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Draußen im Hof krachten die ersten Knallkörper, am Himmel explodierten Raketen in allen Regenbogenfarben. Die Schweiz feierte ihren ersten August.
Früh am nächsten Morgen machte Mike auf dem Weg ins Büro zuerst halt am Kiosk nebenan. Zu einem lauwarmen, wässrigen Industriekaffee in einem wackligen Plastikbecher durchforstete er an einem Stehtischchen die aktuellen Tageszeitungen und suchte nach Berichten über die Ereignisse von gestern. Keine der Zeitungen hatte über einen ertrunkenen Mann in der Aare geschrieben. Gestern war zwar ein Feiertag gewesen, trotzdem hätten die Zeitungen heute darüber berichten können. Der Tod eines Menschen war ja immer ein beliebtes Thema für Schlagzeilen. Dass keine Zeitung darüber schrieb, war zwar merkwürdig, bedeutete aber auch, dass er weiterhin exklusiv berichten konnte.
»So nicht, Honegger!« Hans Werdenbergers Wut hatte über Nacht nicht abgenommen. »Haben Sie von mir in Sachen Pünktlichkeit und Genauigkeit im Leben noch gar nichts gelernt? Wie oft muss ich mich denn wiederholen?«
Mike kannte Werdenberger gut genug, um zu wissen, dass er die Rede, die folgte, ohne ein Wort zu erwidern über sich ergehen lassen musste. Es schien ihm trotzdem eine Ewigkeit, bevor Werdenberger seufzte und endlich fragte: »Also, warum sind Sie gestern nicht aufgetaucht?«
Mike erklärte ihm detailliert, was vorgefallen war und weshalb er sich nicht gemeldet hatte. Dann legte er ihm stolz den Artikel über den Fund der Leiche in der Aare auf sein Pult. Werdenberger hörte mit grimmiger Miene zu und ignorierte den Artikel. Als Mike fertig war, sagte er: »Sie sind also nicht aufgetaucht, weil Sie glaubten, ein ertrunkener Mann sei für unsere Zeitung ein passendes und interessantes Thema? Sind wir denn nicht mehr eine angesehene Zeitung mit langer Vergangenheit, die für sich in Anspruch nimmt, hochkarätigen Journalismus zu bieten? Sind wir neuerdings zu einem Boulevardblatt verkommen, das mit persönlichen Katastrophen auf der Titelseite ihre Leser verführt? Und glauben Sie wirklich, das rechtfertige, einen Termin mit mir ohne Abmeldung platzen zu lassen?«
»Ich denke, er wurde ermordet!«, versuchte Mike sich zu rechtfertigen.
Werdenberger begann mit den Händen zu gestikulieren. »Sehen Sie, das ist ja noch schlimmer. Jetzt spekulieren Sie schon über die Todesursache. Was ist denn das für ein Niveau? Es ist sicher nicht das Niveau, das zu unserer traditionsreichen Tageszeitung passt! Dazu kommt noch, dass Sie den Auftrag, den ich Ihnen gegeben habe, nämlich eine Artikelserie zu schreiben, immer noch nicht ausgeführt haben. An fehlender Zeit scheint es ja nicht zu liegen, wenn Sie in der Aare baden gehen können und Wegwerf-Gesellschafts-Artikel wie diesen schreiben können!«
Er stand hinter seinem Pult auf, ging zum Fenster und blickte lange hinaus.
