue Patron nutzte diesen Umstand sofort auf die denkbar beste Weise aus.
»Bemühen Sie sich nicht; ich kann ja selbst ...« sagte er in bezaubernd liebenswürdigem Tone; das heißt, erst als er sich vollständig davon überzeugt hatte, daß ich ihm seinen Ridikül nicht aufheben würde, erst da hob er ihn auf, wie wenn er mir zuvorkommen wollte, nickte mir noch einmal zu und ging seines Weges weiter, indem er mich wie einen dummen Jungen stehen ließ. Es kam ganz auf dasselbe hinaus, wie wenn ich ihm seinen Ridikül wirklich selbst aufgehoben hätte. Etwa fünf Minuten lang war ich der Ansicht, daß ich völlig und für mein ganzes Leben entehrt sei; aber als ich mich Stepan Trofimowitschs Hause näherte, lachte ich plötzlich laut auf. Die Begegnung kam mir so lächerlich vor, daß ich mir sofort vornahm, mit der Erzählung davon Stepan Trofimowitsch zu erheitern und ihm die ganze Szene sogar mimisch vorzuführen.
III.
Aber diesmal fand ich ihn zu meiner Verwunderung ganz verändert vor. Er eilte mir allerdings, sowie ich eintrat, mit einem gewissen Eifer entgegen und begann, mir zuzuhören; aber er hörte mit so zerstreuter Miene zu, daß er anfangs offenbar gar nicht verstand, was ich sagte. Aber kaum hatte ich den Namen Karmasinow ausgesprochen, als er auf einmal ganz außer sich geriet.
»Reden Sie mir nicht von ihm! Nennen Sie seinen Namen nicht!« schrie er wie rasend. »Da, da, sehen Sie, sehen Sie! Lesen Sie!«
Er zog ein Schubfach auf, nahm drei kleine Zettel heraus und warf sie auf den Tisch; sie waren eilig mit Bleistift geschrieben, sämtlich in Warwara Petrownas Handschrift. Das erste Billett war vom vorgestrigen Tage, das zweite vom gestrigen, und das letzte war erst an diesem Tage gekommen, erst vor einer Stunde. Der Inhalt war ganz unwichtig: alle bezogen sie sich auf Karmasinow und bekundeten Warwara Petrownas unruhige, ehrgeizige Aufregung und Besorgnis, Karmasinow könne es vergessen, ihr einen Besuch zu machen. Hier ist der erste, der zwei (wahrscheinlich übrigens drei oder vier) Tage alt war.
»Wenn er Sie heute endlich beehren sollte, so sagen Sie, bitte, von mir keine Silbe! Nicht die geringste Andeutung! Fangen Sie von mir nicht an, und erwähnen Sie mich nicht!
W.S.«
Der vom vorletzten Tage:
»Wenn er sich endlich entschließt, Ihnen heute vormittag einen Besuch zu machen, so wird es meines Erachtens das passendste sein, ihn überhaupt nicht anzunehmen. So denke ich darüber; ich weiß nicht, wie Sie die Sache auffassen.
W.S.«
Der vom laufenden Tage, der letzte:
»Ich bin überzeugt, daß in Ihren Zimmern eine Fuhre Schmutz liegt und alles dick ist von Tabaksqualm. Ich werde Ihnen Marja und Fomuschka schicken; die sollen bei Ihnen eine halbe Stunde lang aufräumen. Aber stören Sie sie nicht dabei, und sitzen Sie so lange in der Küche, bis sie fertig sind! Ich sende Ihnen einen bucharischen Teppich und zwei chinesische Vasen, die ich Ihnen schon längst schenken wollte, und außerdem meinen Teniers (diesen leihweise). Die Vasen können Sie aufs Fensterbrett stellen, und den Teniers hängen Sie rechts auf, unter das Porträt Goethes; da ist er am besten zu sehen, und vormittags ist da immer Licht. Wenn er endlich erscheint, so empfangen Sie ihn mit vollendeter Höflichkeit; aber geben Sie sich Mühe, nur von Lappalien, von irgendetwas Gelehrtem zu reden, und machen Sie dabei ein Gesicht, als wenn Sie sich erst gestern von ihm getrennt hätten! Von mir keine Silbe! Vielleicht komme ich heute abend zu Ihnen heran.
W.S.
P.S. Wenn er heute nicht kommt, so kommt er überhaupt nicht.«
Ich las die Zettel durch und wunderte mich, daß er über diese Possen in solche Aufregung geraten war. Als ich ihn fragend anblickte, bemerkte ich auf einmal, daß er, während ich las, sein stetiges weißes Halstuch mit einem roten vertauscht hatte. Sein Hut und sein Stock lagen auf dem Tische. Er selbst war blaß, und es zitterten ihm sogar die Hände.
