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Als Mike weggehen wollte, sprach sie ihn noch einmal an.
»Ah, etwas habe ich noch vergessen. Der Mann mit der Glatze trug auf dem rechten Arm ein großes Tattoo. Ein riesiger Dolch deckte fast seinen ganzen Unterarm ab. Darum herum wickelte sich eine Schlange. Dann stand noch irgendetwas geschrieben, ich konnte es aber nicht lesen.«
Mike bedankte sich und machte sich auf den Weg nach Hause.
Kapitel 4
Ella Branson warf ihre Akten mit einem lauten Knall vor sich auf den Sitzungstisch.
»Muss ich die Sicherheitsstoren schließen, David?«
Der Mann zu ihrer rechten griff sofort nach der Fernbedienung und drückte auf den entsprechenden Knopf. Der Blick auf den hohen Stacheldrahtzaun und auf die Straßensperre neben dem Wachlokal vor der Einfahrt in die amerikanische Botschaft verschwand langsam hinter den Storen, die sich auf beiden Seiten der gepanzerten Fenster mit einem leisen Summen senkten. David schaltete das Deckenlicht an, das den Raum in ein bläuliches Neonlicht flutete.
Die schlanke Frau in den Fünfzigern trug dunkle Hosen und ein passendes Jackett über einer weißen Bluse. Als einziger sichtbarer Schmuck hing ein kleiner goldener Kreuzanhänger von einer Goldkette um ihren Hals. Sie setzte sich an den Kopf des langen, massiven Sitzungstisches und schaute zu David. Seinen Kollegen zu ihrer Linken ignorierte sie.
»Was zum Teufel ist denn geschehen?«
»Der Mann ist nicht aufgetaucht«, antwortete David ruhig und sachlich.
»So viel weiß ich auch. Weiter!«
»Rick und ich hatten mit ihm vereinbart, ihn gestern Nachmittag um 15 Uhr beim Affengehege im Tierpark Dählhölzli zu treffen.«
Ella schüttelte ihren Kopf. »Zwei US-Agenten wollen in einer verdeckten Operation am Nachmittag im Zoo, mitten unter Hausfrauen und Kindern, einen amerikanischen Kriminellen treffen? Und das am Nationalfeiertag der Schweiz? Sie gehören alle drei ins Affengehege! Ich dachte, Sie zwei wären vom Geheimdienst ausgebildet worden!« Sie blickte kurz zu Rick. »Sie, Perez, waren nicht im Militär. Sie wurden ja nur am Schreibtisch ausgebildet. Aber Sie, Reynolds, Sie haben in der Army gedient. Sie hätten es besser wissen müssen. Gibt es denn hier in Bern keinen geeigneteren Treffpunkt als den Zoo?«
David senkte seinen Blick.
Rick wusste, dass David einen Streit mit ihr vermeiden wollte, und beantwortete die Frage für ihn. »Es war sein Vorschlag. Er fühlte sich in der Menschenmenge sicherer und wollte bei Gefahr darin verschwinden können. Zugegeben, er hat keinen idealen Ort ausgewählt, aber …«
»Genug jetzt!«, unterbrach ihn Ella. »Ist er nicht erschienen, weil Sie zu schnell vorgegangen sind?«
»Wir sind seit mehreren Tagen in telefonischem Kontakt mit ihm, und in der kurzen Zeit ist es uns gelungen, mit ihm ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Er hat uns bei jedem Gespräch mehr Informationen geliefert. Rick und ich waren der Meinung, dass die Beziehung reif war für eine erste Begegnung«, erklärte David.
