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Zuerst waren wir gewöhnliche Sterbliche, die beide später Unsterbliche und unsterblich ineinander verliebt zur Strafe von dem Rat der „Großen Sieben“ voneinander getrennt wurden – ohne Aussicht auf Begnadigung. Und das unmerklich kleine Band, welches zwischen mir und den Göttern und Göttinnen noch herrscht, dafür zu benutzen, mich wieder mit ihm zu verbinden, ihn aus seiner Verbannung befreien zu können, ist mir recht und billig!
Ich sehe, dass jene Kraft, die einst als Mata bekannt für Tod und Zerstörung sorgte, die heutige Oraia, wieder nach Macht und Erfüllung strebt. Und obwohl dieses etwas ist, das mich weitaus weniger interessiert, weiß ich doch diesen Umstand zu nutzen, da die einzigartigen und bald fürchterlichen Umtriebe dieser Zeit doch bestens dafür geeignet sind, mich abermals mit meinem geliebten Lamag zu vereinen.
Alleine von dieser Motivation beseelt, meine ich aber eines zur Gewissheit zu verstehen: Ziehen die Kampfeswut und die von der Göttin der Schönheit beabsichtigte totale Vernichtung auf, haben wir alle verloren. Jedes einzelne Kettenglied in diesem verwobenen Geflechte der Geschicke und Schicksale ist wichtiger, als man glauben könnte. Solange meine Absicht dem Rat der Gottheiten nicht widerstrebt, wird sie, falls sie ihm zutragen könnte, bestimmt von ihm begünstigt und darauf baue ich.
Die Brüder werden hervorragende Werkzeuge zur Erfüllung dieser Absicht sein, und berücksichtige ich das, was die „Großen Sieben“ ihnen als Bürde auferlegt haben, werden sie mit Sicherheit nicht nur hervorragend zur Befreiung meines geliebten Lamags beitragen.
Die flüchtige Anna von Seron
Mit meinen achtzig Sonnen bin ich eine noch recht junge Elfenartige; dass ich eine Elfenartige bin und keine Elfe, bedeutet, dass ich das Kind eines elfischen Vaters und einer menschlichen Mutter bin. Ich bin zwar keine Unsterbliche, dennoch werde ich sehr alt, und mit meinem jetzigen Alter sehe ich aus wie eine Menschenfrau in ihrem besten Alter.
Vor genau fünfzehn Sonnen wurde mein Vater in Mino von höfischen Verrätern gemordet und man versuchte mir die Schuld hierfür in die Schuhe zu schieben – und ich, Anna von Seron, suche seitdem Rache an den Mördern zu finden. Possis von Seron zog mich allein groß, da meine Mutter bei einem Unglück verstarb, als ich gerade fünfzehn Sonnen alt war. Es war einige Zeit vor meiner Flucht und dem anschließenden Untertauchen, dass mein Vater von einem höfischen Magier – übrigen war schon damals König Nekket III. Regent über Mino – beauftragt ward, einen seltenen und ungemein kostbaren Kristall ausfindig zu machen: Loretium. Dieses Loretium sei so kostbar, hieß es, dass ein Kristallsplitter in der Größe des Gliedes eines kleinen Fingers eines Kindes ausreiche, um ein ganzes Königreich zu erwerben. Possis, als der erfahrene Händler, der er war, sollte zwar nur einen winzigen Kristallsplitter beschaffen, doch dieser hätte ausgereicht, dass wir – mein Vater und ich – für alle Zeiten ausgesorgt hätten. Mit seinen guten Verbindungen und Beziehungen schaffte Possis genau das, was er vielleicht selbst nicht für möglich gehalten hatte: Innerhalb des Zeitraumes von nur sechs Monden erwarb er über viele Hindernisse eben tatsächlich einen winzigen Splitter Loretium, und wenn ich seinen Erzählungen glauben durfte, dann hatte er ihn direkt von dem mythischen Drachenwesen bekommen, welches einst, vor neunhundert Sonnen, Medium der Gottheit Mata war. Ich meine zu wissen, dass der Lindwurm damals durch die Macht des Loretiums verwandelt wurde und heutzutage je zur Hälfte ein Drachen- und Löwenwesen sei – Mata wurde durch den Kristall zu Oraia und seit dieser Zeit herrscht Frieden. Wie mein Vater, Possis, jedoch genau an diesen für seine winzige Größe ungemein kostbaren Kristall gekommen ist, weiß ich nicht, aber: Unser Traum schien in Erfüllung zu gehen und dass wir für alle Zeit ausgesorgt hätten, dies konnte ich seinen Worten entnehmen. Der königliche, elfische Hofmagier Tesson war, was den Handel mit meinem Vater anging, ebenso unbescholten, wurde er doch auch Opfer dieser Intrige.