»Nein, Honegger. Wir wissen beide seit einiger Zeit, dass wir nicht zusammenpassen. Suchen Sie sich eine Stelle bei einer Gratiszeitung. Dort können Sie in fünf Zeilen etwas über Mordfälle spekulieren, das jeder Pendler im Halbschlaf am Morgen im Zug konsumieren kann und nicht mehr als einen Grundwortschatz von 100 Wörtern voraussetzt. Aber nicht hier und nicht bei mir. Die Fortsetzung unseres Arbeitsverhältnisses ist aus meiner Sicht nicht mehr zumutbar. Es wäre also besser, wenn Sie Ihr Pult räumten. Sie haben eine Stunde Zeit, dann will ich Sie nicht mehr sehen. Das wäre alles. Sie können gehen.«
Seine Arbeitskollegen waren schockiert, als Mike ihnen kurz mitteilte, dass Werdenberger ihn soeben gefeuert hatte. Da dieser aber mit gekreuzten Armen unter dem Türrahmen seines Büros stand und wie ein Feldherr auf sein Schlachtfeld in das Großraumbüro starrte, getraute sich niemand, was zu sagen. Einzig Verena nahm ihr Headset ab und flüsterte ihm mit einem Lächeln voller Mitleid zu: »Ich rufe dich an.«
Mike ging zu Fuß zum Bahnhof, wo er sich auf dem Vorplatz an einen Restauranttisch setzte und einen Kaffee bestellte. Er konnte nicht fassen, was soeben geschehen war. Den Generationenunterschied zwischen ihm und Werdenberger hatte er schon seit Langem gespürt, wie seine Kollegen und Kolleginnen auch, und sie hatten auch nie richtig harmoniert. Dass er ihn jedoch feuern würde, hätte er nie gedacht. War er wirklich zu weit gegangen? Auch nach langem Überlegen beurteilte er seinen gestrigen Entscheid weiterhin als richtig. Als Journalist musste er jede Gelegenheit packen, um über Außergewöhnliches zu berichten, wann und wo immer sie sich auch bot, Sitzungstermine hin oder her. Er bestellte einen zweiten Kaffee. Den Toten in der Aare würde er nicht loslassen, dazu war er jetzt erst recht entschlossen. Er würde dem Fall nachgehen, herausfinden, wer der Mann war und einen erstklassigen Artikel darüber schreiben. Damit würde er eine neue Stelle suchen.
Die Polizeiwache Bern steht nicht weit vom Bundeshaus entfernt am Waisenhausplatz, in einem dreistöckigen, palaisähnlichen Gebäude, das bis fast Mitte des letzten Jahrhunderts als Knabenwaisenhaus diente.
»Wie kann ich Ihnen helfen?« Ein korpulenter Mann mit kurz geschorenen Haaren inspizierte Mike mit seinen kleinen schwarzen Augen durch das Panzerglas des Empfangsschalters. Sein abschätziger Blick verriet ihm, dass er von Mikes Jeans und T-Shirt nicht viel hielt.
»Ich bin Journalist und arbeite bei den ›Berner Nachrichten‹. Ich recherchiere den Todesfall von gestern im Marzili. Wem kann ich dazu einige Fragen stellen?«
»Wer sagt denn, dass es gestern einen Todesfall gegeben hat?«
»Ich habe die Leiche selbst gesehen und war dabei, als zwei Polizisten und eine Frau vom kriminaltechnischen Dienst sie untersuchten.«
Der Beamte zögerte einen Moment, schaute ihn misstrauisch an und fragte: »Was genau wollen Sie denn wissen?«
»Ich möchte mich über den Stand der Ermittlungen informieren. Meine Leser wollen wissen, ob der Mann inzwischen identifiziert wurde.«
Mit ›meine Leser‹ bluffte Mike erst recht. Nachdem er heute Morgen gefeuert worden war, hatte er keine Leser mehr. Er hoffte aber, seinem Anliegen damit mehr Gewicht zu verleihen.
»Haben Sie auch schon etwas von Datenschutz gehört? Wenigstens das gibt es bei uns in der Schweiz noch.«
Der Mann wandte seinen Blick von Mike ab und wischte sich demonstrativ einige Krümel seines Frühstücks von seinem grauen Kittel, der einige Nummern zu klein wirkte.
»Hören Sie bitte zu. Ich bin Journalist und weiß, welche Informationen Sie herausgeben dürfen, ohne den Datenschutz zu verletzen. Suchen Sie jemanden, der mir Antworten liefern kann, oder nicht?«
Der Beamte runzelte seine Stirn und nahm provokativ langsam den Telefonhörer in die Hand. Er sprach leise, sodass Mike dem Gespräch durch die Glaswand nicht folgen konnte.
»Also dann. Es kommt gleich jemand. Dort ist der Warteraum.«
Mike musste nicht lange warten, bis ein uniformierter Polizist in den Warteraum trat.
