- -
- 100%
- +
Flüchtend entblößte sie dadurch ihr Haupt, dass sie ihre schmierige Kapuze herunterzog, wandte sich für einen Sekundenbruchteil nach dem Drachenartigen um und dieser erhaschte kurz einen Blick auf Annas bildhübsches Gesicht.
„Lass ab von mir! Ich komme allein zurecht!“, vernahm er abermals die helle und jetzt nicht mehr ganz so freundliche Stimme, jedoch hatte die Elfenartige ihm dieses Mal die Worte unvermittelt zugerufen.
Unter den Freudenmädchen, unter denjenigen, welchen gewahr wurde, dass über ihnen befremdliche Wesen zum Sprung auf den Gassenboden ansetzten, brach ein fürchterliches Gekreische aus. Anna von Seron, gerade noch fünfzehn Schritte von Pyron entfernt, war um die nächste Ecke gebogen, hinter ihr verschwunden, da vernahm der Drachenartige die Geräusche von hoch oben auf hartem Grund auftreffenden Körpern: Direkt vor ihm landeten zwei der anderen Verwandelten, wiederum zwei weitere dicht hinter ihm. Nun war es so weit, dass Pyrons Sinne bis zum Bersten gespannt waren, und sich hastig nach einer Fluchtmöglichkeit umblickend, wurde sich Pyron mit Entsetzen eines gewahr; vor Furcht schauderte es ihn: Ich bin kein Kämpfer! Wie um alles in der Welt soll ich gegen diese vier bestehen?
Er drehte und wandte sich im Kreise seiner Feinde, bis Pyron möglicherweise unbewusst, vielleicht aber seiner Veränderung wegen ein mittelgroßes Fass in unmittelbarer Reichweite ergriff, es erhob und dieses auf die zwei Drachenartigen vor ihm warf. Rasch drehte der Verwandelte sich, einen letzten Blick in Richtung der fliehenden Elfenartigen Anna von Seron erhaschend, und blindlings hieb er dann mit seinen Pranken nach den zwei Angreifern hinter ihm.
Überraschend ließen die vier allesamt von ihm ab, verschwanden einfach. Zwei von ihnen rannten die Gasse hinauf, weg von der flüchtenden Anna, welche nun endgültig aus Pyrons Blickfeld verschwunden war. Die beiden anderen stahlen sich den Weg hinfort, welchen sie hergekommen waren: Blitzschnell sprangen die beiden Verwandelten die Fassaden entlang, hinauf auf die Pyron umgebenden Dächer der Stadt Masir. Unter den Freudenmädchen, welche noch nicht im Angesichte des gerade stattgefundenen Kampfes die Flucht ergriffen hatten, herrschte ein heilloses Durcheinander, sie versperrten dem Drachenartigen unwillkürlich den Weg zu Anna. Achtlos schubste er die Frauen beiseite, wischte sich vor Erleichterung darüber, dass die vorherige Kampfessituation so glimpflich für ihn verlaufen war, den Schweiß von der geschuppten Stirn. Des Verwandelten Zunge zückte vor Aufregung nun noch viel hastiger hin und her und während dieser sich hinter Anna von Seron sputete, drehte er sich noch einmal um, sich vergewissernd, dass er nicht verfolgt würde, und stürmte das sich ihm eröffnende verwinkelte Geflecht der seitlichen Gassen Masirs entlang.
Ich muss lernen, mich auf meine neuen Sinne zu verlassen – vorher haben sie mich auch nicht verraten, dachte er, während es ihn wähnte, dass er einen feinen Geruch wahrnahm, ihn wiedererkannte – wie zuvor, eben in der Gasse, bevor er auf Anna gestoßen war. Pyron wusste jetzt nicht, wo sich die Elfenartige aufhielt oder wohin sie verschwunden war. Er hielt einen Verweilmoment inne, schloss die Augen und konzentrierte sich, dann sog er die Luft der Umgebung tief durch seine Nüstern, doch: Die Antwort darauf, wo sich Anna womöglich aufhalte oder wie er sie finde, kam von allein: „Wer seid Ihr und was wollt Ihr von mir?!“, hörte Pyron erneut die lichte Stimme in seinem Haupt zu ihm sprechen.