Für den Wintermorgen, an welchem die vereinbarte Übergabe stattfinden sollte, hatte Tesson noch Begleiter in Erwartung angekündigt, diese sollten ihn und das erworbene Loretium auf dem Heimweg zum Hofe Nekkets III. beschützen – auch wenn in diesem Teil des Landes Räuber eher spärlich gesät waren, niemand von uns schöpfte Verdacht. Während der Hofmagier bereits wie vereinbart im Morgengrauen eintraf und auch den vereinbarten Betrag dabeihatte, ließen seine Begleiter und Begleiterinnen noch auf sich warten.
„Sie wollten noch ein wenig Rast machen, während ich schon so sehr darauf brannte, dass ich mir keinen weiteren Aufschub gönnen konnte und mochte – ich bin also vorzeitig aufgebrochen“, hatte sich Tesson erklärt.
Mein Vater und der königliche Hofmagier vollzogen den Handel und kurze Zeit darauf hörten wir schon das Traben sich nähernder Pferde. Wir vermuteten, dass es sich dabei um die besagte Nachhut handelte. Doch statt wie vereinbart und wie gewöhnlich sich mit einem Klopfen an der Pforte anzukündigen, verstummten plötzlich die Geräusche der sich herannähernden Begleiter Tessons. Dieser schaute uns mit fragendem Blick an. Mein Vater schien zu merken, dass etwas nicht stimmte, und deutete mir schweigend den Weg zur geheimen Kammer in dem verborgenen, hinteren Teil des Hauses. Kurz darauf war ich für keinen mehr sichtbar in der geheimen Kammer verschwunden, aber in der Lage, das Geschehen durch ein kleines Guckloch weiter zu verfolgen. Alle Geräusche der ausstehenden Nachhut waren verschwunden, bis sich Kommendes offenbarte, und das, was geschah, war weitaus entsetzlicher als alles, was ich bisher kannte oder mir bis dato vorzustellen vermochte. Es war klar ersichtlich, dass unter den gewaltsam in unser Heim eindringenden Männern und Frauen – einer Truppe, bestehend aus drei Männern und einer Frau – ein weiterer Elf der Anführer war. Der selbst für einen Elfen sehr hochgewachsene Mann mit dem kurzen, grauen Haar wurde von zwei bulligen, bewaffneten Männern – beide mit langem, brünettem Haar –, einer Magierin mit langem, blondem Haar und einem Magier mit langem, rotem Haar begleitet – deren Befähigung zur Magie war offensichtlich. Die Bewaffneten hatten zusätzlich zu ihren mitgeführten Breitschwertern noch Rüstungen aus Leder und Metall an, auch magische Amulette waren zu sichten. Es war unmissverständlich, warum die fünf ehemaligen Begleiter Tessons nicht den gewöhnlichen Weg gewählt hatten; der grauhaarige Elf forderte ohne Umschweife mit harschem Ton die Herausgabe des Splitters Loretium.
Durch den offenkundigen Verrat erzürnt, erhob sich der Zauberer Tesson und eine schwarze Aura – ähnlich schwarzem Licht – umgab ihn mit einem Mal. Er fing an den hochgewachsenen Mann zu beschimpfen, doch dieser ließ sich dadurch nicht ansatzweise beeindrucken, wischte die Worte des königlichen Magiers mit einer Handbewegung beiseite: „Wie könnt Ihr es wagen?! Ihr seid ein Gefolgsmann König Nekkets?!“, protestierte Letzterer noch, aber vergebens: Durch die kleine Linse der geheimen Kammer meines Versteckes sah ich, wie der mir unbekannte Mann hämisch grinste. Die beiden Kriegerelfen hatten schon ihre Schwerter gezückt, und da unsere Magd nicht zugegen war und auch nicht mehr erschien, vermutete ich, dass sie von den Räubern bereits getötet wurde.