»Sind Sie der Journalist, der nach einem angeblichen Unfall in der Aare fragt?«
Die höfliche Stimme wirkte künstlich aufgesetzt.
»Ja.«
Bevor Mike sich vorstellen konnte, hielt ihm der Polizist die Hand entgegen, als ob er an einer Kreuzung den Verkehr anhalten wollte.
»Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen. Gestern ist bei uns keine Meldung über einen angeblichen Badeunfall eingegangen. Es muss sich um einen Irrtum Ihrerseits handeln.«
Mike sah ihn erstaunt an.
»Nein, da muss es sich um einen Irrtum Ihrerseits handeln, denn ich war dabei, als die Leiche aus der Aare gezogen wurde und als Ihre Kollegen sie untersuchten. Und es war übrigens kein angeblicher Badeunfall.«
»Wie gesagt, es tut mir leid, Herr Honegger, uns ist nichts bekannt. Ich habe alle Meldungen von gestern selbst überprüft. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
Er schaute Mike direkt in die Augen und setzte erneut sein künstliches Lächeln auf.
»Was Sie sagen, stimmt nicht und Sie wissen es! Einer Ihrer Kollegen hat meine Personalien aufgenommen.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich war ja, wie Sie wissen, selbst nicht anwesend. Abschließend kann ich nur wiederholen: Uns ist nicht bekannt, dass gestern jemand in der Aare verunfallt ist. Vielleicht war der Mann ja nur ohnmächtig und Sie glaubten, er sei tot gewesen. Solche Verwechslungen kann es geben und führen unweigerlich zu peinlichen Missverständnissen. Leider konnte ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
Er verschwand durch den Türrahmen, und Mike hörte nur noch das Piepsen des Badgelesers, als er die Sicherheitstür ins Innere des Gebäudes öffnete.
Als Mike aus dem Wartesaal trat, ignorierte ihn der dicke Beamte am Schalter, der in irgendwelchen Papieren wühlte. Er verließ das Gebäude, ging die Stufen zum Vorplatz hinunter und spazierte nachdenklich durch den schönen Garten zum Eisentor und zum Waisenhausplatz, wo er sich auf eine Bank setzte und dem Wasser zuschaute, das über den Oppenheim-Brunnen plätscherte. Er spürte, dass der Polizist mehr wusste, als er zugab, und ihn angelogen hatte. Er hatte auch das Gefühl, dass ihm im Gespräch mit dem Polizisten etwas entgangen war, das ihm hätte auffallen müssen, etwas, das nicht stimmte. Gedanklich ging er das Gespräch mit ihm noch einmal durch, erkannte aber nicht, was es sein könnte.
Eine Gruppe Touristen folgte dem von ihrer Reiseleiterin hochgehaltenen Sonnenschirm und hielt vor dem bekannten Brunnen an. Noch bevor die Reiseleiterin mit ihren Ausführungen beginnen konnte, knipsten schon unzählige Kameras. Hinter der Gruppe verließen drei Geschäftsherren mit Aktenkoffern in den Händen ein Schulgebäude. Mike schaute ihnen zu, wie sie sich voneinander verabschiedeten. Da fiel ihm ein, was ihm im Gespräch mit dem Polizisten entgangen war: Der Polizist hatte ihn mit seinem Namen angesprochen, Mike hatte sich aber in der Polizeiwache nicht namentlich vorgestellt. Der Polizist konnte seinen Namen unmöglich kennen. Außer … ja, der Polizist hatte den Bericht von gestern gelesen. Dort waren seine Personalien vermerkt, und deshalb kannte er seinen Namen.
Er schloss die Augen und dachte über den gestrigen Tag nach. Bei ihrer Ankunft an der Aare hatten sich die Polizisten und die Beamtin nicht vorgestellt. Aber danach … ja, jetzt konnte er sich wieder daran erinnern. Die Frau hatte den kleineren der beiden Polizisten neben der Leiche mit seinem Namen, Kunz, angesprochen. Und bei der Eröffnung des Protokolls in das Diktiergerät hatte sie ihren eigenen Namen genannt. Jacqueline irgendetwas. Meyer-Lang, ja, das war ihr Name gewesen. Er musste die beiden Polizisten und die Frau in Zivil finden. Die wussten genau, was geschehen war. Er öffnete die Augen und sah den Touristen nach, wie sie zum Bärenplatz in Richtung Bundeshaus weiterzogen. Dann nahm er sein Handy hervor.
