- -
- 100%
- +
Der Erfolg im Intranet des Colleges hatte seinen Appetit nach mehr angeregt, so drehte er das Licht im Zimmer an, holte sich eine weitere Flasche Eistee aus dem Kühlschrank und suchte weiter. Jetzt, da er den Namen des Mannes kannte, würde die Suche einfacher, hoffte er. Seine Suche in Google lieferte über 700.000 Einträge für Jason ›Jay‹ Briggs. Auch nachdem er die Suche einschränkte, fand er keine Einträge, die zum Mann passten, den er suchte. Beim Durchblättern der Suchergebnisse fiel ihm der Link zur Studentenzeitung des Colleges auf. Er klickte darauf. Von der Denver College World waren alle Exemplare zurück bis 1965 digitalisiert worden und im Web öffentlich zugänglich. Er freute sich ob seines Glücks, wusste aber, dass die Suche nach Hinweisen in den vielen alten Exemplaren lange dauern würde und die Chancen auf Erfolg nicht besonders gut waren. Trotzdem machte er sich an die Arbeit und begann damit, die Ausgaben von 1985 zu durchsuchen. Danach ging er jeweils um einen Jahrgang zurück.
In der Ferne läuteten Kirchenglocken vier Uhr. Mike rieb sich die Augen und massierte seinen Nacken mit beiden Händen in der Hoffnung, die Kopfschmerzen zu lindern, die inzwischen in seinem Kopf dröhnten. Seit Mitternacht hatte er keine weiteren Informationen zu Briggs mehr gefunden, und jetzt war er müde, hungrig und unzufrieden. Wenn Briggs ganze vier Jahre am College verbracht hatte, musste Mike Exemplare der Studentenzeitung zurück bis 1981 durchforsten. Aus dem Jahr 1982 fehlten ihm nur noch wenige Ausgaben. Er streckte seine Arme aus und schüttelte die Hände. Trotz der Kopfschmerzen klickte er sich weiter durch die digitalisierten Ausgaben.
In der vierten Ausgabe, die er durchforstete, fand er zwischen Inseraten versteckt einen Artikel, der von der Wiedereröffnung eines Fraternity-Hauses auf dem Collegegelände berichtete, das von Studenten in Fronarbeit selbst renoviert worden war. Auf dem dazugehörenden Bild posierte eine Gruppe junger, stolzer Männer in Shorts vor dem weißen, neu gestrichenen Haus der Studentenverbindung, mit Pinseln und Eimern in den Händen. In der Liste der Namen der Männer unter dem Bild erschien der Name J. Briggs. Mike vergrößerte das Bild und schaute sich die jungen Gesichter an. Briggs war in der Mitte gut zu erkennen. Daneben stand ein breitschultriger, kahl rasierter Student, mit seinem Arm auf Briggs Schulter. Er musste sich im falschen Moment umgesehen haben, denn sein Gesicht war nach links gedreht und nicht zu erkennen. Der andere Arm hing locker an seiner Seite. Auf dem Unterarm sah Mike ein großes Tattoo. Er wusste sofort, dass er den Mann gefunden hatte, der mit Briggs im mexikanischen Restaurant in Bern gegessen hatte. Das Tattoo auf dem Unterarm war eindeutig. Er fand den Namen des Freunds von Briggs: Johnny Delaraza.
Begeistert suchte Mike weiter, fand jedoch keine weiteren Einträge über die beiden jungen Männer. Als Mike durch das Fenster die Umrisse des Nachbargebäudes im Licht des Morgengrauens erkennen konnte, schluckte er zwei Tabletten gegen die Kopfschmerzen, legte sich im Schlafzimmer angekleidet auf sein Bett und versank allmählich in einen leichten, unruhigen Schlaf.
In seinem Traum floh Mike durch einen unendlich langen, grauen Gang im Institut für Rechtsmedizin vor Laura. Je schneller er rannte, desto näher spürte er seine Verfolgerin hinter sich. Im ganzen Gebäude klingelten ohrenbetäubende Alarmglocken, und er konnte nicht verstehen, was Laura ihm zurief. Mit einem Ruck erwachte er. Die Alarmglocken klingelten weiter. Erst jetzt merkte er, dass es sein Handy war, das klingelte.