Kurz sann ich darüber nach, was ich zum Schutze meines Vaters und Tessons tun könne, doch ich war lediglich eine unbedarfte, junge Frau. Noch während der höfische Magier in das Streitgespräch verwickelt war, bereitete die elfische Hexe anscheinend einen Zauber vor, da es in ihrer rechten Hand glühte. Tesson war nicht untätig, er war plötzlich von einer Art Schutzschild umgeben, aber er war leider viel zu langsam, um dem Feuerball der blonden Magierin auszuweichen – vielleicht war sein Schutzzauber auch zu schwach. Durch das Guckloch sah ich noch, wie es in den Augen meines Vaters zuckte, so als ob er sich mit einem letzten Blick vergewissern wollte, ob es mir gut ginge, und ich betete innerlich, nicht hinter der Fassade entdeckt zu werden. Ich musste einen lauten Aufschrei unterdrücken, als ich hilflos mitbekam, wie mein Vater trotz dessen, dass er den Dieben und Diebinnen den Kristall aus freien Stücken anbot, von einem der muskelbepackten Krieger attackiert wurde. Possis schaffte es zwar, dem Schwertstreich dieses braunhaarigen Elfen auszuweichen, und hieb ihm den spitzen Brieföffner, der griffbereit auf der vorbereiteten Tafel gelegen, in den Hals – doch er sollte seinen Triumph nicht mehr auskosten können, schon streckte ihn das Schwert seines Kollegen nieder. Auch brannte bereits die Wandvertäfelung durch die brennende Leiche des mittlerweile toten Tesson.
Mit tränenheißem Blick – ich hatte gerade meinen Vater verloren, mit angesehen, wie er gemordet wurde – verfolgte ich, dass der grauhaarige Mann, der mir immer bekannter vorkam, die anderen Verbliebenen heischte, alles noch mal genau zu durchsuchen, zu durchkämmen – und er offenbar von den Flammen unbeeindruckt in aller Ruhe den Splitter Loretium aus der Hand meines toten Vaters nahm und den winzigen Kristallsplitter sorgfältig verstaute.
Vor Tränen, Rauch und Schmerzen war ich kaum in der Lage zu atmen, ich hoffte inbrünstig, nicht Opfer der Flammen zu werden – ich war nun vollständig auf mich gestellt. Ich hatte Glück im Unglück, denn mit dem scharfen Ausruf: „Lasst uns von dannen ziehen!“, und einer weiteren Aufforderung: „Bereitet alles dem Feuer zum Opfer!“, machten sich die verbliebenen Schurken daran, zu verschwinden. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig, Notwendigstes im hinteren Teil meines Versteckes zu verstauen, mir leise einen Mantel überzuwerfen, darauf bedacht, sollten die vier wiederkehren, mich nicht entdecken zu lassen, da fraßen sich die Flammen schon zu mir durch.
Ich beschloss, mein Leben von da an als Bettelmädchen zu fristen, darauf achtend, nicht erkannt oder entdeckt zu werden, während ich gleichzeitig auf Rache sann. Der Mann, der meinen Vater mordete, dies meine ich zur Gewissheit zu wissen, war jener Schuft, der kurze Zeit darauf zu einem Fürsten in Mino ernannt wurde: Serktat.
