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Die frischgebackene Königin stammte aus einer Adelsfamilie eines benachbarten Fürstentums, welches dem König Atuk als Untertan, und hatte den König voller Liebe geheiratet. Zu dieser Zeit waren Hochzeiten zu solch jungen Maiden gewöhnlich, doch schämte sich Atuk in Anbetracht Royas jugendlicher, nahezu noch kindlicher Unbefangenheit. Der König fühlte seiner Gemahlin wohlige Nähe und roch Royas angenehmen Duft, genoss ihre Liebkosungen. Der königliche Herrscher wusste, dass sie ihm Mut machen wollte, obwohl die Königin die Ausmaße und Tragweite der Umstände, so wie Atuk, noch nicht absehen konnte. Unabhängig davon war sie auch selbst nicht an der Regentschaft beteiligt – und das, obwohl Roya bei Weitem sehr klug war. Ja, Herrscher Atuk vertraute ohne Vorbehalte auf den Rat seiner Frau und ihre einsichtigen Zusprachen, und unterweil seine Königin sich durch ihr glattes, langes, blondes Haar strich, um sich dann zu formulieren, lauschte Atuk gebannt: „Mein geliebter Gemahl!“
Atuk unterdrückte ein Grinsen, denn obwohl er es nicht mochte, dass die Königin ihn, Seine Majestät, – gleichsam in Liebe – so nannte, konnte dieser sich einer leichten Erheiterung dadurch nicht entziehen.
„Mein Gebieter! Mein altehrwürdiger Vater sprach stets zu mir: ‚Roya, gerade dann, wenn du dich in Sicherheit wähnst, solltest du dich stets des doppelten Bodens vergewissern können.‘“ Sie stockte einen Moment lang, holte Luft. „Was ich damit meine, ist: In einer Zeit, in der es Vorboten einer enormen Zerstörung hat wie jener, von der alle sprechen, dann darf sogar mein weiser und gütiger König nicht einmal mir vertrauen. Zur Not solltet Ihr, Atuk, sogar das Band zu mir zertrennen – auch, da ich euch niemals zu schaden gedenke!“
Lächelnd ergriff König Atuk jetzt die schmalen Hände seiner Ehefrau, drehte sich zur ihr um und sprach bedacht: „Meine Königin. Gerade da wir beide sehr jung sind, sollten wir begreifen, dass die einzige Kraft, welche wirklich zu lehren in der Lage, die Liebe ist. Sie ist die einzige Kraft, welche jede Pest und jeden Turm zu überwinden befähigt. So sei meiner wertvollen Frau eines gewiss: Bevor Ihr von mir Verrat erwarten könntet, sei ich schon von dannen gegangen.“
Der wiedergeborene Elfenmagier Luvi
Luvi Odains erste Erinnerung an und in Loto waren Schmerzen und Kälte. Der Elf, der vor seinem Tod zur Zeit des „Großen Krieges“ als Magister am Hofe des Königs von Mino – Nekket von Troff I. – sein Tagewerk verrichtete, hatte die letzten gut neunhundert Sonnen mit seiner Familie in den Gefilden der auserwählten Gefallenen verbracht – frei von Kummer und jeglichem Leide. In dieser jenseitigen Welt meinten er, seine Frau und seine beiden Töchter – die schon lange vor ihm dort angekommen waren –, dass sie niemals mehr gezwungen seien wiederzukehren, sich der erbitterten Realität Lotos stellen müssten – geschweige denn, dass sie gewusst hätten, dass dieses etwas sei, zu dem er oder seine Frau oder die gemeinsamen Töchter überhaupt in der Lage seien: zurückzukehren in das Reich der Lebendigen und Lebenden, nachdem ihnen – ihm, Luvi Odain – alle Qual und Kummer genommen waren.
Er war gerade mit seiner Familie in den Gefilden beim Sonntagnachmittagspicknick, da traf ihn etwas wie ein sehr harter Schlag und er erwachte vor Kälte zitternd unter diesem Baum: Wie aus heiterem Himmel und aus tiefem Schlaf in Mino, dem Land der Elfen, erwachend, wusste der Magiemeister, dass er bereits vor langer Zeit gestorben war, verstand, dass er in einer anderen Zeit angekommen und die geliebten Seinen, drüben auf der anderen Seite, in den Gefilden der auserwählt Gefallenen, gerade schliefen. Der nackte Luvi fror entsetzlich, lautlos rieselte etwas Schnee von einem Ast des Baumes über ihn und auf sein langes, blondes und doch schütteres Haar.