»Was wissen wir denn bis jetzt?«
»Er behauptet, Schmuggler von Kunstgegenständen zu sein. Er werde von einem Killer verfolgt, der versucht habe, ihn hier in Bern zu erschießen. Er verfüge im Zusammenhang mit dem Kunstschmuggel über wertvolle Informationen und wolle mit uns einen Deal aushandeln, Angaben zum weltweiten Kunstschmugglerring, mit dem er zu tun hat, gegen Schutz und Straffreiheit. Er befürchtet, der Killer werde wieder zuschlagen und er werde kein zweites Mal entkommen, wenn wir ihn nicht beschützten. Wenn Sie mich fragen, hat er einfach den falschen Kunden oder Lieferanten geärgert. Dieser will jetzt mit ihm abrechnen, und der Mann bekam kalte Füße.«
»Kunstschmuggler? Als Sie mich um Ressourcen baten, um diesen Fall weiterzuverfolgen, gingen Sie noch davon aus, er könnte der Waffenschmuggler sein, den wir eigentlich suchen sollten. Jetzt stellt sich heraus, dass Sie wertvolle Zeit, die wir nicht haben, für einen einfachen Kunstschmuggler verschwendeten.«
»Wir glauben nicht, dass er nur ein einfacher Kunstschmuggler ist. Er sprach von einer professionell organisierten Schmuggeloperation, die unter anderem über den Flughafen Zürich operiert. Es geht um den weltweiten Schmuggel äußerst wertvoller Kunstgegenstände, ein Millionengeschäft. Er hat uns dazu glaubhafte Insiderinformationen geliefert. In kleinen Häppchen, jeweils nur genügend, um uns zu beweisen, dass er weiß, wovon er spricht und ein wertvoller Informant werden könnte.«
Ella Branson schaute auf ihre goldene Uhr.
»Lassen Sie mich rekapitulieren, meine Herren. Washington hat herausgefunden, dass Waffen durch die Schweiz geschmuggelt werden, und hat uns beauftragt, dringend und mit allen nötigen Ressourcen herauszufinden, wer in der Schweiz dahintersteckt. In wenigen Stunden ist es in Washington Morgen, und dann soll ich erklären, dass wir bei dieser Untersuchung keinen Schritt weitergekommen sind, dafür aber auf der Fährte eines Bilder- und Vasenschmugglers sind?«
Weder David noch Rick antworteten auf die Frage.
»Wenn Sie mich fragen, war es diesem Larry, oder wie er auch wirklich heißen mag, nicht ernst. Er bekam kalte Füße, hat es sich dann aber neu überlegt und mit seinem Kunden Frieden geschlossen. Deshalb ist er nicht aufgetaucht. Vergessen Sie ihn und widmen Sie sich wieder Ihrem Auftrag: die Aufklärung des Waffenschmuggels. Und zwar sofort! Washington hat mir eine wichtige Aufgabe anvertraut, und ich werde nicht wegen Ihnen Zwei versagen!«
David lehnte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch nach vorn und sagte: »Mein Gefühl sagt mir, dass an diesem Larry etwas ist. Ich habe in kürzester Zeit mit ihm einen guten Kontakt aufgebaut und möchte ihn nicht einfach fallen lassen. Er hat es sich nicht anders überlegt. Ich weiß, dass er sich wieder melden wird.«
»Ihr Gefühl sagt Ihnen etwas? Hören Sie lieber auf mich als auf Ihr Gefühl! Der Fall ist abgeschlossen. Zurück zum Waffenschmuggel. Das ist ein Befehl.«
Ella stand auf, nahm ihre Akten vom Tisch und verließ ohne ein weiteres Wort zu verlieren den Raum. Im selben Moment schaltete die Klimaanlage ein, und kühle Luft strömte durch die Lüftungsschlitze in der Decke. Die beiden Agenten David Reynolds und Rick Perez schauten einander an und atmeten laut aus. Sie wussten nicht, ob die Abkühlung, die sie spürten, von der Klimaanlage kam oder ob sie mit dem Verschwinden von Ella Branson aus dem Raum zu tun hatte.
»Du hast sie gehört, David. Wir sollen den Mann vergessen.«
»Tut mir leid, das kann ich nicht. Ich spüre, dass Larry uns noch wertvolle Informationen liefern wird. Er will mit uns zusammenarbeiten und fürchtet um sein Leben. Das habe ich in seiner Stimme gehört. Ich habe ihm versprochen, wir fänden einen Weg zu einem Deal. Da kann ich ihn nicht einfach den Haien zuwerfen.«
»Du spürst, sagst du? Woher willst du das spüren?«
»Wenn du lange genug im Business bist, Rick, entwickelst du für solche Sachen ein Gespür. Das wirst du mit der Zeit auch, du wirst sehen.«
»Den Befehl von Branson musst du aber befolgen, sonst …«
»Hör auf, Rick. Komm mit!«, unterbrach er ihn und war bereits an der Tür angelangt.