»Honegger«, antwortete er mit verschlafener Stimme.
»Herr Honegger? Es tut mir leid, Sie zu wecken. Mein Name ist Meyer-Lang.« Die Stimme am anderen Ende tönte verschwörerisch, fast als ob sie nicht zu laut werden durfte, als ob jemand das Gespräch unerlaubt überhören könnte.
»Meyer-Lang?« Er war aus seinem Albtraum noch nicht ganz erwacht und erkannte den Namen nicht sofort.
»Ja. Ich bin die Beamtin, die mit den Polizisten an die Aare kam, wo die Leiche gefunden wurde.«
Mike setzte sich auf den Bettrand.
»Woher haben Sie meine Nummer?«, fragte er überrascht.
Meyer-Lang wartete einen Moment mit ihrer Antwort.
»Herr Honegger, ich weiß, wie eine Nummer zu finden ist. Aber lassen wir das. Ich habe gehört, Sie wollten mehr über den Mord herausfinden und erhielten am Waisenhausplatz von der Polizei keine Antworten. Ich kann nur kurz mit Ihnen sprechen, also hören Sie mir jetzt bitte gut zu. Von ganz oben kam der Befehl, diesen Fall zu, wie soll ich sagen, zu … löschen. Der Befehl machte unmissverständlich klar: Die Leiche in der Aare wurde nie gefunden, denn es gab keine Leiche. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Und noch etwas, Herr Honegger, dieser Anruf fand nie statt, ok?«
Mike brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu sammeln. Seine Kopfschmerzen halfen ihm dabei nicht.
»Ich verstehe, kein Problem. Warum fand er nie statt? Was soll das alles bedeuten?«
»Herr Honegger, passen Sie auf sich auf. Sie spielen mit dem Feuer. Lassen Sie die Angelegenheit lieber ruhen. Ich muss gehen, auf Wiedersehen.«
»Wie kann ich Sie erreichen?«
Jacqueline Meyer-Lang hatte bereits aufgelegt. Der Anruf war beendet.
Hatte sie ihn mit ihren letzten Worten lediglich warnen wollen oder hatte sie ihm soeben gedroht? Warum sollten ihn seine Recherchen in Gefahr bringen?
Er suchte im Handy nach eingegangenen Anrufen und war nicht überrascht, beim letzten Anruf den Eintrag ›Nummer unbekannt‹ zu finden. Wenn Meyer-Lang bei der Polizei arbeitete, warum hatte er sie dort nicht finden können? Wer war diese Frau? Warum hatte sie ihn angerufen?
Er legte sich wieder hin und hoffte, seine Kopfschmerzen würden endlich nachlassen. Mit geschlossenen Augen begann er die Ereignisse vor zwei Tagen an der Aare durchzugehen. Die Leiche, die Polizisten, Jacqueline Meyer-Lang, das Mädchen. Elvira. Mike sprang auf, packte seine Schwimmsachen in einen kleinen Sportrucksack und verließ seine Wohnung.
Er legte sein Badetuch am oberen Ende der Liegewiese in das noch feuchte Gras und setzte sich so darauf, dass er den Eingang in das Freibad Marzili gut überwachen konnte. Außer einer Gruppe pensionierter Männer und Frauen, die so früh am Morgen im Schwimmbecken Längen schwimmen wollten, trat niemand durch den Eingang. Mike nahm sein Handy in die Hand und rief Verena an.
»Warte, Mike, ich gehe schnell in einen der kleinen Anrufräume … So, jetzt bin ich im Rümli, und die anderen in unserem Büro können mich nicht hören. Du, Mike, der Werdenberger ist weiterhin verärgert und wiederholt, er sei froh, dich los zu sein.«
»Also erübrigt sich meine Frage, ob ich eine Chance auf Wiedereinstellung habe.«
»Ja, das ist so. Ich denke, du hast keine Chance. Du hättest wirklich an den Artikeln arbeiten sollen. Übrigens ist von der Polizei immer noch keine Meldung zu deinem Mann in der Aare eingegangen.«
Mike erzählte ihr kurz, was seit vorgestern geschehen war und was er herausgefunden hatte.