Bar jeder Kleidung, ohne Auskommen oder sonstige weitere Hilfestellung zu Bewusstsein kommend, vernahm der Elf während des Aufwachens noch die Stimme seines zu früheren Lebzeiten alten Gefährten und Vertrauten, eines Engels namens Tahmoth. Mit einem einzigen Wort in der Sprache der Engel hatte ihm Tahmoth das Wissen über Bevorstehendes, welches zu erwarten, und was zu tun war übertragen. Wieder einmal bedrohte der „Dunkle Eine“ diese Welt, und: Wieder einmal wurde den Bewohnern und Bewohnerinnen Lotos eine schwere Unterrichtsstunde erteilt, die abermals auf den Umtrieben der Gottheit, welche früher als Mata bekannt war, fußte.
Der Magiemagister rekapitulierte sein Wissen aus der Zeit von vor knappen tausend Sonnen, überprüfte seine Fähigkeiten anhand zweier, dreier leichter Zauber – alles war noch so wie damals, bevor er verschied.
Hier und jetzt im Winter, hier in Mino, war es eisig, Schnee lag überall, so weit das Auge reichte. Da das zu verhindernde Treffen des Fürsten Serktat mit König Atuk erst im kommenden Herbst stattfinden würde, hätte Luvi also noch eine knappe Sonne hierfür Zeit. Selbst wenn Seiner Majestät Atuk nicht direkt, weder körperlich noch geistig, durch Fürst Serktat Gefahr drohte, war das Dilemma klar auf der Hand, denn um die Umtriebe Oraias zu unterbinden oder im Wesentlichen zu schwächen, durfte dieses Treffen vermeintlich niemals stattfinden, da Fürst Serktat danach strebte – auch wenn er sich dessen erst in den kommenden Tagen bewusst werden würde, weil es sich um in der Zukunft Stattfindendes handelte –, gleich, auf welch niederträchtige Art und Weise, Atuk zu schaden, dass der Weg für ein neues Desaster unter Oraia bereitet würde. Der Zauberer Luvi wusste, dass er also einen Weg finden musste, besagte Versammlung entweder zu verhindern oder so weit zu stören, dass der dunklen Kräfte Beweggründe zu keiner Übereinkunft kämen: Er musste also dem Schicksal ein Schnippchen schlagen, um die zu erwartenden Umstände in jedem Fall zu entkräften, sei es zuvor oder im allerschlimmsten Falle danach.
Luvi kannte den Urahnen Seiner Majestät Atuk, Onra, jenen tapferen Recken, der die Kraft und den Mut hatte, dem mythischen Drachenwesen, welches zum „Großen Kriege“ von Mata besessen war, das eigens dafür geschmiedete magische Schwert in sein schwarzes Herz zu stoßen. Ohne die Hilfe des sagenhaften Kristalles Loretium – jenes wunderbaren Reliktes, welches in die Klinge eingearbeitet worden war – wäre diese Tat übrigens niemals möglich gewesen.
Luvi klammerte seine Arme um seine nackten Schultern und schaute sich verbittert um – die Erinnerungen an seine zurückgelassene Familie, die für die Welt tot war, schmerzten ihn. Der Magiemeister fror erbärmlich, er hatte Hunger, er war nackt, und obwohl es seiner Zunft eigentlich so entspräche, verzichtete er darauf, sich mit einem entsprechenden Zauber die angebrachte Wärme zu verschaffen. Die Kälte schärfte seine Sinne und das war es, was er jetzt brauchte, denn: Mit seinen spitzen Ohren hörte er, dass sich in der Ferne vermutlich eine Kutsche oder aber mehrere Reiter näherten, und hastig sah er sich, hinblickend auf sein kommendes Vorhaben, nach einem notdürftigen Versteck um und wurde mit einem schneebedeckten Gebüsch fündig.