Auf dem Weg nach Masir
Die Brüder ritten, lediglich von kürzeren Rasten unterbrochen, den ganzen Abend und die ganze Nacht durch; erst lange nachdem der Tag angebrochen war, beschlossen sie, ausgiebig zu ruhen, und suchten sich dafür einen warmen Platz. Die gut eingerittene, graue Stute folgte dem Hengst, sodass sich der geblendete Azan einzig an ihr festzuklammern brauchte, auf die Führung seines Bruders vertrauend. Beide ritten sie mit wenig Gepäck und für ihr Auskommen führten sie – wie vorab geplant – einen Teil ihrer Ersparnisse an Silberlingen mit. Sie machten in dem kleinen Dörfchen Wasur halt, welches auf einer freundlichen Anhöhe lag, und Pyron band die zwei Pferde an einen Baum bei einer Tränke, unweit der örtlichen Taverne. Der Drachenartige überprüfte den Sitz seines Mantels und seiner Kapuze, dann sprach er zu dem blinden Azan: „Warte hier, Bruder! Ich werde versuchen, etwas Nahrung für uns und Futter für die Tiere zu besorgen.“
Dieser Herbstvormittag war sonnig und klar und der Geblendete quittierte die Worte des Ältesten schweigend. Kurze Zeit darauf verschwand der Verwandelte im Inneren der Taverne „Zum fiedelnden Zwerg“. Azan suchte sich währenddessen tastend einen Platz unter dem Baum, lauschte dem Schnauben der Pferde, dann rastete er. Leise zwitscherten ein paar Vögel und der Geblendete lüftete erschöpft seine Binde, lüpfte sie, ließ etwas Licht in die dunklen Kammern seines Schädels fallen.
Wenigstens habe ich keine Schmerzen! Trotz all der Qual, den Gottheiten zum Dank! Er dachte weiter: Wenn es Wahrheit sei, was es mir zu schauen hat, dann ist die Wiederkehr Hyrus’ in das Reich der Lebenden, die übrigen Umstände betrachtend, nicht nur unabdingbar, sondern auch unsere geringste Sorge und einzige Hoffnung! Die abtrünnige Gottheit Oraia voller grotesker Boshaftigkeit!
Azan korrigierte jetzt wieder den Sitz seiner Binde, kratzte sich nachdenklich am Haupt, schüttelte sein Haar zur Seite. Da war auch schon Pyron zurückgekehrt, legte seinem Bruder sachte die rechte Hand auf die Schulter, erkundigte sich förmlich nach seinem Befinden: „Hast du etwas gesehen, Bruder, hattest du eine Vision?“
Doch dieser verneinte nur mit einem Kopfschütteln und hörte still, was der Drachenartige sprach: „Ich habe für uns etwas Nahrung, getrocknetes Fleisch und etwas Obst erworben, auch ein wenig Futter für die Pferde. Lass uns hier bis zum Abend eine Rast machen, uns etwas ausruhen. Falls du beim Schlafen etwas siehst, etwas gesehen hast, solltest du nicht zögern – wecke mich, selbst dann, wenn dir die Neuigkeit wie unbedeutend erscheinen mag. Hier sind wir sicher.“
Abermals antwortete der Mittlere der drei Brüder nur durch eine leichte Bewegung seines Hauptes. Der Drachenmann versorgte die Pferde, bereitete die mitgebrachte Nahrung zu, breitete sie anschließend zu Azans und zu seinen Füßen aus und gemeinsam aßen und ruhten sie im Schatten des Baumes. Und tatsächlich, während beide schliefen, träumte Azan von der bereits erwähnten flüchtigen, namenlosen Elfenartigen.
Mit der hereinbrechenden Abenddämmerung und dem weich aufziehenden Abendnebel weckte der Verwandelte seinen Bruder aus dem Schlaf. Die Vögel zwitscherten bereits ihr Abendlied und auch die Pferde hatten geschlafen. Kaum dass Azan wach war, frug Pyron ihn: „Hatte es dir etwas Wichtiges zu schauen? Vielleicht sogar von der Elfenartigen aus Masir?“
„In der Tat, Bruder“, entgegnete ihm Azan nach einem kleinen Verweilmoment. „Es macht mir den Eindruck, als seien dunkle Umtriebe zugegen. Sie befindet sich nach wie vor in Masir, jedoch ist sie dort nicht mehr sicher – obwohl sie dieses für eine lange Zeit gewesen. Wir sollten uns demnach sputen, in die Stadt zu gelangen, wer weiß, wie lange sie sich noch zu verstecken in der Lage. Auch meine ich nun ihren Namen zu kennen, er lautet: Anna von Seron.“ Der Blinde stockte.