»Ich will von ihrer Aufregung nichts wissen!« schrie er wütend als Antwort auf meinen fragenden Blick. »Je m'en fiche! Es beliebt ihr, sich über Karmasinow aufzuregen, und mir antwortet sie nicht auf meine Briefe! Da, da liegt ein unerbrochener Brief von mir, den sie mir gestern zurückgeschickt hat, da auf dem Tische, unter dem Buche, unter L'Homme qui rit. Was kümmert es mich, daß sie sich um ihren süßen Nikolai grämt! Je m'en fiche et je proclame ma liberté. Au diable le Karmazinoff! Au diable la Lembke! Ich habe die Vasen im Vorzimmer versteckt und den Teniers in der Kommode und habe von ihr verlangt, sie solle mich sofort empfangen. Hören Sie wohl: ich habe es verlangt! Ich habe ihr ebenso einen Zettel geschickt, mit Bleistift geschrieben, unversiegelt, durch Nastasja, und warte nun. Ich will, daß Darja Pawlowna selbst sich mir gegenüber ausspricht, mit eigenem Munde und vor dem Angesichte des Himmels oder wenigstens in Ihrer Gegenwart. Vous me seconderez, n'est-ce pas, comme ami et témoin. Ich will nicht erröten; ich will nicht lügen; ich will keine Geheimnisse; ich werde nicht dulden, daß es in dieser Sache Geheimnisse gibt! Mögen sie alles bekennen, in offener, ehrlicher, anständiger Weise, und dann ... dann werde ich vielleicht die ganze jetzt lebende Generation durch meine Selengröße in Erstaunen versetzen! ... Bin ich ein Schurke, mein Herr?« schloß er plötzlich, indem er mich drohend ansah, wie wenn ich ihn für einen Schurken hielte.
Ich bat ihn, ein Glas Wasser zu trinken; ich hatte ihn noch nie in einer solchen Verfassung gesehen. Die ganze Zeit, während er redete, war er im Zimmer von einer Ecke nach der andern gelaufen; nun aber blieb er plötzlich vor mir in einer ungewöhnlichen Pose stehen.
»Glauben Sie wirklich,« begann er von neuem mit krankhaftem Hochmute und sah mich dabei vom Kopfe bis zu den Füßen an, »können Sie wirklich meinen, daß ich, Stepan Werchowenski, in mir nicht genug sittliche Kraft finden sollte, um den Bettelsack auf meine schwachen Schultern zu legen, aus dem Haustore zu gehen und von hier für immer zu verschwinden, wenn das die Ehre und das hohe Prinzip der Unabhängigkeit fordern? Es wäre nicht das erstemal, daß Stepan Werchowenski einem Despotismus mit Seelengröße entgegentritt, wenn es sich hier auch nur um den Despotismus eines verrückten Weibes handelt, das heißt um den beleidigendsten, grausamsten Despotismus, den es nur auf der Welt geben kann, trotzdem Sie sich soeben, wie es scheint, erlaubten, über meine Worte zu lächeln, mein Herr! Oh, Sie glauben nicht, daß ich in mir so viel Seelengröße zu finden vermag, um mein Leben als Hauslehrer bei einem Kaufmann zu beschließen oder hinter einem Zaune zu verhungern! Antworten Sie, antworten Sie unverzüglich: glauben Sie es, oder glauben Sie es nicht?«
Aber ich schwieg absichtlich. Ich tat sogar, als könne ich mich nicht entschließen, ihn durch eine verneinende Antwort zu kränken, sei aber nicht imstande, bejahend zu antworten. In diesem ganzen gereizten Benehmen meines Freundes lag etwas, was mich entschieden verletzte, nicht mich persönlich, o nein! Aber ... ich werde das später erklären.
Er war sogar blaß geworden.
»Vielleicht sind Sie meiner Gesellschaft überdrüssig, G***w,« (dies ist mein Familienname), »und würden wünschen ... Ihre Besuche bei mir ganz einzustellen?« sagte er in jenem Tone gekünstelter Ruhe, der gewöhnlich einem heftigen Ausbruche vorhergeht.