»Kantonspolizei Bern, grüessech.« Er drückte es näher ans Ohr.
»Könnten Sie mich bitte mit Frau Meyer-Lang verbinden?«
»Moment bitte«, Mike hörte den Mann den Namen auf der Tastatur seines Computers schreiben. »Es tut mir leid, wir haben keine Frau Meyer-Lang bei uns. Sind Sie sicher, dass der Name stimmt?«
»Ja, ganz sicher. Können Sie noch einmal nachschauen?«
»Ich habe unter Meyer gesucht, mit i und mit y. Auch unter Lang finde ich niemanden. Kann Ihnen vielleicht jemand anders helfen?«
»Ja, da ist noch ein uniformierter Polizist namens Kunz. Könnten Sie mich bitte mit ihm verbinden?«
Wieder hörte Mike das Tippen auf der Tastatur.
»Kunz, Jürg. Ja, den habe ich gefunden. Ich verbinde.«
Das Telefon klingelte dreimal.
»Kantonspolizei Bern, Kunz.« Mike erkannte die Stimme sofort. Es war der Polizist von gestern.
»Guten Tag, Herr Kunz, ich bin Mike Honegger und war gestern dabei, als Sie die Leiche untersuchten, die in der Aare entdeckt wurde. Ich würde Ihnen gerne einige Fragen zu diesem Fall stellen.«
Kunz erwiderte nichts. Er hängte das Telefon auf.
Mike wählte die Nummer noch einmal und wurde wieder verbunden. Das Telefon klingelte und klingelte. Dann meldete sich ein Beantworter. »Der gewünschte Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie nach dem Ton …«
Mike wartete das Ende der Meldung nicht ab und hängte auf. Frustriert schlug er mit der Faust neben sich auf die eiserne Bank. Jeder Versuch, etwas herauszufinden, führte in eine Sackgasse.
Sein Magen begann zu knurren, es war fast Mittag. Im nahe gelegenen Starbucks kaufte er sich ein Sandwich und einen Kaffee und setzte sich unter einen Sonnenschirm auf den Balkon. Die Sonne brannte heiß auf den Platz. Mike blickte auf die Menschen herab, die sich im Schatten der Bäume eine Pause von der Arbeit oder vom Einkauf gönnten. Kunz wollte nicht mit ihm reden, Meyer-Lang war bei der Polizei unauffindbar. Trotzdem musste er mehr über den Toten herausfinden. Aber, wie?
Kapitel 3
Mike drückte auf den Klingelknopf der Gegensprechanlage neben der verschlossenen Glastür des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Bern und blickte in das schwarze Auge der Kamera über dem Lautsprecher.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, tönte eine blecherne Stimme aus der Anlage.
»Mein Name ist Mike Honegger. Ich bin Journalist und recherchiere einen Todesfall von gestern. Die Leiche wurde von der Polizei hierher geschickt. Ich würde Ihnen gerne einige Fragen zum Opfer stellen.«
Mehrmals klickte es aus dem Lautsprecher, als ob die Frau am Empfang mehrere Anläufe nehmen musste, eine Antwort zu formulieren.
»Es tut mir leid, ich kann Sie nicht hereinlassen. Wir geben der Presse hier keine Auskünfte. Stellen Sie Ihre Fragen bitte schriftlich an unsere Abteilung Kommunikation. Die hilft Ihnen gerne weiter.«
Ein letztes Klicken aus dem Lautsprecher signalisierte das Ende des Gesprächs. Durch den Besuchereingang würde Mike nicht ins Gebäude gelangen.