»Wow, Mike! Du hast Recht, da ist etwas faul. Bist du aber sicher, dass es sich lohnt, die Geschichte weiter zu verfolgen? Du hast bereits deinen Job verloren! Und all den Ärger nur, um am Schluss vielleicht einen Artikel über einen einfachen Mord zu veröffentlichen?«
»Ja, ich bleibe dran. Nachdem Werdenberger mich gefeuert hat, erst recht.«
»Du solltest damit aufhören und anstatt Klatschreporter zu spielen, lieber deine Bewerbung schreiben.«
»Nein, es gibt für mich kein Zurück. Der Fall sollte sowieso bald geklärt sein. Wirst sehen.«
»Also, du musst wissen, was du tust; aber pass auf dich auf, gell?«
Die ersten Familien ließen sich erst nach Mittag auf der Wiese nieder, wo sie ihre Picknicks ausbreiteten und mit ihren Kindern spielten. Gegen die Langeweile und um sich wieder etwas zu bewegen, spazierte Mike zwischendurch zur Aare und zurück, ohne den Eingang aus den Augen zu lassen. Gegen 15 Uhr betraten zwei Frauen und zwei Mädchen mit einem großen, roten Sonnenschirm und einem aufblasbaren Delfin unter den Armen die Wiese. Eines der beiden Mädchen trug eine rote Baseballkappe und blickte zu Mike, ohne ihn zu erkennen. Es war Elvira. Er wartete, bis sie sich in der Nähe der Außenduschen niedergelassen hatten und ging dann auf sie zu.
»Guten Tag, mein Name ist Mike Honegger. Ich war vor zwei Tagen dabei, als Elvira … als sie in der Aare etwas fand.« Elvira hatte ihn inzwischen erkannt und starrte ihn wortlos an. Er wollte niemanden erschrecken und wählte seine Worte vorsichtig. »Darf ich sie kurz etwas dazu fragen?«
Die jüngere der beiden Frauen antwortete ihm. »Ich bin die Tante von Elvira und glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Das Ganze war für sie ein Schock, den sie nicht wieder durchleben soll. Es ist besser, wir lassen die Angelegenheit ruhen. Lassen Sie uns bitte alleine.«
»Das verstehe ich gut, aber meine Frage ist sehr wichtig, glauben Sie mir.«
»Gehen Sie, oder ich rufe die Polizei!«
Mike überlegte, ob er einen zweiten Anlauf riskieren sollte, als Elvira zu lächeln begann und zu ihm ging.
»Dieser Mann ist mein Freund. Er war sehr nett mit mir. Ich spreche immer mit meinen Freunden. Komm mit ins Wasser!«, sagte sie bestimmt und reichte ihm ihre Hand.
»Bist du sicher, dass du mit dem Mann sprechen willst, Elvira? Du musst es nicht, wenn du nicht willst«, sagte ihre Tante argwöhnisch.
»Ja, wir gehen jetzt zusammen schwimmen. Er mag nämlich Delfine, so wie ich. Jetzt habe ich auch noch einen großen dabei.« Elvira zeigte ihm den aufblasbaren Delfin und führte ihn an der Hand zum Planschbecken.
»Also, aber nur fünf Minuten. Ich werde Sie die ganze Zeit in den Augen behalten. Wehe, Sie tun dem Mädchen etwas an!«, drohte die Tante verärgert.
Mike setzte sich ins lauwarme Wasser des Beckens, das ihm sitzend bis knapp zum Bauchnabel reichte. Elvira stand vor ihm und schaute ihn erwartungsvoll an.
»Was willst du mir sagen?«, fragte sie.
»Elvira, vor zwei Tagen hast du einen Mann im Wasser gefunden. Kann ich dich dazu noch etwas fragen?«
Anstatt zu antworten, blickte sie hinüber zu ihrer Tante auf der Liegewiese. Als Mike die Frage wiederholen wollte, schaute Elvira ihn wieder an und antwortete scheu: »Ja.«
»Hast du gesehen, wie der Mann, äh, wie der Mann ins Wasser fiel oder war er bereits im Wasser, als du deinen Ball holen gingst?«
Sie planschte mit den Händen und spritzte Mike nass.