„Trotz allem werden wir frühestens übermorgen zum Abend hin Masir erreichen können“, erwiderte Pyron. „Wir sollten also umgehend aufbrechen, ist Anna von Seron wirklich so wichtig, dürfen wir kein Risiko eingehen. Die Rettung unseres Bruders ist oberstes Gebot, hierzu dürfen wir nichts außer Acht lassen!“
Pyron machte sich langsam an den Pferden und am Gepäck zu schaffen; Azan fing schleppend und träge an sich zu bewegen, nachdem er den Sitz seiner Augenbinde festigte: „Noch etwas, Bruder: Ich meine, dass wir schon zu früheren Zeiten in Loto lebten, existiert hatten!“
Lamag, das Buch der Gottheiten
Getrennt von meinem geliebten Weib Nogard, wurde ich schon vor sehr langer Zeit in die Einsamkeit meiner Höhle verbannt, dazu verurteilt, vielleicht für immer dort als Gefangener der Götter zu leben. Nogard, jene Kraft, welche heute einigen als die große Meerhexe bekannt ist, ging damals, vor neun Jahrhunderten, mit ihren Gefolgsleuten ins Exil ins Meer – und auch meine Tochter Auroria habe ich niemals in meine Arme schließen können. Wie kam es zu dieser Tragödie, welcher ich meine Einsamkeit zu verdanken habe?
Aufgrund der Verstrickungen der Umstände zur Zeit des „Großen Krieges“ wurde Nogard damals das Medium eines mächtigen Dämons der gefallenen Gottheit Mata, doch wurde aus der Gunst des Rates der „Großen Sieben“ heraus ihr Ich und Selbst bewahrt, sie wurde jedoch zur Hexe. Da ich es nicht schaffte, für sie einzustehen, als es am wichtigsten war, kam diese verheerende Strafe über mich: Ich wurde von der Gottheit der Gerechtigkeit, Quoron, dazu verbannt, in dieser Höhle zu verweilen, bis ich ein bestimmtes Rätsel gelöst hätte, welches er mir mit in die Einsamkeit gab: „Welcher Stern fehlt am Himmel?“, so waren die Worte des Gottes, welcher mir dieses als Mysterium für alle Zeiten mitgab, das, sollte ich es lösen, zu meiner Befreiung führen sollte.
Bis auf die seltenen Besuche des Phönixes Syphur, der mir – obwohl ich weder zu essen noch zu trinken brauche – bisweilen Speis und Trank bringt, mich an seinem warmen und weichen Gefieder erfreuen lässt, lebe ich in vollständiger Einsamkeit und ein Ausweg oder eine Flucht – gar mit Syphurs Hilfe – sind ausgeschlossen, bis zur Lösung der Kopfnuss.
Eine Freude ist mir jedoch verblieben, denn ich, Lamag, sehe in jedem einzelnen Tropfen, welcher von den Stalaktiten meiner Höhle herabfällt, die Geschicke einer jeden Kreatur Lotos und auch die meines Weibes Nogard, ebenso weiß ich von den Verwandlungen aller drei Brüder, den Absichten des Fürsten Serktat und der wiedererstarkenden, bösen Kraft Oraias, jener Gottheit, die einst als Mata nahezu die ganze Welt Lotos vernichtete. Im Kommenden sichte ich in den winzigen Wassertropfen, die gleich in Zeitlupe zu Boden hinabtropfen, die Begegnung des Verwandelten Pyron und seines Bruders mit der Elfenartigen Anna von Seron, inwiefern sie unter der Gottheiten Gunst stehen und welchen Niederrungen sie auf den zukünftigen Wegen zu trotzen haben. Dies alles lehrte mich eines, nämlich, dass die Geschicke der Leben Lotos verwoben sind wie die Fäden des Netzes einer Spinne. Und ich weiß auch, dass der Rat der „Großen Sieben“ seit jeher gerade die schwierigsten seiner Angelegenheiten den Bewohnern der Welt Lotos auferlegt hat. Für den einen oder anderen mag solches Handeln von den Seiten der Götter schwer verständlich sein, doch gerade durch diese Bürde sind in Loto auch viele Weise und Verständige groß geworden – auch viele Heiler –, sowohl unter den Mannen als auch unter den Frauen.