Noch immer rasten seine Gedanken, verbunden mit der Zeit vor neun Jahrhunderten, welche längst vorbei war, mehrfach sog er die kalte Winterluft ein und stieß sie anschließend hart aus; auch hier an diesem Ort hatten zur Zeit des „Großen Krieges“ blutige Gemetzel getobt, doch der Elfenmann musste sich nun auf das konzentrieren, was ihn unmittelbar erwartete: Wie es sich zeigen sollte, waren die Geräusche, welche Luvi vernahm, verursacht von vier Kutschenrädern und dem Traben ebenso vieler Pferde, die er allesamt bereits in ungefähr dreihundert Schritten Entfernung auszumachen meinen konnte. Das Gebüsch war nicht mehr weit von ihm entfernt und Luvi hastete dahinter, aus dem Blickfeld des Kutschers und seiner Gäste. Der Magier fühlte sich zum Kämpfen zu schwach – außerdem hatte er keine Waffe – und auch, da es ihm wie gestern erschien, dass er sich auf dem Schlachtfeld und auf den Schlachtfeldern tummelte, verließ er sich lieber auf die Hilfe Tahmoths. Während er nun verfroren hinter dem Gebüsch kauerte, aufmerksam die Sekunden rückwärts zählte, schätzte er ab, wann die Kutsche mit den vier Rössern an ihm vorbeifahren würde, und begann altvertraute Formeln zu rezitieren. Wie nun Tahmoth erschien und mit seinem Kommen die Zeit stillstand und der wiedergekehrte Magiemeister seinen Engel der Kriegsgottheit Hamor – ein Geschöpf der zweiten Hierarchie und zweier sehr verschiedener Elemente, nämlich Luft und Erde, mit langem, tiefschwarzem Haar und gewaltigen, scharlachroten Flügeln – nach so langer Zeit wieder erblickte, da hüpfte Luvis Herz vor Freude auf und ab.
„Nahezu vergessen und doch beinahe die schönste aller Freuden im tristen Dasein in der Welt der Materie“, grüßte der noch immer nackte seinen Geistgefährten – und das nicht zu früh, die Kutsche hatte gerade die Höhe seines Gebüsches passiert.
„Ganz schön frühzeitig, dass ihr meine Hilfe benötigt, mein Freund!“, donnerte Tahmoths Bass zu ihm. In seinem Antlitz war der Anflug eines Lächelns zu erkennen. Der Abgesandte Hamors war ein echter Hüne, sehr muskulös, und seine Schwingen waren ausgebreitet dreißig Schritte weit im Gesamten.
Der Elfenmagier nickte wie zur Bestätigung, deutete zitternd auf seinen baren Körper, während Tahmoth sich nun verbeugte und seine Flügel ausbreitete: „Ich habe die Zeit mit meinem Kommen für die Spanne von neunundsechzig Atemzügen angehalten. Mein Freund, sputet Euch!“
Der Engel trug einen Stirnreif aus Silber und besaß ein kunstvoll verziertes Breitschwert. Augenblicklich reckte er seinen Körper, dann flog er von dannen gen Himmel. Luvi schaute noch, wie der Gefährte verschwand, dann drehte er sich flugs um und betrachtete die Kutsche mit dem Kutscher – einem Elfenmann – und den vier grauen Pferden. Schneestaub war um die vier Fuß großen Räder der Kutsche erstarrt und die Rösser hatten mitten in der Bewegung innegehalten.
Weitere siebenundsechzig Atemzüge, dachte er, sich daran zu schaffen machend, die Kutschentür zu öffnen. Ich muss mich entschieden sputen. Luvi brauchte Kleidung zum Anziehen und sollte so weit mit dem Nötigen versorgt sein, käme die Zeit wieder in Gange.