„Fräulein von Seron? Seid Ihr es, Anna von Seron?“, erwiderte Pyron in das Nichts vor ihm, unterdessen gähnende Leere die Gasse vor ihm zeichnete, und nicht einmal ein einziger Mensch, geschweige denn ein Elf oder Zwerg, zu sehen war.
„Ich habe Euch doch schon einmal mitgeteilt, dass ich gut auf mich selbst aufpassen kann!“
Erschrocken drehte sich Pyron um, er fühlte durch einen Atemhauch, dass Anna – oder wer auch immer – hinter ihm aufgetaucht war, und der Drachenmann drehte sich kampfbereit um.
„So seid Ihr mir keine Hilfe!“, sprach die Elfenartige hinter ihm, welche Pyron, nur eine knappe Armlänge von ihm entfernt, eine kurze Klinge direkt unterhalb seiner Schnauze an die Kehle hielt. Stocksteif hielt er inne, mit so einer Begegnung hatte er in der Tat nicht gerechnet. Doch kein Angriff folgte und auch keine Beleidigung, lediglich ein fragender Blick war der hübschen Frau mit dem dreckigen Gesicht unter der Kapuze zu entnehmen. Sich für seine Unvorsichtigkeit mahnend, versuchte Pyron ein Gespräch zu eröffnen, doch das Seine „Verzeiht bitte!“ wurde von einer harschen Gestik Anna von Serons unterbrochen, sie deutete ihm zu schweigen.
„Sprecht! Wer seid Ihr, seid Ihr von Sinnen? Seid Ihr einer von denen?“, platzte es unvermutet aus der blondhaarigen und schmutzigen Maid hervor – und in Erinnerung an den Angriff der Bestien zuvor, schwang Verachtung in ihren Worten mit.
Wie er bemerkte, dass sie eine Antwort erwartete, holte Pyron tief Luft, versuchte sich zu fassen: „Mein Name ist Pyron – ich bin eben auf der Suche nach der Elfenartigen Anna von Seron – Euch! Meine Brüder und ich benötigen Eure Hilfe.“
Verblüfft schaute die Frau ihn an, zögerte kurz, und da ergänzte sich der Drachenartige: „Verzeiht bitte, weder wollte ich Euch erschrecken noch etwas anhaben.“
Die Elfenartige schwieg für die Weile weniger Atemzüge und fasziniert schaute Pyron die junge Anna von Seron an. Er bemerkte, dass sie ihr langes Haar zu einem kunstvollen Zopf geflochten hatte. Wie Anna von Seron nun mahnend ihre Brauen hob, packte sie den Dolch beiseite und sprach mit unterdrückter Wut in der Stimme: „Ich glaube Euch und abermals, ja, mein Name ist Anna von Seron. Doch kümmert Euch um Eure Belange. Ich kann nichts für Euch tun.“ Der Drachenartige vergaß für einen Augenblick das ihn Umgebende und schon machte die Edelblütige auf behändem Fuße kehrt, ward im Begriffe, die Gasse hinab zu verschwinden. Pyron ergriff Anna behutsam am linken Arm, danach strebend, diese festzuhalten und daran zu hindern, zu verschwinden – da begriff er, dass er vermutlich einen Fehler gemacht hatte: Flink griff sie mit ihrer rechten Hand unter ihren Mantel, zückte wieder mal die kunstvoll verzierte, silberfarbene Klinge, hielt sie dem Verwandelten, dem Drachenartigen direkt abermals unter die Kehle.
„Hütet Euch davor, mir nachzustellen!“, sprach sie fest in diesem Moment, und da geschah es: Wie aus heiterem Himmel tauchten die vier anderen Drachenartigen, die Verwandelten, woher auch immer sie kamen, in der Gasse vor und hinter ihnen auf – ein Hinterhalt!
„Verflucht seien Serktat und dessen Umtriebe!“, rief ihnen Anna entgegen und machte sich wie zuvor daran zu flüchten, doch es war bereits zu spät: Von vier dem verwandelten Pyron mindestens ebenbürtigen Feinden umzingelt, verblieb Anna von Seron keine andere Wahl, als just bei Pyron zu verbleiben. Rücken an Rücken standen die zwei augenblicklich da, Anna mit ihrer Klinge in der rechten Hand, Pyron mit seinen zum Kampfe geformten Pranken, bereit, aufs Erbittertste zu kämpfen.