Einen Stock unter dem abhörsicheren Sitzungsraum betrat David die Sicherheitsschleuse. Als sich die äußere Glastür geschlossen hatte, gab er seinen persönlichen Code auf der Tastatur ein und ließ den Sensor an der Wand sein Auge scannen. Eine elektronische Stimme verkündete ›David Reynolds erfolgreich authentisiert‹. Das Licht über der inneren Glastür wechselte von Rot auf grün, und die Tür schob sich leise zur Seite. Mit einem Zischen glich sich der Druck in der Schleuse dem des Raums an. Während David auf Rick wartete, blickte er in den fensterlosen Nachrichtenraum, der ihn jedes Mal an ein Kontrollzentrum der NASA erinnerte.
Zwei Frauen und vier Männer saßen an zwei langen, hintereinander stehenden Arbeitstischreihen vor ihren Bildschirmen und schrieben auf ihren Tastaturen oder sprachen in ihre Headsets. Ein Durcheinander von Dokumenten, Ordnern, Schreibzeug, Kartonbechern mit Kaffee und Getränkedosen überdeckte die Arbeitsflächen.
David überprüfte über die Köpfe des Teams die Informationen auf den großen Flachbildschirmen an der Wand gegenüber. Auf dem kleineren Bildschirm ganz links außen erschienen die National Terrorism Advisory System-Meldungen des amerikanischen Department of Homeland Security, des Ministeriums für Innere Sicherheit. Das System hatte die frühere farbenbasierende Gefahrenskala abgelöst und informierte die Zivilbevölkerung über terroristische Gefahren. ›Keine aktuellen Alarmmeldungen‹, las David unter dem Logo des Ministeriums. Die Öffentlichkeit konnte sich in Sicherheit wähnen. Die Welt war aber weit weniger friedlich. Der größere Bildschirm in der Mitte zeigte klassifizierte Informationen und Nachrichten an, die nur für Geheimdienste bestimmt waren. Mögliche Terrorangriffe im Nahen Osten, ein Spionagefall in Nordkorea, ein hochrangiger Botschaftsmitarbeiter in Venezuela ermordet, Anzeichen auf eine bevorstehende Entführung eines Linienflugs nach New York. Das ist die reale Welt, dachte David. Inzwischen war Rick durch die Schleuse zu ihm gelangt.
David ging durch den Raum und stellte sich vor den großen Bildschirm. »Ruhe bitte. Zuhören!« Alle richteten ihre Blicke auf die beiden Agenten.
»Schau mal, Batman und Robin«, witzelte eine der Frauen.
»Ja, ja«, antwortete David, »im Ernst, Leute. Wir hatten soeben eine Sitzung mit Ella Branson.«
»Und ihr lebt noch?«, rief jemand anders. David ließ sich nicht ablenken.
»Nachdem man ihn zu erschießen versuchte, bekam ein Waffenschmuggler, den wir nur unter seinem Pseudonym als Larry kennen, in seiner Welt kalte Füße, und jetzt sucht er bei uns Schutz im Tausch gegen Informationen. Wir stehen seit einigen Tagen in telefonischem Kontakt, er erschien aber gestern nicht an ein erstes vereinbartes Treffen mit uns. Seit dann hat er sich auch nicht mehr gemeldet. Wir haben jetzt den Auftrag, ihn zu finden.«
Rick schaute David mit großen Augen an.
»Bist du wahnsinnig geworden, David? Das kannst du nicht machen! Er ist kein Waffenschmuggler, und Branson hat uns befohlen, Larry in Ruhe zu lassen. Du musst sofort aufhören!«, flüsterte er ihm zu.
David ignorierte ihn und fuhr fort.
»Sam, projiziere die Liste der an mich eingegangenen Anrufe der vergangenen Woche auf den rechten Bildschirm, sortiert nach Telefonnummer, mit Datum und Zeit.«
Die Frau tippte einige Befehle in ihre Tastatur ein, und auf dem Bildschirm an der Wand erschien eine lange Tabelle mit Zahlen. David studierte die Liste und ließ Samantha durch die Tabelle blättern.
»Halt! Da, diese Anrufe sind von Larry. Da haben wir auch seine Telefonnummer. Was ist das für eine Nummer, Sam?«
Samantha gab einige Suchbefehle auf der Tastatur ein und antwortete. »Das ist eine Schweizer Prepaidhandynummer. Sie ist auf eine Gerda Schatz registriert. Moment noch, ich suche nach ihr … Komisch, diese Nummer wurde als gestohlen gemeldet.«
»Hab ich mir gedacht. Larry ist ein schlauer Kerl! Er ruft mich nur mit einem gestohlenen Handy an, das keinen Rückschluss auf ihn zulässt!«
Er blickte auf den Bildschirm und überlegte einen Moment.