In der Kutsche befanden sich zwei Menschen, ein fetter Mann und eine etwas verlebt wirkende, dennoch attraktive Frau – und ihrer beider Gepäck. Das Gewand des Kaufmannes würde mit Sicherheit passen und sicherlich würde der Zauberer auch einen ordentlichen Barbestand finden. Vermutlich Kaufleute, sann Luvi. Es hätte sie anderweitig schlimmer treffen können. Ich werde in jedem Fall ihre Leben verschonen …
Fast riss er hastig dem Menschenmann die Bekleidung vom Leibe – eine rote Hose aus Leder und ein dickes, weißes Hemd aus gutem Stoff –, wobei Luvi darauf achtete, nicht zu viele Atemzüge zu vergeuden, und weiter durchsuchte er die Taschen des Wamses des Dicken nach Silberlingen: Als er fündig wurde, pfiff er leise durch die Zähne: „Ungefähr 1500 Silberlinge Reisebörse, du musst mir echt ein betuchter Kaufmann sein!“
Fünfundvierzig noch verbleibende Atemzüge – und Luvi konnte dem Drang nicht widerstehen, er küsste die brünette Menschenfrau einfach auf die Lippen. Dann verließ er fluchtartig die Kutsche, wobei er die Tür hinter sich schloss. Schließlich brauchte der Elf einen kleinen Vorsprung und irgendwie musste er seine Flucht sichern – auch wenn seine Opfer von alledem nichts mitbekommen hatten, Magie war ihnen mit Sicherheit ein Begriff. Trotz des bestehenden Zeitdruckes blickte er sich so lange nachdenklich um, bis ihm eine Idee kam: Tatsächlich, der elfische Kutscher führte eine kleine Klinge mit sich, welche Luvi geschwind an sich nahm, und er durchtrennte die Verbindungen der Pferde zu dem Gefährt an den schwachen Stellen – physische Gewalt anzuwenden, erschien dem Magier sinnvoller als ein Zauber oder magischer Spruch, mit welchem er die Tiere möglicherweise hätte verletzen können.
Noch fünfzehn Atemzüge, pochte es in seinem Geist. Für einen Unsichtbarkeitszauber bin ich – gerade nach dem Herbeirufen Tahmoths – viel zu geschwächt. Das müsste ausreichen, damit sie mich nicht verfolgen können.
Mit dem Ausatmen des letzten Atemzuges war Luvi gerade dreihundert Schritte von der Kutsche und ihren Passagieren entfernt und er merkte noch, wie sich ein scharfer Blick in seinen Rücken zu bohren schien, doch schon hörte er nicht allein eine lautes Krachen und Geschrei, sondern auch das laute Wiehern von Pferden, die sich ihren Weg in die Freiheit brachen.
Leise kichernd, die energischen Fluchlaute des Kutschers registrierend, mit einem vorsichtigen, letztmaligen Blick hinter sich, verschwand der gewitzte Strauchdieb die Böschung hinab.
Masir und der Angriff der Drachenartigen
Pyron und Azan waren nach ihrer kurzen Rast in dem Dorf Wasur bereitwillig zwei Tage durchgeritten, um so schnell als möglich in Masir und zu der Elfenartigen zu gelangen. Mit Azan auf der folgsamen Stute, Pyron auf dem strammen Hengst war die Reise nicht anstrengender, als sie hätte sein müssen, doch kurz vor Masir fingen die Rösser empfindsam zu lahmen an, zu bocken. Zu ihrer Ankunft während der Abenddämmerung in Masir ungeheuer erschöpft, waren die Brüder heilfroh, ihr vorläufiges Ziel erreicht zu haben. Schon Stunden vor der Ortschaft waren düster Nebelschwaden an diesem noch wenige Momente vorher schönen Tag des frühen Herbstes über das Land gekrochen.
Die Stadt Masir war größer als Wasur, auch meinte der Drachenartige, hier und da noch ein nicht erloschenes Licht zu erblicken. Die zwei trieben ihre Pferde bis zum Marktplatz, zäumten ab und noch während Pyron die Stute und den Hengst notdürftig mit getrocknetem Obst und Wasser aus seinem Schlauch versorgte, formulierte er sich gegenüber dem blinden Azan; des Verwandelten Stimme war vor Erschöpfung etwas heiser: „Hier sind wir also, in Masir, der Stadt, dem Ort mit der besagten sehr wichtigen Elfenartigen Anna. Ich schlage vor, dass wir vorerst die Rösser und uns versorgen, eine geruhsame Nacht rasten, um uns zu stärken, bevor wir uns dann auf den Weg machen, sie zu finden. Oder widerspricht eine deiner Sichtungen diesbezüglich?“
Zuerst schwieg Azan teilnahmslos, dann schüttelte er den Kopf, er seufzte etwas, dann sprach er: „Nein, mein Bruder, seit heute Morgen habe ich keinerlei Sichtung mehr empfangen – gar nichts. Vielleicht …“, wollte Azan fortfahren, doch er wurde zügig von seinem Bruder Pyron bereits ergänzt: „ … liegt es an dem magischen Schutz, welcher die Elfenartige umgibt, oder die Götter und Göttinnen haben uns eben nichts Wichtigeres mitzuteilen. Nur zu schade, dass wir uns nicht früher mit magischen Belangen befasst haben und uns demzufolge nicht wirklich mit so was auskennen.“ Azan zuckte ungerührt mit den Achseln.