„Haltet Euch an mich! Ich beschütze Euch, koste es, was es wolle!“, hieß er Anna von Seron und dann war es auch schon an seiner Stelle, den Angriff zu beginnen. Fast im Zornesrausche stürmte Pyron mit lautem Gebrüll auf den Angreifer zu seiner Linken, hieb mit seinen Klauen nach diesem, zog tiefe Furchen über dessen baren Brustkorb. Sehr schnell wendete er sich zu dem Angreifer zu seiner Rechten, sprang mit nahezu all der ihm innewohnenden Kraft auf ihn zu, einen letzten Blick zu Anna werfend. Während dieser Verwandelte aber geschickt auswich, gelang es der sehnigen Anna, einem weiteren der angreifenden Drachenartigen die Klinge, der Beschaffenheit nach ähnlich einem Kurzschwert, bis zum Heft in den Bauch hineinzustoßen; dieser Feind brach lautlos tot zusammen. Gegenwärtig hatte sich der Verwandelte mit den Furchen auf seiner Brust erholt, Pyron war bereits in einen Ringkampf mit dem Feind verwickelt, welchen er zuvor angesprungen und verfehlt hatte, da hörte er die in Lumpen gekleidete Anna von Seron schreien: „Helft mir, Pyron!“
Aggressive Knurrlaute waren zu hören und mit einer ihm unbekannten Rage biss Pyron seinen Gegner, der gerade im Begriffe gewesen, Selbiges zu unternehmen, und zwar so tief und fest in dessen linken Arm, dass dieser allein noch von der geschuppten Haut gehalten wurde. Und wie mit einem entsetzlichen Ahnungsschauer zu vergleichen, wurde Pyron gewahr, dass er den Geschmack von Blut liebte … Es war in der Tat ein entsetzlicher Schmerzenslaut, den der Besiegte von sich gab, der Schrei wurde durch den Wind hindurch über die Dächer Masirs getragen, verscheuchte die restlichen Tauben hoch über den Kämpfenden auf den Giebeln der Dächer.
Zwei der üblen Lakaien waren noch kampfbereit und Anna von Seron erwehrte sich tapfer mit Händen und Füßen einem der Verbliebenen, welcher sie niedergerungen hatte und sich anschickte, sie zu töten. Die Elfenartige in derartiger Notlage zu erblicken, ließ Pyron für einen Moment sein Leben und den nun flüchtenden Einarmigen vergessen, erweckte in ihm die Bereitschaft, sich für diese bildhübsche Maid zu opfern. Langsam wurde Pyron sich seiner neuen Kräfte bewusst und er kämpfte wie ein Verderber. Momentan hatte er zum Sprung angesetzt, um denjenigen Drachenartigen zu erreichen, der über Anna war: Doch griff der Verletzte – jener mit der tiefen Fleischwunde durch Pyrons Pranke auf der Brust – nach ihm und fasste ihn durch seinen Mantel hindurch fest an seinen Beinen. Pyron war nun auf allen vieren und strampelte hektisch mit seinen Beinen, und weil er zu Boden gerissen ward, klammerte er sich mit seinen Krallen in den steinigen Untergrund. In der Hoffnung, die lebensbedrohende Gefahr von der Edelblütigen abwenden zu können, griff er den Drachenartigen über ihr selbst an einem Bein und zog daran in der Absicht, Anna von Seron dadurch Luft zu verschaffen. Noch immer kreischte sie um Hilfe, doch waren sie tatsächlich auf sich allein gestellt, hier in der Gasse.
In seiner bitteren Not tastete Pyron blindlings nach irgendeinem Gegenstand, erwischte etwas Scharfkantiges, schnitt sich daran, ließ jedoch nicht davon ab: Zu seiner Verblüffung handelte es sich dabei um Annas Kurzschwert, mit welchem sie zuvor ihren Feind niederstreckte, und Pyron umklammerte den Stahl, wandte sich zu dem nach ihm greifenden Drachenartigen um und stach todesmutig zu. Er traf ihn in seinen dunkel geschuppten Hals und abermals ertönte ein furchtbares Geheul, während ein weiterer Drachenartiger verschied.