Leider ist es so, dass die Gefahr, die Bedrohung, welche Loto und den Seinen heutzutage angekündigt, mitnichten weniger vernichtend und grausam ist als damals, vor neun Jahrhunderten, zum „Großen Krieg“.
Der einst als Mata Bekannte, die heutige Oraia strebt in ihren Formen nach wie vor die Unterjochung des Rates der „Großen Sieben“ an. Und gerade da es lediglich einige wenige sind, die davon wissen, so beziehen doch schon die Kräfte der Zerstörung nach und nach ihre Positionen. Das erstarkende Ungleichgewicht wird, sofern es nicht unterbunden wird, für ein „Jeder gegen jeden, Mann gegen Mann“ sorgen, wenn es nicht innerhalb des nächsten Mondes grundlegend verhindert wird – ähnlich wie damals, zur Zeit des „Großen Krieges“. Die Gottheit Mata in ihrer neuen Seinsform hat bestimmt an Macht gewonnen, und ob und wie die Bewohner Lotos diese Lektion erfassen – dieses wird allein die Zeit zeigen können. Die finsteren Mächte trumpfen mit verwandelten, bösartigen Lebensformen, von ihrer Beschaffenheit Pyron ähnlich, sie sind nahezu nicht zu töten und beinahe die größte Gefahr für die Bewohner Lotos, die Brüder, meine Tochter Auroria und … Anna von Seron.
Und noch etwas vermögen mir die wie in lebendiger Sprache sich mir gegenüber formulierenden Wassertropfen zu verstehen geben: Wie damals, als das mythische Drachenwesen zur Verwandlung gebracht, gezwungen wurde, wird auch dieses Mal der sagenhafte Kristall Loretium allein die nötige Rettung herbeiführen können, und: Wird es den Freien, jenen, die des Lichtes sind, nicht gelingen, den Machenschaften des Abtrünnigen, des Verräters Serktat, ein Ende zu setzen, so werden in diesem Handlungsfeld die Kräfte des Guten höchstwahrscheinlich verlieren.
In der grauen Einsamkeit meiner Höhle warte ich darauf, dass die Geschickverflechtungen zu der lange erhofften Begegnung mit den Brüdern führen, jenen beiden, welche schon vor neun Jahrhunderten zur Befreiung der Gerechten beitrugen. Ich meine, die Lösung des Rätsels und somit meine Losung zur Freiheit zu kennen, denn: Löste ich eben dieses Rätsel, so hieß es, dann würde ich aus meiner Verbannung entlassen, ein Versprechen, welches mir wert war, des Tages und der Nacht über der Frage des Gottes der Gerechtigkeit zu sinnen.
Sogar meine einstige Geliebte, jene, die heute als die machtvolle Meerhexe bekannt ist, hat nicht die Macht, mich zu befreien, bis des Rätsels Lösung offenbar. Ich weiß, nähere ich mich der Losung des Rätsels, nähert sich mir meine Befreiung.
Die Vorbereitungen auf das Eintreffen des Fürsten Serktat I
Seine königliche Majestät seufzte etwas genervt: Auch wenn der höfische Magier – wie der König vermutete – ihn mit der Posse eines beinahe scheiternden Kunststückes erheitern wollte, König Atuk empfand dies zum jetzigen Zeitpunkt als nicht angebracht. Er mäßigte dennoch seinen Tonfall vorab und mahnte den Bediensteten des Hofes, Zauberer Tresu, freundlich: „Wie wir beide wissen, wird Fürst Serktat in weniger als sechs Tagen hier eintreffen. Es ist jetzt wirklich nicht die Zeit für Späße, nicht einmal für so lustige und gut gemeinte.“
Tresu nahm Haltung an, verbeugte sich vor Seiner Majestät Atuk, dann klaubte er seine Sachen und machte kehrt. In dem schmucken Thronsaal herrschte eine angenehme Temperatur, an diesem späten Nachmittag im Herbst schien die Sonne golden in die Halle. König Atuk hatte wie gewohnt milde reagiert, da sein Vater, König Ettek, ihn gelehrt, sich zu mäßigen, ebenso wie seine Mutter, Königin Reiha, ihn darin unterwies, Nachsicht zu üben: „Weswegen aus einer Mücke einen Elefanten machen?!“, war der Leitsatzder gutmütigen, früheren majestätischen Mutter, die wie ihr königlicher Gemahl erst vor einer Sonne an einer mysteriösen Krankheit verschieden war; kein leichtes Brot für Atuk, doch mit seinem Stab an Getreuen hatte er sich bald an den Platz des Regenten gewöhnt.