»Er war im Wasser, weil der böse Mann ihn ins Wasser geworfen hat.«
Mike nahm Elvira an der Hand.
»Was sagst du da? Ein böser Mann? Welcher Mann war das?«
»Als ich den Ball hinter dem Busch suchte, sah ich, wie der böse Mann den anderen einfach ins Wasser schubste und dann wegrannte.«
»Hat der böse Mann dich gesehen?«
»Nein, ich war hinter dem Busch und er rannte dann einfach weg.«
»Kannst du mir sagen, wie der Böse aussah? Hast du sein Gesicht und seine Kleider gesehen?«
Elvira tauchte mit dem Kopf ins Wasser. Als sie den Kopf wieder aus dem Wasser hob, fuhr sie fort.
»Ich denke unter Wasser immer gut, weißt du? Das musst du auch einmal versuchen.«
»Das werde ich auch mal versuchen. Hast du dich unter Wasser an etwas erinnern können?«, fragte Mike ungeduldig.
»Ja, klar. Unter Wasser kann man sich immer an alles erinnern. Der Mann war groß und böse. Er hatte keine Haare und eine große Zeichnung auf seinem Arm. Ich zeichne auch gerne in der Schule. Aber auf Papier. Meinem Papa gefällt es nicht, wenn ich auf die Hand zeichne.«
»So, genug jetzt!« Mike hatte nicht bemerkt, dass die Tante am Beckenrand stand und mit einem bösen Blick auf ihn herabschaute. »Lassen Sie das Mädchen endlich in Ruhe! Elvira, komm aus dem Wasser, und zwar sofort! Wir gehen ein Eis kaufen.«
Elvira kreischte vor Freude und ging zu ihrer Tante.
»Danke ihr beiden«, sagte Mike. »Danke, Elvira. Du bist ein tolles und mutiges Mädchen!«
Mike konnte sein Glück nicht fassen. Elvira hatte soeben Johnny Delaraza beschrieben. Sie hatte gesehen, wie er Jay Briggs in die Aare geworfen hatte. Johnny Delaraza musste Jay Briggs ermordet haben.
Kapitel 6
»Du hättest Larry vergessen sollen, wie Branson es befahl. Weißt du, was die aus uns macht, wenn sie herausfindet, dass wir zum Flughafen fahren?«
»Wir sind um fünf Uhr losgefahren, bevor die Morgenschicht in der Botschaft antrat. Und sollte sie uns vermissen, offiziell sind wir unterwegs, um einem heißen Tipp nachzugehen, den wir zum Waffenschmuggel erhalten haben. Wer behauptet denn, wir seien auf der Suche nach Larry?«
Rick sah David im Licht des Armaturenbretts und des Morgengrauens schmunzeln.
»Wie machst du das, so ruhig zu bleiben, wenn du die Regeln zu deinen Gunsten dehnst?«
»Erfahrung im Feld, Rick. Das kommt mit der Zeit, genauso wie das Gespür, ob jemand mehr weiß, als er zugibt. Du bist erst wenige Monate hier in Bern, und das ist dein erster Einsatz nach der Ausbildung in Washington. Das kommt mit der Zeit, weißt du?«
»Wie lange bist du denn schon operativ tätig?«
»Ich war bis vor drei Jahren Nachrichtenoffizier in der Army. Dann wechselte ich zur Agency. Nun bin ich schon bald zwei Jahre hier in Bern stationiert.«
»Ich hoffe, du hast recht und Branson vernimmt nichts von unserem kleinen Ausflug!«
»Larry hat ein Transportunternehmen am Flughafen genannt, das involviert ist. Ich will dessen Angestellte möglichst früh sehen. Nachher sind sie zu beschäftigt, um in Ruhe mit uns zu sprechen. Wir werden lediglich einige Fragen stellen. Bevor uns jemand in der Botschaft vermisst, sind wir wieder zurück.«
David konzentrierte sich auf einen Lastwagen, der ohne zu blinken plötzlich vor ihm auf seine Spur wechselte. Er hupte und schlug mit der Hand auf das Steuerrad. »Das ist ja fast wie bei uns zu Hause in Boston! Wenn wir in Zürich abfliegen wollten, wären wir schon längst zu spät.«
»Hoffentlich schaffen wir es noch, bevor die Frühschicht beginnt!«
»Die Schweizer und ihre ewigen Baustellen auf der Autobahn! Stundenlange Staus, und trotzdem bauen sie die Autobahnen nicht richtig aus.« David schüttelte den Kopf.