Pyron schubste den auf ihm liegenden Getöteten schnellstmöglich von sich runter, drehte sich zu der Elfenartigen und ihrem Peiniger – von demjenigen, welchen Pyron zuvor gebissen hatte, fehlte jede Spur. Anna von Seron hatte es gerade geschafft, der verwandelten Bestie über ihr einen Tritt gegen das Haupt mitzugeben, hatte sich für einen Moment freien Atem verschafft, und flink sprang Pyron auf diese, verwandte den Dolch der Elfenartigen und stieß ihn dem Monstrum in die Seite. Zum letzten Mal an diesem Nachmittag ertönte der Laut einer solchen Kreatur in ihrem Todeskampf und Pyron bot der blondhaarigen Schönheit, nachdem er sich stoßweise atmend Luft verschafft hatte, seine Pranke, verhalf Anna von Seron keuchend auf die Beine.
Mit der ihren Hand in der seinen versuchte der Drachenmann Pyron zu Worten zu kommen, wollte sich nach ihrem Befinden erkunden, doch war sein Atem zu knapp bemessen – und die keuchende Frau deutete ihm, zu schweigen: „Vielen Dank für Eure Hilfe, werter Fremder – Pyron, ich hätte nicht erwartet, dass Ihr gegen Eure eigene Art zu bestehen, zu kämpfen bereit seid“, sprach sie sichtlich erleichtert.
Pyron lockerte den Griff um ihre Hand, welche er noch immer hielt, versuchte sich zu formulieren, stockte, sagte dann aber: „Mein geblendeter Bruder Azan und ich, wir kennen Euch, holde Maid, aus dessen Sehungen. Ich weiß, dass Ihr auf der Flucht, dass Ihr äußerst kostbar seid und wir auf Eure Hilfe angewiesen sind!“
Weiter kam er vorerst nicht, denn Anna mit den spitzen Ohren küsste den hässlichen Pyron, dessen Zunge nach wie vor unkontrollierbar hin und her zuckte, auf die Wange und fuhr fort: „Führt mich zu ihm!“
Wie sie sich auf den Weg machten, starrte Pyron mit einem letzten Blick voller Ehrfurcht und Abscheu auf die Kadaver der getöteten Verwandelten. Wenig später erreichten sie das gemeinsame Quartier und während der geblendete Azan das Gesicht von Anna betastete, hin und wieder befremdlich nickte, so als würde er etwas, das nur er verstünde, bestätigt sehen, versuchte Pyron erneut, sich für die vorangegangenen Missverständnisse zu rechtfertigen.
Doch die elfenartige Frau mahnte ihn ab: „Ich weiß bereits, wer Ihr seid und was es mit Euch zu schaffen hat. Doch kannte ich nicht Euer wahres Aussehen in Gänze, war verunsichert, wollte im Angesichte der Bedrohung kein Risiko eingehenden. Gerne werde ich Euch helfen, Euren Bruder zu erlösen, den Plan und die Absichten der Gottheiten zu erfüllen, Euch beistehen. Doch falls Ihr mir einen Wunsch gestattet“, die immer noch jugendliche Anna lächelte keck, „werde ich Euer vormaliges Hilfeangebot nicht ausschlagen und mich gerne an Rast, Erfrischung und Nahrung erfreuen.“
Die beiden Brüder nickten einvernehmlich.
Dass man Elfen und Elfenartigen ihr Alter ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr ansehen kann, sinnierte Pyron verträumt, dann nickte er wieder zur Bestätigung und wandte sich fragend an seinen Bruder: „Azan, weißt du etwas Neues?“
Dieser wog nachdenklich seinen Kopf, dann verneinte er, schüttelte sein Haupt: „Nein, aber so, wie die Umstände beschaffen sind, sollten wir uns alsbald auf den Weg zu dem Verbannten der Gottheiten, Lamag, machen. Er wird uns Weiteres weisen können.“
Noch während sie ins Bad verschwand, rief Anna von Seron zu ihnen herüber: „Ich habe schon einmal von ihm gehört! Ihr werdet meine Hilfe benötigen, wollt Ihr zügig zu ihm gelangen!“
Erfreut strich Pyron seinem geblendeten Bruder mit seiner Pranke über das Haupt.