»Nguyen und Roberto, ihr geht seinen Telefonanrufen nach. Kontaktiert Washington! Die NSA soll uns von den Schweizer Mobiltelefonanbietern die Metadaten der Anrufe dieser Nummer für die letzten vier Wochen besorgen. Wir wollen wissen, wen Larry wann, wo von dieser Nummer angerufen hat und von wem er Anrufe empfangen hat. Vielleicht benutzt er ein Smartphone. Lasst sie also auch seinen Datenverkehr nach E-Mail-Adressen oder besuchten Websites untersuchen. Sobald Washington seine E-Mail-Adresse herausfindet, suchen Caroline und Steve damit nach ihm im Internet! Unsere NSA-Kollegen sollen in Facebook, Twitter, Skype, WhatsApp usw. nach Familie, Freunden und Komplizen suchen. Larry ist von den USA nach Europa geflogen, also muss er Spuren in den Rechnern der Fluglinien hinterlassen haben. Er bezahlt sicher auch mal ohne Bargeld, also hinterlässt er Spuren in Banken und bei Kreditkartenanbietern. Macht schon! Besorgt mir einen Namen und ein Gesicht! Los!«
Hektik und Lärm brachen aus, als sich alle an die Arbeit machten. Er verließ den Raum durch die Schleuse, Rick folgte ihm. Kaum waren sie alleine im Gang, packte Rick ihn am Ärmel.
»Was soll das! Branson hat dir befohlen, den Mann zu vergessen, und du eskalierst den Fall zu einer ausgeweiteten Suchaktion? Mit welcher Befugnis? Was, wenn die NSA fragt, wer diese Suche angeordnet und genehmigt hat? Wenn Branson das vernimmt, macht sie aus uns beiden Hackfleisch.«
David antwortete Rick mit ruhiger Stimme.
»Vertrau mir! Mein Gefühl hat mich noch nie im Stich gelassen. Ich muss etwas unternehmen, um den Mann zu finden. Wenn wir in 24 Stunden nicht weiter sind, höre ich damit auf. Ich verspreche es dir.«
»Wir können von Glück reden, wenn Branson 24 Stunden lang nichts davon erfährt!«
Am Nachmittag begab sich Ella Branson wieder in den Sitzungsraum, in dem sie mit Rick und David zusammengesessen hatte. Sie setzte sich an den Tisch und breitete ihre Notizen geordnet vor sich aus. Wenige Augenblicke später öffnete sich der Vorhang an der gegenüberliegenden Wand, und auf einem der Bildschirme dahinter erschien das Logo der CIA. Über den Lautsprecher auf dem Tisch informierte eine weibliche Stimme, dass die Videokonferenz bereit sei. Das Logo auf dem Bildschirm verschwand, und ihr Vorgesetzter in Washington, Kenneth Leonard Wilson, erschien. Sein dickes Gesicht ließ auf die Form seines restlichen Körpers schließen. Er sah älter als seine 62 Jahre aus, und seine weißen Haare wurden langsam spärlicher. Einzig sein üppiger, weißer Schnurrbart war über Jahre als Markenzeichen unverändert geblieben.
»Hi, Ella, was hast du zu berichten? Habt ihr den Mann?«, fragte Wilson in einem breiten Texas-Slang.