»Da kannst du fahren, wann du willst, es ist immer dasselbe.«
»Es dauert nicht mehr lange, dort ist bereits die Ausfahrt zum Flughafen signalisiert.«
Sie verließen die Kolonne der Wagen, die zu den Abflug- und Ankunftsterminals fuhren, und drehten rechts ab zu den Frachthallen.
»Kein Parkplatz frei, egal wo«, beklagte sich Rick.
»Unsere Diplomatennummern sind unser Parkplatz«, lächelte David und stellte den schwarzen Chevrolet SUV mit den getönten Fensterscheiben in einer Parkverbotszone ab.
David zeigte auf eine Gruppe Männer, die über die Straße zum Frachtgebäude schlenderten und laut miteinander redeten. Alle trugen Leuchtwesten mit der Aufschrift ›SST Swiss Shipping and Trading‹.
»Da kommen die Mitarbeiter schon.«
David und Rick hörten die Männer lachen.
»Schau, je näher sie dem Gebäude kommen, desto langsamer werden sie. Jeder will noch möglichst lange seine Zigarette genießen«, schmunzelte Rick.
»Auf dem Flughafenareal ist striktes Rauchverbot, da müssen sie die letzte Chance nutzen. Komm, das ist auch unsere Chance!« David ging auf die Männer zu.
»Morgen, Jungs«, begrüßte er sie. Die Männer musterten misstrauisch seinen dunklen Anzug und seine Krawatte, dann schauten sie zu Rick, der gleich angekleidet war. Bei der Arbeit wurden sie von Männern in Anzügen nur angesprochen, wenn diese etwas von ihnen wollten, und es waren dann meistens Vorgesetzte. Vorgesetzte, die häufig kritisierten und die am Schreibtisch in ihren klimatisierten Büros zu wissen glaubten, wie Fracht verladen werden sollte.
»Hallo«, brummten zwei der Männer hörbar unfreundlich.
»Wer von euch ist denn heute Morgen der Schichtleiter?«
»Die sprechen Deutsch wie Amis, Mann«, knurrte einer der Männer mit einer langen Narbe über der Stirne und warf seinen Zigarettenstummel David und Rick vor die Füße. »Was wollen Sie?«
»Wir vertreten eine neue Import- und Exportfirma und suchen ein Logistikunternehmen für Warentransporte. Es geht um ein lukratives Geschäft.«
»Da müssen Sie schon ins Hauptgebäude und mit unseren Verkäufertypen verhandeln. Aber da sind Sie noch viel zu früh, denn die arbeiten ja nicht vor neun Uhr.«
»Nein, wir möchten mit jemandem sprechen, der weiß, was es wirklich heißt, Ware zu verladen. Die Herren dort in ihren gemütlichen Büros mit ihren dicken Salären haben doch keine Ahnung, wie wirklich gearbeitet wird, oder ist es etwa nicht so?«, mischte sich Rick ein und punktete bei den Männern mit seiner Einstellung.
Ein Mann, noch keine 30, mit dunklen Haaren und einem Dreitagebart nahm einen Schritt auf David und Rick zu. »Ich bin Nikola Petrovic, ich bin der Schichtleiter. Was kann ich für Sie tun?«
»Hätten Sie einen Moment Zeit für uns?«, fragte David.
Petrovic wandte sich an seine Männer. »Geht schon mal, ich komme gleich nach.«
Die Männer schlenderten weiter zur Eingangspforte in das Flughafenareal. Rick und David schauten ihnen nach, wie sie ihre Ausweise zogen und das Sicherheitstor passierten. Als sie außer Reichweite waren, schaute sich David um. Sie standen alleine, und niemand konnte ihr Gespräch mithören.