Luvis Aufgabe in der Welt der Lebenden
Weniger, dass er Furcht vor Nachstellung hatte, nein, es war vielmehr sein Verlangen, sich in den Erinnerungen an seine Familie zu wiegen, das ihn band, ihn schon fast zwanghaft dazu trieb, sich in der Abgeschiedenheit der Wälder auf seinem Wege zum königlichen Hofe Atuks herumzutreiben. Zwar entsann sich der Magier bisweilen noch des bohrenden Blickes in seinem Rücken bei seiner Flucht nach dem Raub auf den Kaufmann und seine Frau, doch: Mit seinen Gedanken und Erinnerungen noch immer in den Gefilden der auserwählt Gefallenen verhaftet, fing der einstige Hoflehrer des vormaligen Elfenkönigs Nekket von Troff I. an daran zu zweifeln, überhaupt jemals vor neunhundert Sonnen verstorben oder klaren Verstandes zu sein: Ob vielleicht eher etwas mit meinen Zaubern während der Kämpfe gegen Mata, das mythische Drachenwesen, und seine verbündeten Dämonen falsch gelaufen ist?, sinnierte Luvi, eher darüber belustigt als ernsthaft damit befasst, dass er sich womöglich in einer ihm angepassten Wahrnehmung befunden hatte und nicht tatsächlich in den Gefilden, dass ihn seine ehemaligen Verbündeten somit einfach – ihn vielleicht tot glaubend – zurückgelassen hätten.
Hier und jetzt aber war seine Beute von größter Bedeutung; der gestohlene „Schatz“ von 1500 Silberlingen war in dieser Zeit ein kleines Vermögen, und den Elfenmagier tatsächlich ausfindig oder gar dingfest zu machen, war – in dessen Erachten – bei seinem Talent ein Ding der Unmöglichkeit. Für ihn war für eine ganze Zeit gesorgt, wenn nicht sogar bis zur Erfüllung seiner Mission, so war’s gut. In Gedanken mit seiner Aufgabe befasst, zweifelte der Elfenmagier bisweilen daran, die an ihn gerichtete Erwartung tatsächlich erfüllen zu können.
Nun befand er sich in einem Waldgebiet unweit der Grenze zu Laileb, dem Land der Zwerge, auf dem direkten Weg nach Godan, in die königlich-höfische Stadt des Königs Atuk – Restru. Luvi fror noch immer erbärmlich und sein Schweiß hatte sich in der Kleidung und dem Hemd mit dem Geruch seines vorherigen Besitzers zu einem widerlichen Gestank verbunden; auch die geklauten, ledernen Galoschen waren bereits vom Schnee durchnässt. Bei der nächstbesten Gelegenheit – aber erst, nachdem er die Grenze zum Land der Menschen, Godan, überquert hatte – würde er sich ein oder zwei neue Gewänder zulegen – nicht, dass Zwerge nicht schneidern konnten, aber der Elfenmagister bevorzugte es, beim Erwerb von Artikeln nicht erst eine kleine Ewigkeit nach seiner passenden Größe forschen zu müssen. Luvi hatte dank seiner Magie die Fähigkeit, sich zeitweise in der Gestalt einer anderen Person – gleich, ob Mann oder Frau – darzustellen, wichtig war einzig, dass die angenommene Täuschung in etwa seiner echten Größe entsprach – so konnte der Zauberer auch kurzfristig inkognito reisen: Da der Elf gute acht Fuß hoch und von sportlicher Gestalt, war es wichtig, nicht noch mehr aufzufallen.
Bei seinem jetzigen Reisetempo und der zu berücksichtigenden Anzahl der bisher eingelegten Rasten würde er die Grenze zu Laileb in etwa einer Woche überqueren. Einleitend hatte er es vermieden, eine andere Fortbewegungsart als die ihm von den Göttern gegebenen seinigen Beine zu verwenden. Verdutzt hielt der Magiemagister einen Verweilmoment lang inne, er hatte unweit in der schneebeladenen Landschaft ein lauteres Knacken und ein Rascheln vernommen: Misstrauisch schaute er sich um, sah jedoch nichts in der näheren Entfernung, außer einer Hirschkuh, die vermutlich im Dickicht auf der Suche nach Nahrung war, dennoch beschlich Luvi ein ungutes Gefühl: Schließlich hatte er bei näherer Betrachtung eigentlich die Aufgabe, entweder Fürst Serktat zu töten oder die Handlungsgeflechte im Kommenden so weit zu zerstören, dass ein erneuter Ausbruch eines „Großen Krieges“ verhindert würde – ein wirklich gefährliches Unterfangen.