Er folgte der Gebäudefront rechts um die Ecke und blickte auf die gesamte Länge des dreistöckigen, grauen Gebäudes. Eine breite Rampe neben den Treppen führte der Seite entlang hinunter zu den tiefer gelegenen Eingängen der verschiedenen Institute, die im Gebäude untergebracht waren und vor denen Studenten auf Treppenstufen saßen und den warmen Mittag genossen. Links unter ihm, am vorderen Ende des Gebäudes, stand ein Servicewagen einer Liftfirma vor einem breiten, offenen Tor, das in eine Werkstatthalle führte. Zwei Techniker in Overalls lagen mit geöffneten Oberteilen auf der Laderampe in der prallen Sonne. Mike stieg die Treppen hinunter, grüßte die beiden selbstsicher beim Vorbeigehen und betrat die Werkstatthalle, wo er nach dem Eingang ins Gebäude suchte. Er hatte Glück. Um die Sicherheitstür, die ins Innere des Gebäudes führte, nicht jedes Mal elektrisch vom Empfang aus öffnen lassen zu müssen, hatten die beiden Techniker sie mit einem Holzbalken blockiert. Als er sich ihr näherte, drehten Sensoren das Licht im langen grauen Gang dahinter automatisch an. Über die Treppe am Ende des Gangs gelangte er ins Erdgeschoss. Die Luft roch nach Desinfektionsmittel, die Wände zeigten blanken Beton, der Boden war mit billigem Linoleum belegt. Die Gänge im Erdgeschoss wirkten so düster und farblos wie die im Untergeschoss. Nur die eingravierten Metallschilder neben den Türrahmen wiesen auf den Standort hin. Aus einem der Räume drangen Stimmen und Gelächter. Den Schildern mit Namen von Mitarbeitern nach schien es sich in diesem Trakt um Büroräumlichkeiten zu handeln. Am Ende des Gangs bog Mike links in einen nächsten Gang ab.
Die Beschriftung neben der ersten Tür, T4.101 Pathologie, Raum C, half ihm nicht weiter. Als er zur nächsten Tür wollte, hörte er hinter sich den Glockenton des Lifts. Eine kräftige Frau in hellblauen Latzhosen, mit einem langen schwarzen Zopf, rollte ihren Putzwagen aus dem Lift vor sich her und pfiff dabei leise ein Lied. Im Wagen türmten sich Putzmittel, Lumpen, Kehrichtsäcke und Schwämme durcheinander.
»Kann ich helfen Ihnen, junger Mann?« Spanierin oder Italienerin, dachte Mike.
»Ja, mein Onkel ist seit gestern verschwunden, und die Polizei will uns nicht weiterhelfen. Anscheinend ist aber ein Mann gestern tot aufgefunden und hierher gebracht worden. Ich hoffe, es handelt sich nicht um Hans-Jörg.« Er inszenierte eine Tränenpause. »Meine Mutter würde das nicht ertragen.«
»Dios mío, qué terrible«, antwortete die Frau. »Sie müssen holen Bewilligung von Behörden, sonst keine Informationen hier.«
»Das habe ich ja bereits versucht, aber es dauert mindestens drei Tage, bis mein Antrag bearbeitet wird. Sie wissen ja, wie langsam Behörden arbeiten.« Er schaute sie so traurig an, wie er konnte, und schämte sich gleichzeitig, diese Frau anlügen zu müssen.
»Ja, ich kenne, von Aufenthaltsbewilligungsbüro. Ei, ei, ei. Aber bevor ich in Schweiz kam, war Leben noch voller von Bürokratie. Hier besser, weniger Bürokratie.« Sie lächelte ihn an und zeigte dabei ihre schneeweißen Zähne.
Mike schielte auf das Schild an ihren Kleidern. »Hören Sie, Laura, ich kann meine Mutter nicht drei Tage lang leiden lassen. Sie müssen mir helfen! Bitte.«
Sie schaute ihn voller Mitleid an und zeigte mit ihrem Blick zu einer Tür neben dem Treppenhaus.
»Kommen Sie! Aber Chef nichts erfahren, sonst ich wieder ohne Job«, flüsterte sie konspirativ.
Die Tür, die sie mit ihrem Schlüssel öffnete, führte in einen kleinen, fensterlosen Raum. Von den beiden Neonröhren an der Decke warf nur noch eine etwas hellgraues Licht auf das Reinigungsmaterial, das hier in Schachteln gelagert wurde, aufgereiht in Metallgestellen, die vom Boden bis zur Decke reichten.