»Herr Petrovic, wir sind von der amerikanischen Botschaft. Vor einigen Tagen hat uns jemand angerufen und Ihre Firma und Kunstschmuggel im selben Satz erwähnt. Was wissen Sie über den Schmuggel von Kunstgegenständen hier am Flughafen Zürich?«
Petrovic reagierte gelassen und blickte zur Sicherheitspforte ins Flughafenareal.
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Auf Wiedersehen.«
Er begann zu gehen, doch David stellte sich provokativ vor ihn.
»Der Mann, der anrief, hatte große Angst. Jemand hatte soeben versucht, ihn umzubringen. Vorgestern sollten wir uns treffen, er ist aber nicht erschienen. Ich frage Sie ein letztes Mal höflich, was wissen Sie über den Kunstschmuggel hier?«
»Wie bereits gesagt, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
»Vielleicht sollten wir Ihre Vorgesetzten dort im Hauptgebäude fragen.«
Petrovic schaute David und dann Rick lange an, dann lehnte er sich zu ihnen und sprach leise.
»Nehmen wir an, ich wüsste etwas. Was wäre Ihnen meine Antwort denn wert?«
Rick antwortete: »Das kommt auf den Inhalt Ihrer Antwort an.«
Jetzt war es Petrovic, der sich umschaute, um sicher zu sein, dass niemand ihn hören konnte.
»Sie sind also von der amerikanischen Botschaft, was? Da hätte ich nämlich eine Idee. Mein Bruder lebt seit einigen Jahren in Chicago. Um legal arbeiten zu können, braucht er Papiere, eine Green Card.«
Petrovic blickte die Amerikaner erwartungsvoll an und wartete auf eine Reaktion, die nicht kam.
»Wenn Sie meinem Bruder helfen, so kommen wir möglicherweise ins Geschäft.«
»Das ist ein hoher Preis für Antworten, die vielleicht nichts wert sind«, erwiderte David kalt.
»Ihr Risiko, mein Deal. Wenn Sie daran interessiert sind, so kommen Sie heute um 17 Uhr in das Flughafengebäude. Ich werde in der Halle im Terminal drei vor den Restaurants zehn Minuten auf Sie warten. Ich bin zwar kein Schweizer, aber ich weiß, pünktlich zu sein. Wenn Sie den Deal wollen, dann schauen Sie am Nachmittag genau auf Ihre Uhren.«
»Vielleicht sind Ihre Antworten ja nichts wert.«
Die Sonne war inzwischen über den Gebäuden aufgestiegen und schien auf das ganze Areal mit einem warmen Sommer-Morgenlicht. Petrovic schaute hoch zu einer der ersten abhebenden Maschinen. Im Takt startete eine nach der anderen.
»Motivieren Sie vielleicht die Worte ›Hercules C-130‹, meinen Deal positiv zu betrachten?«
Er drehte sich um und verließ die beiden Agenten.
Rick folgte David zurück zu ihrem SUV, wo David ein Satellitentelefon aus dem Handschuhfach holte.
»Ich schalte auf laut«, erklärte er und wählte eine Nummer.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die verschlüsselte Verbindung stand.
»Sam? Dave hier. Ich brauche einen Gefallen. Kontaktiere Washington und verlange eine Analyse von Satellitenbildern des Flughafens Zürich der letzten vier Wochen. Jemand hat hier soeben von einer Hercules C-130 gesprochen. Möglicherweise wurde sie für den Transport von Schmuggelware benutzt. In Washington sollen sie auf allen verfügbaren Satellitenbildern von Zürich nach ihr suchen. Vielleicht haben wir Glück.«
»So etwas muss Branson absegnen, das weißt du, Dave.«
»Sorry, aber Branson darf nichts davon erfahren. Ich weiß, dass du für einen solchen Auftrag keine Genehmigung hast. Erfinde einen Grund! Ich brauche deine Hilfe!«
»Das wird nicht einfach sein, aber ich werde es versuchen. Du schuldest mir was, einmal mehr!«
»Ich weiß, ich weiß.«
»Washington hat übrigens nichts über deinen fehlenden Mann Larry gefunden. Die Telefonnummer, die er benutzte, als er dich anrief, war tatsächlich gestohlen, und ohne seine echte Telefonnummer oder Namen oder E-Mail-Adresse kommen sie in Washington nicht weiter. Wir wissen also noch nichts über Larry.«
»Das ist schlecht für uns. Ich hoffe aber weiterhin, dass er sich noch einmal bei mir meldet. Ich habe ihn noch nicht aufgegeben. Rufe mich sofort an, wenn Washington doch etwas finden sollte.«
»Okay, Dave. Bis später.«
David verstaute das Telefon im Handschuhfach.