Ich bin mir sicher, dass Fürst Serktat im Besitze wirklich guter Seher ist, vielleicht auch ein paar hervorragender Magier oder Zauberinnen – er ist auch ein Elf, und wenn ich Pech haben sollte, steht er direkt unter dem Schutze Oraias, weiß von meinem Vorhaben.
Luvi rieb sich die Schultern, vergewisserte sich noch einmal, dass er nicht verfolgt würde, machte sich dann behände weiter des Weges durch die verschneite und frostige Landschaft.
Der Elf erreichte die erste größere Stadt in Laileb, einen Ort namens Wenstro, nach Ablauf von zehn Tagen.
Es hat sich bei den Zwergen während der letzten neun Jahrhunderte doch viel getan, dachte er, unterweil er sich neu einkleidete: Der Gestank der ihm bisher gehörenden Kleidung war längstens für seine feine, elfische Nase nicht mehr zu ertragen, er musste handeln.
Ich habe noch zehn Monde vor mir, bis besagtes – zu verhinderndes – Treffen zwischen König Atuk und dem Fürsten Serktat stattfinden wird. In Godan angekommen, werde ich mir ein Zimmer mieten und die Situation studieren und überdenken.
Doch so weit sollte es nicht mehr kommen.
Nogards Herkunft
Ja tatsächlich, einst war ich eine gewöhnliche Sterbliche, und: Mein geliebter Lamag und ich, wir waren ewiglich verliebt ineinander – doch dann kamen die Wirren der Umtriebe des aufkeimenden „Großen Krieges“, die Absicht und die Hilfen der Gottheiten, seine List und sein Versagen gegenüber dem mythischen Drachenwesen. Lange noch bevor sich der „Große Krieg“ dem Ende näherte, war ich von zerstörerischer, dämonischer Kraft besessen, jedem Zauberer und jeder Magierin des Festlandes überlegen, und nur dank der Götter und Göttinnen blieb ich ein freies Wesen. Mein damaliger Geliebter wurde von den Gottheiten in die Einsamkeit verbannt, weil er seiner Schwäche zu Schulden gemäß nicht für mich einstehen konnte – seine Strafe sollte für immer gültig sein. Als die Hexe, die aus mir wurde, flocht ich den Bann um Auroria und ihren geliebten Hyrus, um mein Fleisch und Blut zu schützen und zu dem mir zustehenden Recht zu gelangen. Mein Volk und ich hatten gute neunhundert Sonnen Zeit, das Reich unterhalb der Meeresoberfläche zu errichten, und somit wurde es schön. Die insgesamt vier Dutzend Männer und Frauen, welche mit mir von Land gingen – aus jeder Rasse stammten sie –, die mir absolut vertrauten, waren die Grundlage für die zahlreiche Bevölkerung der Meere von heutzutage. Sie alle sind mir freiwillig ins Meer gefolgt und niemand wusste, was sie erwarten würde – angebiedert und auch angewidert von dem Leben an Land und seiner scheinheiligen Moral. Im Gegensatz zu meinem Geliebten, welcher der Sterndeuterei nachging, hatte ich mich niemals für die Magie interessiert, sie tatsächlich mehr wie einen Fluch statt als Segen geschaut – nur allzu häufig.
Die Meerhexe Nogard nahm in dem königlichen Gemach auf ihrem Thron aus schwebenden Perlen Platz und bürstete ihr schwarzes Haar, das bis zum Boden reichte. Auroria, ihre gemeinsame Tochter mit Lamag, hatte über all die Zeit hinweg in dem Glauben zu Hofe gelebt, sie sei die Tochter der verstorbenen Magd Gestra gewesen und hätte deswegen freies Gastrecht in den königlichen Hallen. Es war niemand da gewesen, der Auroria hätte erklären können, dass ihre seit Jahrhunderten bestehende Jugend nicht gewöhnlich sei und dass Wassermenschen – gleich, ob sie ihre Herkunft bei den Menschen, Zwergen oder Elfen hatten – auch altern und sterben können. Fürwahr, Auroria lebte in dem Glauben am Hofe ihrer Mutter, dass kein Lebewesen den Tod kannte oder dass beim Versterben die Toten einzig fortgegangen seien. Die Meerkönigin liebte ihre Tochter, ihr Handeln sollte zu ihrem Schutze dienen, um niemals den Schmerz teilen zu müssen, der ihre Mutter Nogard einst ereilt hatte.