Sie schloss die Tür hinter sich und stellte sich vor ihn. »Ja, gestern haben gebracht Mann. Ist Sissi-Mann.«
»Sissi-Mann?«
»Ja, habe gehört, dass Mann erstochen in Herz mit dünne Nadel oder Feile. Wie Kaiserin Sissi in Genf, als sie auf Schiff ging. Bei Sissi zuerst niemand gesehen, das war Mord. Sie haben Film gesehen?«
»Nein, den Film habe ich nie gesehen. Nur davon gehört.«
»Sie verpassen gute Film, wirklich. Mit hübscher König Franz-Joseph, eh!«
Mike kam wieder auf sein Anliegen zurück.
»Können Sie mir die Leiche zeigen?«
Sie starrte ihn mit großen Augen an und fragte: »Ich, Leiche zeigen?«
»Ich muss wissen, ob es sich beim Mann um meinen Onkel Hans-Jörg handelt. Für meine Mama. Hoffen wir, dass er es nicht ist!«
Laura schüttelte heftig ihren Kopf, sodass ihr langer Zopf hin und her schwenkte. »No, das unmöglich. Ganz unmöglich. Toter jetzt in Kühlraum, mit Kamera kontrolliert. Dass Tote mit Kamera kontrollieren, ist komisch, no? Die gehen ja sicher nicht mehr weg aus Kühlraum! Aber ich habe Toter vor Operation auf Tisch gesehen. Es war weißer Mann mit schwarzen Haaren und große Bauch. Zu viel mexikanisches Essen gegessen.« Sie lächelte wieder.
»Mexikanisches Essen?«
»Ja, habe gehört, wie Arzt hat auf Protokoll diktiert.« Sie wurde wieder ernst und flüsterte: »Magen mit mexikanischem Essen voll. Bohnen, Mais, Tortillas und so. Nicht appetitlich hier arbeiten, aber Lohn für putzen besser als zu Hause sitzen.«
»Ein Mann mit schwarzen Haaren, sagen Sie?« Mike täuschte Erleichterung vor und hielt beide Hände hoch. »Das ist nicht Hans-Jörg! Mein Onkel hat ganz blonde Haare, er kann es nicht sein. Oh, Mama wird überglücklich sein.«
Laura freute sich mit Mike und öffnete ihre schwarzen Augen weit. Mit einem herzlichen Lächeln fuhr sie fort.
»Gracias a dios! Bin froh um Sie. Ist gut für Mama und Familie.«
Mike wollte die Gutmütigkeit dieser Frau nicht überstrapazieren und wusste, im richtigen Moment mit seinem Spiel aufzuhören.
»Laura, Sie sind eine gute Frau. Ich danke Ihnen, dass Sie mir geholfen haben! Auf Wiedersehen.«
»Adios, junger Mann. Sie auch guter Mensch sein. Ich so spüren. Hoffentlich kommt Hans-Jörg bald zurück! Und aufpassen, Sie nicht hier sein dürfen!«
Mike verließ das Gebäude durch die Werkhalle, froh, niemandem zu begegnen. Die Lifttechniker auf der Laderampe genossen weiterhin ihre Mittagspause und beachteten ihn nicht. Inzwischen waren dünne Schleierwolken am Himmel aufgezogen, durch die das Sonnenlicht milchig wirkte. Der Nachmittag war jedoch weiterhin angenehm warm, und Mike schlenderte in Gedanken versunken gemütlich durch das Länggassquartier in Richtung Bahnhof.
Endlich hatte er Fakten in der Hand. Die Leiche eines Mannes, höchstwahrscheinlich des Toten in der Aare, lag mit einer Nadel oder einer dünnen Feile erstochen im Institut. Mike erinnerte sich an den Ring, den er am Toten gesehen hatte. Der Ring … ja, wie hatte er dieses Detail nur vergessen können. Solche Ringe kannte er aus den USA. Abschlussringe von Colleges und Universitäten. Viele Amerikaner tragen solche Ringe und drücken damit ihren Stolz auf ihren Titel und auf ihre Alma Mater, ihre Ausbildungsstätte, aus. Mike hatte am Ring an der Leiche auf der einen Seite die Buchstaben B.A. gelesen, auf der anderen Seite die Jahreszahl 1985. Der Name des Colleges umgab das goldene Siegel in der Mitte des Rings: Denver City College. Der Mann hatte also 1985 mit einem Bachelor of Arts im Denver City College abgeschlossen. In Europa kennt man solche Ringe nicht. Die Leiche war mit großer Wahrscheinlichkeit die eines Amerikaners, folgerte Mike. Natürlich nur unter der Annahme, dass er wirklich seinen eigenen Ring trug. Als letzte Mahlzeit vor dem Tod hatte er ein mexikanisches Gericht eingenommen. Das konnte zwar irgendwo gewesen sein, Mike kannte aber mehrere mexikanische Restaurants in der Stadt. Er rechnete nicht damit, dort auf Hinweise zum Toten zu stoßen, wollte es aber trotzdem versuchen.