»Guten Morgen, Sir. Nein, leider noch nicht. Es gab eine kleine Verspätung. Der Mann erschien gestern nicht zu einem vereinbarten Treffen mit zwei unserer Agenten. Sie haben inzwischen aber herausgefunden, dass er möglicherweise gar nicht mit dem Waffenschmuggel in Verbindung steht, sondern nur ein Kunstschmuggler war.«
Wilson überlegte kurz. »Eine falsche Fährte, um uns zu täuschen?«
»Möglich, aber ich denke nicht.«
»Die Zeit läuft uns davon, Ella. Wir arbeiten schon zu lange an diesem Fall, ohne nennenswerte Fortschritte zu erzielen. Wir dürfen uns von Nebengeräuschen nicht ablenken lassen. Was hast du angeordnet?«
»Unsere lokalen Ressourcen konzentrieren sich wieder ausschließlich auf die Suche nach Hinweisen zum Waffenschmuggel, und ich bin zuversichtlich, dass wir bald Spuren finden werden, die uns weiterbringen.«
»Du weißt, dass es der israelische Geheimdienst war, der das Weiße Haus auf den Waffenschmuggel aufmerksam machte. Die Israelis haben in mehreren Aktionen, die sie nicht näher beschreiben wollen, Waffen sichergestellt, die gemäß ihren Agenten über Europa geschmuggelt wurden. Sie sind sich ziemlich sicher, dass die Schweiz als Drehscheibe beim Schmuggel eine zentrale Rolle spielt. Es war peinlich, dass wir das von den Israelis vernehmen mussten. Deshalb hält jetzt das Weiße Haus ein Auge darauf, und wir müssen mit besonderer Dringlichkeit herausfinden, was da abläuft. Das Weiße Haus wird langsam ungeduldig, wir müssen schnell konkrete Ergebnisse vorweisen. Wenn es stimmt, dass die Waffen durch die Schweiz geschmuggelt werden, müsst ihr doch vor Ort jemanden finden, der davon weiß! Wir denken, dass mindestens die Finanzierung über Schweizer Banken läuft. Konzentriere dich also auf unser Problem! Du weißt, dass mich Verzögerungen enttäuschen.«
»Ich weiß, Sir. Es wird auch keine weiteren Verzögerungen mehr geben.«
»Ich spreche dich in 24 Stunden wieder, Ella. Viel Erfolg.«
Wilson verschwand vom Bildschirm, und das Logo der CIA ersetzte kurz darauf das Bild des leeren Arbeitsplatzes.
Kapitel 5
»Denver City College, Abteilung ehemaliger Studenten, mein Name ist Leslie, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Guten Tag, Leslie. Mein Name ist Mike. 1985 hat meine Schwester bei Ihnen ihr Studium abgeschlossen, und ich organisiere für sie ein Treffen ihrer ehemaligen Klasse. Unsere Eltern und ich möchten sie damit überraschen. Ist sie doch auch heute noch so ein Fan des Colleges! Sie können sich aber nicht vorstellen, wie schwierig es ist, nach so vielen Jahren alle ihre Kollegen und Kolleginnen zu finden. Mit vielen hat sie natürlich noch Kontakt, aber einige sind inzwischen von der Bildfläche verschwunden. Sie würden mir sehr helfen, wenn Sie mir eine aktuelle Adressliste der damaligen Klasse besorgen könnten. Haben Sie vielleicht in Ihrem Archiv auch noch Bildmaterial von damals, das ich zum Beispiel für die Einladung verwenden könnte?«
»Es tut mir leid, Mike, aber wir dürfen persönliche Daten und Adressen nicht ohne Weiteres herausgeben. Sie verstehen das sicherlich.«
»Ja, das verstehe ich, aber ich habe schon erfolglos bei Facebook, Xing, Linkedin und anderen Portalen gesucht. Ihre Liste ist unsere letzte Chance, die ganze Klasse zusammenzubringen. Es wäre doch schade, wenn einige davon nichts hörten. Meine Schwester wäre so enttäuscht.«
»Tut mir leid, ich kann das nicht ändern. Wir haben unsere Regeln.«
»Kennen Sie eine andere Möglichkeit, an die fehlenden Adressen zu gelangen?«
»Lassen Sie mich mal kurz überlegen. Ja, doch! Als ehemalige Studentin hat Ihre Schwester ein Login in das Intranet des Colleges. Dort findet Sie nicht nur Angaben zu ihrer Klasse, sondern auch Blogs und Hinweise zu interessanten Events. Ihnen kann ich aber leider nicht weiterhelfen, da Sie nicht bei uns studiert haben. Da muss schon Ihre Schwester ihre Login-Daten zur Verfügung stellen.«
Sackgasse. Mike legte das Telefon auf sein Pult und ging zum Kühlschrank in der kleinen Küche neben dem Wohnzimmer. Er war leer. Wie meistens. Er nahm sich vor, wieder einmal einkaufen zu gehen. Aus dem Türfach nahm er eine kalte Flasche Eistee und gönnte sich mehrere Schlucke daraus. Das College in Denver würde ihm nicht helfen, mehr über den ehemaligen Studenten zu erfahren, der jetzt, in einem Kühlfach von einer Videokamera überwacht, in Bern lag. Und doch war es die einzige Verbindung zu seiner Vergangenheit. Diese Fährte durfte er jetzt unter keinen Umständen verlieren. Er schritt im Wohnzimmer hin und her und überlegte, wer ihm helfen könnte, doch noch etwas aus Denver zu erfahren. Als er den letzten Schluck aus der Flasche getrunken hatte, blieb er stehen und lächelte. Er warf die Flasche quer durch das Wohnzimmer in den Abfalleimer und setzte sich zuversichtlich zurück an sein Pult.