Ich sprang erschrocken auf; in demselben Augenblicke kam Nastasja herein und reichte ihrem Herrn schweigend einen Zettel, auf dem etwas mit Bleistift geschrieben stand. Er sah ihn an und warf ihn mir hin. Auf dem Zettel standen von Warwara Petrownas Hand nur die wenigen Worte: »Halten Sie sich zu Hause!«
Stepan Trofimowitsch nahm schweigend Hut und Stock, ging schnell zur Tür und öffnete sie, um das Zimmer zu verlassen. Plötzlich wurden auf dem Flur Stimmen und das Geräusch schneller Schritte vernehmbar. Er blieb stehen wie vom Donner gerührt.
»Das ist Liputin! Ich bin verloren!« flüsterte er, indem er mich bei der Hand ergriff.
In demselben Augenblicke trat Liputin ins Zimmer.
IV.
Inwiefern Liputins Ankunft bewirken könne, daß er verloren sei, das wußte ich nicht; ich legte auch diesem Ausdrucke keine Bedeutung bei; ich schrieb alles seiner Nervenerregung zu. Aber sein Schreck war doch ein sehr auffallender, und ich nahm mir vor, den weiteren Verlauf aufmerksam zu beobachten.
Schon die bloße Miene des eintretenden Liputin ließ erkennen, daß er diesmal trotz aller Verbote ein besonderes Recht zum Eintritt habe. Er brachte einen unbekannten Herrn mit, der von auswärts gekommen sein mußte. In Erwiderung auf den fassungslosen Blick des ganz starr gewordenen Stepan Trofimowitsch rief er sogleich laut:
»Ich bringe einen Gast mit, und einen besonderen Gast! Ich wage es, Sie in Ihrer Einsamkeit zu stören. Herr Kirillow, ein hervorragender Ingenieur und Architekt. Die Hauptsache aber ist: der Herr kennt Ihren Sohn, den hochverehrten Peter Stepanowitsch; sehr gut sogar; und er hat einen Auftrag von ihm. Der Herr hat ihn eben erst besucht.«
»Was Sie von einem Auftrage sagen, ist Ihr Zusatz,« bemerkte der Gast in scharfem Tone. »Einen Auftrag habe ich überhaupt nicht erhalten; aber Werchowenski kenne ich allerdings. Ich habe ihn vor zehn Tagen im Gouvernement Ch*** verlassen.«
Stepan Trofimowitsch reichte ihm mechanisch die Hand und forderte ihn auf, Platz zu nehmen; dann blickte er mich an, blickte Liputin an und setzte sich plötzlich, wie wenn er zur Besinnung käme, schnell selbst hin, wobei er aber Hut und Stock immer noch in der Hand behielt, ohne es zu bemerken.
»Ah, Sie wollten selbst ausgehen! Und mir war gesagt worden, Sie seien vor vieler Arbeit ganz krank geworden.«
»Ja, ich bin auch krank und wollte eben spazieren gehen; ich ...«
Stepan Trofimowitsch stockte, warf schnell den Hut und den Stock auf das Sofa und – errötete.
Ich hatte unterdessen schnell den Gast gemustert. Es war ein noch junger Mann von ungefähr siebenundzwanzig Jahren, anständig gekleidet, schlank und mager, brünett, mit blassem, etwas unreinem Teint und schwarzen, glanzlosen Augen. Er schien etwas nachdenklich und zerstreut zu sein, sprach abgebrochen und nicht ganz grammatisch richtig, stellte die Worte etwas sonderbar und verwirrte sich, wenn er einen längeren Satz bilden mußte. Liputin bemerkte sehr genau, was für einen Schreck Stepan Trofimowitsch bekommen hatte, und war davon sichtlich befriedigt. Er setzte sich auf einen Rohrstuhl, den er beinah in die Mitte des Zimmers gezogen hatte, um sich in gleicher Entfernung zwischen dem Wirte und dem Gaste zu befinden, die einander gegenüber auf zwei gegenüberstehenden Sofas Platz genommen hatten. Seine scharfen Augen fuhren neugierig in allen Winkeln umher.
»Ich ... ich habe Peter schon lange nicht gesehen ... Sie sind im Auslande mit ihm zusammengetroffen?« fragte Stepan Trofimowitsch mühsam murmelnd den Gast.
»Sowohl hier als im Auslande.«
»Alexei Nilowitsch kommt soeben selbst nach vierjähriger Abwesenheit aus dem Auslande,« fügte Liputin hinzu. »Er ist gereist, um sich in seinem Spezialfache zu vervollkommnen, und jetzt zu uns gekommen, weil er begründete Hoffnung hat, eine Anstellung beim Bau unserer Eisenbahnbrücke zu erhalten; er wartet jetzt auf die Antwort. Er ist durch Peter Stepanowitsch mit den Drosdowschen Herrschaften, mit Lisaweta Nikolajewna, bekannt geworden.«