Mittlerweile war es bereits Nacht und trotzdem konnte Pyron alles hervorragend erkennen – die Pferde hatten sich bereits todmüde zum Schlafen gelegt, ihr warmer Atem kondensierte in der kühlen Luft. Auch dem Verwandelten war die Erschöpfung trotz seiner starken Fassade und seiner Haut aus Schuppen anzusehen. Pyron unterbrach den Moment der Stille: „Verweile hier, Azan – ich suche, uns derweil mit einer Bleibe und die Pferde mit dem Notwendigen zu versorgen.“
Nach wie vor zeigte sich Azan ungewohnt schweigsam. Während sein Bruder sich daranmachte, sich auf den Weg zu begeben, streichelte der Geblendete abwechselnd seine Stute und den Hengst Pyrons. Dieser zog seinen Mantel enger, tastete nach dem mitgeführten Beutel mit den Silberlingen und schon brach er auf zur Suche nach einer angemessenen Bleibe für sie während der Nacht bis zum Morgen. Unterweil der Drachenartige in seinem schlabbrigen, gebundenen Mantel unterwegs war, lehnte sich Azan gegen die seine Stute, welche wie der Hengst bereits lag, genoss die in der kühlen Luft dampfende Wärme des Körpers des Tieres. Der Seher sann fortwährend nach und wie er dieses tat, überkam ihn mit der Wartezeit der Schlaf, in welchem er rege zu träumen begann. Ja, seine Erschöpfung war wirklich groß gewesen.
In den dunklen, nur schwach beleuchteten Straßen von Masir wurde Pyron auf seiner Suche relativ rasch fündig; die Taverne „Zum lachenden Elfen“ schien auf die Bedürfnisse der Brüder und ihrer Pferde zurechtgeschnitten. Nachdem er mit dem dicken Wirt, einem Menschen, der sich über den merkwürdigen Gast zu dieser Zeit offensichtlich nicht wunderte, verhandelte, beschloss der Drachenartige, noch etwas die Pfade der Stadt zu erforschen – erst dann machte Pyron kehrt, selbst sehr erschöpft. Nicht lange und der Verwandelte fand zu seinem tief und fest schlafenden Bruder zurück – er und die Rösser waren glücklicherweise unbehelligt geblieben – und beide machten Einkehr.
Mit dem sonnenbeschienenen Anbruch des nächsten Tages, Pyron und Azan hatten sich und die Pferde gerade ein weiteres Mal mit dem Nötigen versorgt – die Brüder befanden sich in ihrem Quartier in der Taverne –, folgte ihre Lagebesprechung: „Ich werde mich abermals auf die Suche nach Anna machen. Ich vermute, dass es hier nicht allzu viele Elfenartige und Elfen hat, und auch wenn die Stadt recht groß ist, vertraue ich darauf, dass ich fündig werde. Wie du mir bereits zuvor – anlässlich deines nächtlichen Traumes – zugetan, vermutest du, dass sie sich unter dem bettelnden Volk aufhält?“, frug Pyron Azan. Dem starken Verwandelten war die Sorge in seiner Stimme um seinen geblendeten Bruder anzuhören; hatte er jedoch wegen seiner Veränderung weniger Grund, sich zu sorgen?