Am Bubenbergplatz kannte er das ›El Ranchero Mexicano‹. Er überquerte den Platz zwischen Trams, Autos und Velos und stieg die Treppe hinauf zum Eingang des Restaurants im zweiten Stock des hässlichen, modernen Bürogebäudes. Ein mit Klebestreifen befestigtes, handgeschriebenes Papier an der Tür neben alten Konzert- und Theaterprogrammen wies auf die Öffnungszeiten hin. Betriebsferien von Mitte Juli bis Mitte August, dann offen Dienstag bis Freitag, abends. Enttäuscht verließ er das Gebäude wieder und blickte über den Platz auf das Denkmal an Adrian von Bubenberg, der in der Schlacht von Murten 1476 gegen Karl den Kühnen gesiegt hatte. Einen Geschichtsprofessor als Vater gehabt zu haben, hinterließ so seine Spuren, schmunzelte er.
Mike ging zurück über den Bahnhofplatz und entlang der von alten Gebäuden und schönen Lauben flankierten Spitalgasse. Auf der rechten Seite, in einem der Keller, befand sich das ›El Bandido Sucio‹. Der Geruch der feinen mexikanischen Spezialitäten drang bis zur Straße und verführte nicht wenige Passanten zum Essen. Das Restaurant war bis auf einen Tisch voll besetzt. Er fragte einen Angestellten, der dabei war, frische Chips und Salsa den Gästen zu bringen, ob er sich an einen Amerikaner erinnern könne, der vorgestern im Restaurant gegessen hatte, und beschrieb den Mann.
»No, lo siento. Es waren keine Amerikaner oder Engländer hier. Ich arbeitete den ganzen Abend, wie immer. Nur Schweizer oder Deutsche und einige Latinos.«
Enttäuscht stieg Mike die steile Treppe aus dem Keller hinauf auf die Straße und begab sich zum dritten mexikanischen Restaurant. Dieses kannte er gut, denn er hatte dort schon mehrmals gegessen. Es lag in der unteren Altstadt, unweit der Aare, in der Nähe des Bärenparks.
»Ja, ich kann mich erinnern. Vorgestern war das. Ich arbeite hier so oft ich kann, um Geld zu verdienen. Damit helfe ich, mein Studium zu finanzieren. Dort drüben saßen die beiden Amerikaner, am Vierertisch.« Die junge Frau mit den Sommersprossen, die ihr rotes Haar in einem Knäuel zusammengebunden trug, zeigte zu einem Tisch, über dem ein farbiger Sombrero an der Wand neben einer Werbetafel für Tequila hing. »Es waren zwei Herren. Einer hatte schwarze Haare, der andere eine Glatze. Der mit der Glatze hat mir ein besonders gutes Trinkgeld bezahlt. Deshalb kann ich mich an sie erinnern. Amerikaner sind mit Trinkgeldern immer sehr großzügig, wissen Sie.«
Mike sprach die junge Frau mit Du an.
»Ist dir an den beiden irgendetwas Besonderes aufgefallen?«
»Nein, nur dass sie miteinander Englisch sprachen und gegen Ende des Abends recht laut wurden. Sie stritten sich um irgendetwas. Worum es bei der Diskussion ging, weiß ich nicht. Das Restaurant war ausgebucht, und wir hatten mit mehreren großen Gruppen alle Hände voll zu tun. So, jetzt muss ich mich bereit machen, bald treffen die ersten Gäste zum Abendessen ein.«