Vor dem Bildschirm lehnte er sich konzentriert nach vorn und öffnete im Browser seines Computers den Link http://www.spideronline.org/contact. Eine Webseite erschien mit schwarzem Hintergrund und einer ganz kleinen Zeichnung einer weißen Spinne oben links. Während in der Festplatte ein Kratzen zu hören war, drehte sich auf dem Bildschirm eine kleine Sanduhr. Dann erschienen zwei weiße, unbeschriftete Eingabefelder vor dem schwarzen Hintergrund. Er klickte das obere Feld an und tippte seine E-Mail-Adresse ein. Im zweiten Feld tippte er die Worte ›Spinnen schlafen nicht‹ ein. Kaum hatte er auf den Knopf ›Absenden‹ geklickt, erschien die Sanduhr wieder und nach wenigen Sekunden die Bestätigung ›Anfrage erfolgreich‹. Jetzt blieb ihm nur noch zu warten und auf eine Antwort zu hoffen. Er legte sich so auf die gegenüberliegende Couch, dass er den Bildschirm gut sehen konnte.
Vor zwei Jahren hatte Mike mit einem zweiteiligen Artikel über die neue Generation von Gefahren und Risiken im Internet seinen ersten journalistischen Erfolg gelandet. Mehrere Schweizer Tageszeitungen hatten den Artikel veröffentlicht, und dank einer deutschen IT-Fachzeitschrift wurde er auch außerhalb der Schweiz gelesen. Sicherheitsspezialisten hatten ihm geholfen, die technischen Grundlagen zu erarbeiten. Die brisantesten Informationen seines Artikels stammten jedoch von jemandem aus der Hackerszene, der sich als ›spider‹ ausgab. Ob es sich bei diesem Hacker um einen sogenannten ethischen Hacker handelte, der keinen Schaden anrichtete, oder ob es sich um jemanden handelte, der in Systeme einbrach, um Daten zu entwenden, und schädliche Viren und anderes mehr entwickelte, hatte Mike nicht wissen wollen. Er hatte mit spider immer nur online kommuniziert und wusste nicht einmal, ob es sich bei spider um eine Person oder um eine Gruppe handelte, im Internet anonym und versteckt zu einer Einheit vernetzt. Ein virtueller Partner irgendwo auf der Welt.
Er blickte auf den Bildschirm. Gab es diesen spider überhaupt noch? Würde er ihm antworten? Und wenn ja, konnte er ihm in Denver weiterhelfen?
Mike erwachte aus einem Traum, konnte sich aber an dessen Inhalt nicht erinnern. Er lag immer noch angekleidet auf der Couch. Im Licht des Bildschirms ging er durch das inzwischen dunkle Zimmer zu seinem Pult, um die eingegangenen Mails zu prüfen. Vor wenigen Minuten war tatsächlich eine Mail eingegangen. Er hatte den Piepston, den sie auslöste, im Schlaf nicht gehört. Er öffnete aufgeregt mit einem Doppelklick den Inhalt. Die Mail bestand aus einer einzigen Zeile, ein Link. Er klickte darauf. Ein Augenblick lang geschah nichts, dann hörte er die Festplatte des Computers arbeiten. Auf dem Bildschirm erschien ein Fenster mit der Frage ›Möchten Sie spider installieren?‹. Nach dem Klick auf ›ja‹ vergingen nur wenige Sekunden, bis sich ein Chatbereich auf dem Bildschirm öffnete. Der Cursor blinkte langsam im leeren Fenster. Mike schaute gespannt auf die ersten Buchstaben, die spider irgendwo in der Welt eintippte.