Doch die Zeit hatte sich geändert, forderte ihren Tribut, und auch wenn die Meerkönigin Lamag Nacht für Nacht in ihren Träumen bei sich zu fühlen glaubte, in Anbetracht der Geschicke Fügung und des Wiedererstarkens der Gottheit Mata als Oraia sah sie ihr Handeln als gerechtfertigt. Auch in der kleinen Ewigkeit nach dem „Großen Krieg“ war es tatsächlich Nogards beständiges Streben gewesen, in der Lage zu sein und zu bleiben, die Umtriebe jenes Versuchers als das einzuschätzen, was sie waren.
Die Meerhexe mit dem bis zum Boden reichenden, schwarzen Haar und der blütenweißen Haut fuhr sich mit ihren sehr feingliedrigen Fingern über das Gesicht, hätte sich den Schweiß von der Stirn gewischt, wäre sie nicht unter Wasser gewesen. Durch ihren machtvollen Zauber von einst herrschten für die Ihrigen hier unten eigene Gesetzmäßigkeiten, fast wie an Land, und doch wurde für jeden von ihnen der Traum vom Fliegen auf die eine oder andere Art und Weise Wahrheit.
„Danke“, sprach sie eintönig zu der Bediensteten, die ihr ein Glas Algengelee reichte. Diese Magd, tatsächlich eine Nachfahrin der Menschenfrau Gestra, war eine beflissene junge Frau und eine verständige Ratgeberin. Auch wenn sie mit ihren knappen zwanzig Sonnen einfach nicht mit Nogards, ihres Alters Weisheit mithalten konnte, schätzte Feras es jedoch, die Königin zumindest zu erheitern zu versuchen: Feras kannte Nogard, wenn sie zürnte, sich das Licht der kostbaren Kristalllichten um sie und im weiten Umkreis herum verfinsterte – und Knochen brachen. Jedefrau und jedermann, welche oder welcher die Gnade erworben hatte, am Hofe der großen Hexe der Meere zu dienen und sich ein Anrecht auf Unsterblichkeit verdingen zu dürfen, kannte die Königin als in ihrer Rage grausam und in ihrer Güte bescheiden; wer aber – meistens Frauen – die zehnjährige Dienstzeit überlebte, durfte sich der Gewissheit glücklich schätzen, niemals mehr altern oder sterben zu müssen – jedoch mit all den Narben. Der Dienstmagd Feras fehlte nun die linke Hand, wurde sie doch von einem von Nogard befohlenen Geist dabei ertappt, wie sie vor drei Monden aus einem Glas mit eben besagtem Algengelee naschte. Niemals hatte Nogard bei Entlassung ihrer somit siegreichen und ehemals erlesenen Dienerinnen und Dienern – Bediensteten – Wunden oder Verletzungen Kraft ihrer nahezu allmächtigen Magie wiederhergestellt – und hinter ihrem Palast türmten sich die Schädel und verblichenen Gerippe von Jahrhunderten der Lügner und Ungehorsamen.
Zitternd verbeugte sich Feras vor Nogard, versuchte in ihrer Angst vor der Meerkönigin Nogard zumindest die Fassade von Gelassenheit zu bewahren, doch in ihrem Wissen und in ihrer Kenntnis darüber, dass die Gefahr an diesem unsäglichen Ort nicht einzig von der Königin und ihrer Fähigkeit, direkt in ihren Geist zu schauen, sondern auch von besagten Geistern ausging, betete die Magd jeden möglichen Moment mit geschlossenen Augen zu den Gottheiten. Sie, die Nachfahrin von Gestra, arbeitete erst seit einer Sonne zu Hofe, neun weitere würden folgen müssen, wollte sie von Nogards Blut kosten und den Preis der Unsterblichkeit erringen dürfen. Doch in Feras hatte es keine Missgunst, Ablehnung oder Hass gegenüber der grausamen Hexe, da das wohlbehütete Geheimnis ihrer eigenen magischen Befähigung es ihr ermöglichte, Anteil an Nogards immer keimendem Schmerz zu haben – und die Herrscherin insgeheim zu bedauern, auch trotz dass sie ihr Leben verlieren würde, wenn die Königin von dem Talent und der Empfindung ihrer Magd erfahren würde.