Beide hatten sie gerade ihr erstes Mahl beendet, der Blinde strich sich die Brotkrümel aus den Mundwinkeln, dann entgegnete er seinem Bruder und der zu erkennenden Besorgnis: „So ist es – ich sah sie unter den Armen Masirs. Ich werde die Gelegenheit zu einer weiteren Rast nutzen; ich werde schon allein zurechtkommen.“
Irgendwie verschmitzt lächelte Azan seinen Bruder Pyron an. Dieser legte ihm seine rechte Hand auf die Schulter, drückte diese in der Absicht, Trost zu stiften. Sowohl in Azan als auch in dem Ältesten der drei keimte der Schmerz über Hyrus’ Verlust, fraß sich Gänge – ebenso die Sorge um Auroria.
Pyron verließ den Gasthof „Zum lachenden Elfen“, trat hinaus in die vom Morgentau bedeckten Straßen und Wege, atmete tief die kühle Luft des erstarkenden Tages und mit einem letzten Blick zurück begab er sich in Richtung des Zentrums von Masir.
„Es wird wohl eine Zeit lang dauern …“, murmelte er, während seine Zunge nach wie vor aus seiner krokodilsartigen Schnauze zückte. Pyron war versunken in Gedanken bei der Elfenartigen, von der er lediglich eine vage Vorstellung hatte, wie sie aussah. Rings um die Gebäude und Gemäuer von Masir fing es an sich zu füllen, erste Kaufleute und Handeltreibende – der eine mehr, der andere weniger mit Gepäck beladen – waren zu sichten. In Erinnerung an den gestrigen Abend, die erste Begegnung mit dieser Örtlichkeit und seinen bis dahin verbliebenen Eindruck beschloss Pyron, dass er sich ohne Umwege zum nicht weit entfernt gelegenen Marktplatz begebe, um dort seine Suche nach der unbekannten Anna von Seron zu beginnen. Der Drachenartige war leicht missmutig, er hatte keinen direkten Ansatzpunkt für seine Suche, außerdem fürchtete er um die Elfenartige und somit zeitgleich um Hyrus … und Auroria, da Anna, laut Azans Worten, der Schlüssel sei. Es mag sein, dass Anna auf der Flucht ist und in Gefahr schwebt, auch ist es bestimmt töricht, mich nach ihr zu erkundigen. Dennoch darf ich keine Möglichkeit ungeachtet lassen … Pyron entsann sich dessen, dass sich die Elfenartige womöglich unter dem bettelnden Gesinde aufhielt – und mit Sicherheit war ein solches Geschöpf leicht von den Menschen zu unterscheiden.
Auch wenn es einige Zeit dauern sollte, fand der Verwandelte tatsächlich schließlich, wonach er gesucht hatte: Auf dem Marktplatz der Stadt trieb sich allerlei verschiedenes Volk herum, eben auch viele Bettelnde. Pyron hatte beständig darauf geachtet, dass sein Gesicht verborgen war, und auch, dass seine Hände nicht so leicht und sofort zu erkennen waren. Weil sich Anna von Seron nicht unter den Armen zum Markte befand, gab er hier und da einen Silberling, erkundigte sich bei einem nach Almosen langenden Mann und einer Alten vorsichtig nach Anna und doch, obwohl ihm niemand und keine helfen konnte oder mochte, sein Glück war ihm hold: Schon war es Mittagszeit und während Pyrons Magen bereits empfindsam knurrte, beschloss dieser, die Suche dennoch eine Zeit lang fortzusetzen, sich erst dann zu seinem Bruder in den Gasthof zurückzubegeben.