Der Hofzauberer Tresu war bekannt für seine Treue, er hatte lediglich danach gestrebt, den König, Seine Majestät zu erheitern, somit war des Königs Milde durchaus gerechtfertigt. Auch widersprach seine ansonsten qualitativ hochwertige Arbeit dem vermeintlichen Missgeschick dahingehend, dass die Absicht zur Erheiterung Seiner Majestät und der anwesenden Bediensteten definitiv zu durchschauen und zu erkennen war.
Wenn nichts schiefginge, würde der Elf Fürst Serktat in den frühen Abendstunden des sechsten Tages von jetzt an eintreffen. Ein elfischer Botenjunge hatte heute den Hof erreicht, welcher vor fast sechs Tagen bereits losgeritten war, um neben den Grußworten in Gepflogenheit zu und an seine königliche Regentschaft Atuk auch über Fürst Serktats Befinden kundzutun.
„Sehr schön, gut gemacht!“, hatte König Atuk ihn, den Boten – welcher übrigens den Namen Rosti trug –, geheißen, nachdem er erfuhr, was diesem zu verkünden aufgetan war. Er, der König, hatte diesem einen Sold für sich und eine versiegelte Grußrolle für den Fürsten Serktat überreichen lassen, die der elfische Kurier, welcher nahezu umgehend wieder losgeritten war, ihm vermutlich in drei Tagen überbringen würde. Wenn alles gut liefe und sich Rosti und die Eskorte um Fürst Serktat wie geplant auf der Mitte des Reiseweges träfen, hätte Serktat bereits sehr früh erste Verheißungen von den Sehern und Seherinnen König Atuks.
Die tatsächlich zum Teil sehr vagen Äußerungen der höfischen Bediensteten – der Visionäre und Wahrsagerinnen – ließen die Hoheit an deren Talenten zweifeln oder vermuten, dass sie zu wenig Übung in ihrem Fach besaßen, wobei eines jedoch feststand, nämlich, dass sie in einer Angelegenheit allesamt übereinkamen: Sollten sich einerseits die einen Zeichen bewahrheiten, andere wiederum sich nicht erfüllen, dann würde es erneut zu einem Krieg und einer Katastrophe kommen, wie damals, bevor es dem Urahnen Seiner Majestät gelang, dem mythischen Drachenwesen das eigens dafür hergestellte Schwert ins Herz zu stoßen. Dieser Recke, der der erste Vertreter des neuen königlichen Geschlechtes war, trug übrigens den Namen Onra – dies alles ist bereits sehr lange her. Leider war es aktuell offensichtlich keinem der zuständigen Seher gelungen, gewichtige Details, Umstände zu nennen oder zu bezeichnen, auch über bereits Eingetroffenes waren sie sich bis zuletzt uneins.
Wie bereits angeführt, trotz seines recht jungen Alters von gerade einmal neunzehn Sonnen, war Seine Majestät Atuk seit einer knappen Sonne verheiratet. Momentan war es bereits Abend, er und seine Gemahlin, Ihre königliche Majestät Roya, befanden sich in dem von außen bewachten Schlafgemach – und beide hatten sich am Rande des Lagerplatzes niedergelassen. Die königliche Ehefrau streichelte sanft mit ihrer rechten Hand das kurze, schwarze Haar ihres Gemahls, Seiner Majestät Atuk, strich ihm zärtlich über das Antlitz. Die Königin Roya war knappe drei Sonnen jünger als Atuk und sie hatten erst zu Beginn dieser Sonne, also im Frühling, geheiratet, obgleich sie sich schon seit ihrer Kindheit kannten.