»Lange nichts mehr gehört, Mike.«
Mike zog die Tastatur näher an sich heran und antwortete schnell: »Hi spider. Brauche deine Hilfe, um einen Kriminalfall zu lösen.«
»Ruf die Bullen, tschüss.«
»Nein, warte. Ich brauche echt deine Hilfe.«
»Du hast 30 Sekunden.«
»Ich berichte über einen Mord und suche nach der Identität der Leiche.«
»Nicht so mein Ding. Warum steckst du da drin?«
»Polizei behauptet, der Mord hätte nie stattgefunden. Ich habe die Leiche aber gesehen. Etwas an der ganzen Geschichte ist faul.«
»Behörden vertuschen wieder mal etwas? Dann bin ich natürlich gerne dabei. Was kann ich tun?«
»Brauche Zugriff auf geschützten Intranetbereich des Denver City College, ehemalige Studenten.«
»Hmmmmm, ok. Melde mich in einer Stunde wieder.«
Nach 45 Minuten erschien die nächste Meldung von spider auf dem Bildschirm.
»Login: tarantula, Passwort: spinnennetz.«
»Was bin ich schuldig?«
»Entlarve die Vertuscher und schreibe darüber in der Zeitung. Geht zu Lasten des Hauses. spider :-)«
Die Website des Denver City College wirkte elegant und professionell. Im Hauptmenü am oberen Seitenrand wählte Mike den Bereich Intranet. Auf der neuen Seite schreckte eine Warnung über die Folgen unerlaubten Zugriffs alle ab, die hier nichts zu suchen hatten. Darunter lud ein Formular Mitarbeiter und ehemalige Studenten ein, sich anzumelden. Als Benutzer gab er das Wort tarantula ein, als Passwort das Wort spinnennetz. Jetzt würde sich zeigen, ob spider geliefert hatte.
›Welcome to the Alumni Intranet‹, wurde er begrüßt. Wie erwartet funktionierte das Login, das spider für ihn eingerichtet hatte. Wie spider auf einem fremden Webserver so schnell ein Login für ihn einrichten konnte, wusste er nicht. Es war ihm eigentlich auch egal. Hauptsache, er konnte jetzt auf die Daten zugreifen.
Auf der Seite erschienen in verschiedenen Blogs Beiträge zu bevorstehenden Anlässen, die ehemalige Studenten in verschiedenen Städten der USA organisierten, um das Netzwerk zu pflegen. Er musste sich durch mehrere Menüs klicken, bis er in den Bereich ›Yearbooks Online‹ gelangte, mit vielen Jahreszahlen als Links. Er wusste, dass amerikanische Schulen und Universitäten diese beliebten Schülerverzeichnisse mit Bildern und weiteren Angaben jährlich herausgaben. Er suchte das Jahr 1985 und klickte darauf. Auf dem Bildschirm erschienen Bilder und Namen und er begann, jeden Eintrag genau zu studieren, in der Hoffnung, einen der Studenten darin zu erkennen.
Die Anzahl Bilder schien Mike unendlich. Sportanlässe, Theateraufführungen, Ausstellungen. Er vergrößerte jedes auf dem Bildschirm und untersuchte jedes Gesicht von Nahem. Den Mann, den er suchte, erkannte er auf keinem der Bilder. Als er endlich zu Portraitaufnahmen der Studenten und Studentinnen gelangte, die er nicht vergrößern musste, kam er schneller voran, und es dauerte nicht mehr lange, bis er fündig wurde. Das Bild zeigte den Mann, zwar fast 30 Jahre jünger und etwas magerer, mit langen Haaren, aber Mike war sich sicher. Es war das Gesicht der Leiche in der Aare. Unter dem Bild stand der Name des jungen Studenten: Jason ›Jay‹ Briggs. Er starrte lange auf das Portrait, das die Leiche in eine Person mit Namen und Gesicht verwandelte. Begeistert suchte Mike im Yearbook nach weiteren Hinweisen zu diesem Briggs. Er gelangte zu den Gruppenbildern von Studenten und untersuchte jedes genau, doch vergeblich. Briggs erschien kein weiteres Mal. Auch nicht auf den Bildern der Abschlussfeier. Mike fragte sich, ob Briggs vielleicht sein Studium nie abgeschlossen hatte und den goldenen Abschlussring nur zur Show trug.