»Wie machst du das? Wenn Sam erwischt wird, wie sie in Washington Satellitenbilder für dich analysieren lässt, ist sie ihren Job los. Wir übrigens auch!«
»Glaube mir, Rick, es muss sein. Jetzt haben wir Zeit bis fünf. Komm, wir fahren ins Konsulat in die Stadt. Kennst du die beiden Mädels dort im Büro?«
»Nein.«
»Dann schuldest du mir ein Sixpack Bier dafür, dass ich sie dir vorstellen werde. Komm, du wirst es nicht bereuen.«
David zeigte Rick sein wärmstes Lächeln und startete den Motor.
Petrovics Drohung, nur zehn Minuten auf sie zu warten, war den beiden Agenten eingefahren. Sie waren um 16.45 Uhr bereits in der Flughafenhalle und beobachteten vom Geländer der Terrasse des zweiten Stocks herab das hektische Treiben unter ihnen. Tausende von Menschen kamen und gingen, gestresst von der Anreise zum Flughafen oder gestresst vom Flug nach Zürich. Gepäck wurde getragen, gezogen oder auf Wagen gefahren. Tausende Augen blickten mit Sehnsucht auf die Tafeln mit den Abflug- und Ankunftszeiten, und regelmäßig erklangen die Ankündigungen über Lautsprecher, gesprochen von einem seelenlosen Computer, der nie selbst reisen würde.
Pünktlich um 17 Uhr sahen sie Petrovic die Halle betreten und sich vor dem Restaurantbereich auf eine Bank setzen. David und Rick eilten hinunter und setzten sich links und rechts neben ihn.
»Und, wie sieht es für meinen Bruder aus?«, begann Petrovic das Gespräch ohne Einleitung und schaute David an.
»Ich kann Ihnen versichern, wir können etwas drehen. Aber nur wenn Ihre Informationen es wert sind.«
»Das ist der Deal, take it or leave it, wie Sie so sagen.« Petrovic begann aufzustehen.
»Warten Sie, setzen Sie sich!« David zog ihn an der Schulter wieder auf die Bank. »Wir kommen schon klar miteinander.«
»Warum soll ich Ihnen vertrauen?«
»Sie haben keinen Grund dazu. Wenn Sie es aber nicht tun, kommt Ihr Bruder nicht weiter und Ihre Vorgesetzten erhalten morgen Besuch von uns. Erzählen Sie von der Hercules!«
Petrovic überlegte kurz und sah sich um. Als er sicher war, dass niemand sie überwachte, begann er leise zu erzählen.
»Okay, schon gut. Jemand aus der Chefetage rief mich vor einigen Wochen an. Ein Sonderflug würde in der Nacht landen und müsse diskret verladen werden. Vier meiner vertrauenswürdigsten Männer und ich sollten ab ein Uhr morgens vor Ort bereit sein und keine Fragen stellen.«
Petrovic spielte nervös mit seinem Ehering und fuhr fort.
»Wir waren pünktlich da, und etwa um zwei Uhr morgens landete eine Hercules. Kurz danach fuhren zwei 28-Tonner-Lastwagen im Flughafengelände ein, beide mit deutschen Kennzeichen. Das Flugzeug kam vor dem Ostgebäude zum Stillstand. Dann öffnete sich die Laderampe. Es war wie in einem Film, sage ich Ihnen. Wir luden dann die Fracht aus den Lastwagen mit Hubstaplern in den Rumpf, sicherten alles mit der Crew ab, und etwa um drei Uhr hob das Flugzeug wieder ab. Wir erhielten danach ein Couvert mit Bargeld als ›Sonderzulage für Überstunden‹. Ein ganz nettes Couvert, kann ich Ihnen sagen. Ich habe das Geld meinem Bruder in Chicago geschickt. Der brauchte es dringend. Das ist alles, was ich Ihnen erzählen kann.«