Wie der Drachenartige unweit des Marktplatzes in einer abgelegenen, dunklen Gasse angekommen war, kam Pyron zu dem Schluss, es für jetzt bleiben zu lassen, doch just fiel sein Augenmerk auf eine in der Ecke kauernde, vermeintlich alte Bettelfrau. Unbehelligt befand sie sich inmitten einer Traube an Freudenmädchen, welche dort in der Abgeschiedenheit vom Trubel ihre zwielichtigen Dienste feilboten, und der Verwandelte empfand Mitgefühl mit ihr. Gerade, dass er sich behände zu der scheinbar bejahrten Frau begab, um ihr einen Silberling zuzustecken und gegebenenfalls bei ihr sein Glück auf seiner Suche nach der Elfenartigen auszulasten, unterdessen ihn, den Bemäntelten, die Freudenmädchen mit flotten Sprüchen zu gewinnen versuchten, da signalisierten Pyrons Sinne ihm Gefahr und er hielt inne. Der Drachenartige ignorierte das ihn umgebende Gesinde und ihre offenkundigen Bestrebungen und richtete seine Aufmerksamkeit abermals auf das Mütterlein am Ende der Gasse. Hatten seine Augen ihm ein Trugbild aufgesetzt? Die Freudenmädchen waren nach und nach mit ihren Sprüchen verstummt, einige hatten sich zum Teil beim Näherkommen des Drachenmanns angewidert abgewandt, da kam auf einmal Bewegung in die Bettlerin – und sie war in der Tat kein altes Weib. Die Elfenartige erhob sich langsam und Pyron musste feststellen, dass es sich bei ihr um keinen Fall um eine einfache Alte handelte, nein, denn kurz lugten ihre langen, spitzen Ohren unter der schmierigen Kapuze hervor. War dieses Geschöpf die besagte Anna von Seron?
Noch immer spielten seine Sinne verrückt, zeichneten ihm weiterhin Gefahr, und zugleich der Drachenartige meinte, dass die Bettlerin seine Absicht, zu ihr zu gelangen, erkenne, da beschloss dieser, mit offenen Karten zu spielen: Hastig entblößte Pyron sein großes Haupt, indem er seines Mantels Kapuze herunterzog, gab sich zu erkennen – und fing an sich zu sputen. Offensichtlich jedoch scheute sie nicht vor ihm, und während er sah, wie die Elfenartige, von der der Verwandelte vermutete, dass diese Anna von Seron war, sich schickte, sich davonzumachen, bemerkte er, dass er ihre geringste Sorge zu sein schien. An den Hauswänden der Gasse über ihnen krochen gegen das Licht der Sonne schwer zu erkennende, schwarze Schatten entlang, kamen langsam, bedrohlich näher und weiter hinab in das Gasseninnere. In seiner Verzweiflung und Absicht, der Elfenartigen zu helfen, rief er der Bettlerin, welche gerade zu flüchten im Begriffe war, zu: „Mein Name ist Pyron! Ich beabsichtige nicht, dir zu schaden!“
Kurz meinte er zu erkennen, wie die Aufgestandene und sich jetzt zügig Entfernende – Pyron war sich nun gewiss, dass es sich bei ihr um die Gesuchte handelte – kurz stockte und zögerte, sich nach ihm wandte, doch im Angesichte dessen, was die sich bewegenden Schatten, die immer näher kamen, offenbarten, fürchtete er sich augenblicklich selbst: Verwandelte wie ich??, schoss es Pyron fassungslos durch seinen Schäde und wie er die Schatten aus sich verringernder Entfernung betrachten konnte, stellte sich seine Vermutung als tatsächlich wahr heraus: Es waren vier Drachenartige, womöglich Verwandelte wie er, jedoch von einer dunkleren Farbe ihrer Schuppen, und diese machten sich die Fassaden der ihn umgebenden Gebäude kopfüber hinab.
Ich darf diese Frau auf keinen Fall aus den Augen verlieren!, pochte es in ihm und schon beeilte er sich in die Richtung der Flüchtigen. Doch gerade, dass er die ersten Schritte in Richtung der ihm nach wie vor Unbekannten gesetzt hatte, da die Verwandelten längst zum Sprung auf den Gassenboden ansetzten, vernahm der Älteste der drei Brüder eine Stimme. Offensichtlich kommunizierte die fremde Schöne via Telepathie und klar und von freundlichem Klang war ihre Botschaft: „Ja, ich bin Anna von Seron, doch lauf, wenn dir dein Leben lieb ist! Ich komme allein zurecht!“
Pyron kannte das Gerücht und die landläufige Meinung, dass Elfen und vielleicht auch ihre Verwandten, die Elfenartigen, zur Gedankenübertragung befähigt wären, doch jetzt hatte er Wichtigeres zu schaffen, als sich darum zu kümmern, und er rief hastig und lautstark nach der jetzt rennenden Frau: „Anna von Seron! Ich will Euch helfen!“